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Zur Aktualität von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Zölibat und uneheliche Geburt in Mittelalter und Gegenwart

von Clara Harder

Eine der Eigenheiten der mittelalterlichen Epoche, mit der nicht nur viele Studierende der Geschichte fremdeln, ist die enorme Bedeutung, die der christlichen Religion, der christlichen Kirche und ihren Vertretern in der Geschichte des Mittelalters zukommt. Und Recht, eine Institution, die heute fast ausschließlich mit dem Staat assoziiert wird, bedeutet im Mittelalter häufig: Kirchenrecht. Dieses war im Mittelalter für die Menschen deutlich relevanter als heute, doch sein Einfluss auch auf moderne Rechtsordnungen und Rechtsvorstellungen sollte nicht unterschätzt werden.

Eine auch in der Gegenwart relevante, vor allem aber in der (Rechts-)Geschichte wichtige Unterscheidung liegt in der Trennung von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Der allgemeine Zölibat für Priester ist ein aktuelles Beispiel, an dem dieser Unterschied leicht erörtert werden kann. Dieser war eben nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger und überaus kontroverser Diskussionen, die sich im Mittelalter verdichteten. Seit dem zweiten Laterankonzil 1139 war fast allen Priestern der Zölibat und damit die absolute sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt. Gleichzeitig galt uneheliche Geburt im späteren Mittelalter dem kanonischen (also dem kirchlichen) Recht zufolge als ein Makel (defectus natalium), der den Eintritt in den Klerus unmöglich machte. Priesterkinder galten durch die Sünden ihrer Eltern als besonders belastet. Nicht nur das kirchliche Recht war gegenüber unkeuschen Priestern und ihren Familien sehr negativ eingestellt. Auch weltliche Rechtsbücher wie der Sachsenspiegel ordneten die „Pfaffenkinder“ im Speziellen, genau wie die Unehelichen im Allgemeinen, am untersten Ende der sozialen und rechtlichen Skala ein. Die rechtlichen Nachteile für Kinder aus unerlaubten Beziehungen – dazu gehörten neben der Priesterehe auch viele weitere Lebensformen – waren enorm, da sie durch Verbote vor allem die Möglichkeit, die eigenen materiellen Lebensgrundlagen zu sichern, erheblich einschränkten.

Abbildung eines "Pfaffenkinds" im Heidelberger Sachsenspiegel (fol. 20r), das wegen seiner Stellung als Bastard das zweifarbige Kleid trägt. Der Kleriker ist an seiner Tonsur zu erkennen.
© Universitätsbibliothek Heidelberg (gemeinfrei)

Norm und Wirklichkeit fallen auseinander

Es wird niemanden überraschen, dass die Rechtswirklichkeit den Normen nur eingeschränkt entsprach. Die praktische Durchsetzung des Zölibats gelang im weiteren Mittelalter nur teilweise. Deutlich relevanter als spektakuläre Fälle wie die acht Kinder Papst Alexanders VI. (1492-1503) ist aus historischer Perspektive die alltägliche und weitverbreitete Existenz von Priestern aller Weihestufen, die auch nach dem Verbot weiter sexuelle Beziehungen zu Frauen pflegten und auch Kinder hatten - die forthin als illegitim galten. Auch Laien, also Personen, die nicht dem Klerus angehörten, zeugten natürlich nicht nur innerhalb gültiger Ehen Kinder, sondern auch außerhalb. Welche Folgen hatte dieses gegen die geltenden Rechtsnormen verstoßende Verhalten nun für die betroffenen Familien?

Auch Erasmus von Rotterdam war der nichteheliche Sohn eines katholischen Priesters - wie einige der Humanisten und Reformatoren. Gemälde von Hans Holbein d. J., 1523, National Gallery.
© Wikimedia Commons

Grundsätzlich muss festgestellt werden, dass die Lebenswirklichkeit unehelicher Kinder sich von den Normen deutlich unterscheiden konnten, vor allem wenn ihre Väter aus dem Adel, dem wohlhabenden Teil des Bürgertums oder dem Klerus kamen. Zahlreiche Quellen geben darüber Aufschluss, dass auch uneheliche Kinder von ihren Familien fürsorglich erzogen, unterstützt und materiell versorgt wurden. Auch das Weiheverbot wurde in großem Ausmaß und mit ausdrücklichem kirchlichen Segen umgangen: Zahlreiche uneheliche Söhne beantragten am päpstlichen Bußgericht, der apostolischen Pönitentiarie, eine Ausnahmegenehmigung (Dispens), welche ihnen trotz ihrer Abstammung den Eintritt in den Klerus und die Erlangung von höheren Weihen und Pfründen erlauben sollte. Solche Bittschriften (Suppliken) sind in großer Zahl für das ausgehende Mittelalter überliefert. Sie zeigen, dass der Klerus sich in nicht unerheblichen Teilen und mit päpstlichem Segen aus der Gruppe der Unehelichen rekrutierte. Darüber hinaus belegen sie, dass trotz aller Verbote hunderte Kleriker im ausgehenden Spätmittelalter in dauerhaften Beziehungen mit Frauen lebten und sich öffentlich zur Vaterschaft ihrer Kinder bekannten. Das heißt ausdrücklich nicht, dass die normative Diskriminierung unehelicher Kinder (und ihrer Mütter) in der Praxis für alle folgenlos geblieben wäre. Dies gilt umso mehr, als die Möglichkeit eine Dispens zu erlangen nicht zuletzt an das Vorhandensein finanzieller Mittel geknüpft war, da es sich um eine kostspielige Angelegenheit handeln konnte. Es gab auch keinen Anspruch auf Erteilung einer solchen Ausnahmeerlaubnis. Dass selbst Geistliche höherer Weihestufen noch im späteren Mittelalter recht unbehelligt mit ihren Familien zusammenleben konnten, zeigt aber, dass die Rechtswirklichkeit eine große Bandbreite an Möglichkeiten barg, welche vom Blick auf die Rechtsnorm eher verdeckt bleiben.

Bruch des Zölibats heute folgenreicher als im Mittelalter

Der Blick auf die Gegenwart erscheint vor diesem Hintergrund zwiespältig. Grundsätzlich gilt, dass uneheliche Geburt im Jahr 2022 in Deutschland weitgehend irrelevant geworden ist, auch wenn die Ehe als partnerschaftliche Lebensform im Grundgesetz, aber auch zum Beispiel steuerrechtlich weiterhin privilegiert ist. Die rechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder gelang hierzulande vollständig aber erst 1998 mit Inkrafttreten des Kindschaftsreformgesetz (KindRG). Seit 1983 enthält auch das kirchliche Recht den defectus natalium nicht mehr. Außerhalb von Ehen geborene Männer können seitdem ohne päpstliche Dispens Priester werden. Der Zölibat als Norm hat in der katholischen Kirche aber bekanntermaßen weiterhin Bestand.

Auch die Rechtspraxis der Gegenwart unterscheidet sich vom Mittelalter. Zweifellos sind uneheliche Kinder wesentlich bessergestellt als jemals zuvor. Doch gilt dies nur eingeschränkt für die Kinder von Priestern. Unbestritten ist, dass es auch heute Priester gibt, die nach ihrer Weihe (heimliche) Beziehungen zu Frauen unterhalten und mit ihnen Kinder zeugen. Anders als im Mittelalter gibt es für diese Personen aber keine Möglichkeit als Familie zu leben, solange der Mann im Priesterstand verbleibt. Wenn überhaupt findet ein Familienleben zwangsweise im Verborgenen statt.[1] Nicht selten wird den betroffenen Kindern selbst die wahre Identität ihres Vaters zumindest zeitweise vorenthalten – mit allen daraus resultierenden Konsequenzen für die Betroffenen.[2] Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass beim Bruch des Zölibats die Situation für die heutigen Betroffenen deutlich negativere Auswirkungen auf ihr Leben hat, als dies im Mittelalter der Fall war. Bereits Mitte der 1990er Jahre verhehlte der Historiker Ludwig Schmugge in seinem Standardwerk zum Thema nicht ein gewisses Missfallen gegenüber der eigenen Gegenwart: „Anklagen über den unmoralischen Lebenswandel ihrer Prälaten formulierten die weitherzigeren Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts nicht so leichthin wie heutige Historiker. Ein reformeifriger Bischof oder Abt und ein treusorgender Vater in einer Person mußten damals nicht unbedingt ein Gegensatz sein.“[3] Ein heutiger Priester in Deutschland, der auch Vater ist, muss sich hingegen für eine dieser beiden Berufungen entscheiden.

Veränderungen sind möglich

Es ist weder Aufgabe noch Absicht dieser kurzen Anmerkungen Sinn und Zweck des Zölibats infrage zu stellen. Ich darf lediglich aus historischer Perspektive anmerken, dass der gegenwärtige Zustand, in dem sich Familien in und außerhalb der römisch-katholischen Kirche wiederfinden, weder vorherbestimmt noch unabänderlich, sondern Ergebnis eines Prozesses ist. Die Debatte um den Zölibat wurde vom mittelalterlichen Klerus mit Engagement geführt. Die Befürworter setzten sich im geschriebenen Recht durch und ihr Erfolg hat sich ungeachtet der nur teilweise erfolgten Durchsetzung als dauerhaft erwiesen. Die auch auf die Lebenspraxis zielenden Bedenken der Gegner des Zölibats aus den Debatten des 11. Jahrhunderts erweisen sich dennoch als überaus lesenswert angesichts der aktuellen Forderung zahlreicher Katholiken in Deutschland nach einer Abschaffung des Pflichtzölibats. Zuletzt hat ein Bischof den Zölibat in Deutschland öffentlich in Frage gestellt, unter anderem mit dem Hinweis darauf, es handele sich um eine prekäre Lebensform.[4] Auch die Lage unehelicher Kinder, deren Geschichte im Mittelalter eng mit der des Zölibats und der Priesterkinder verbunden war, musste lange Zeit als prekär gelten. Doch ihre gelungene Emanzipation erinnert daran, dass Veränderungen von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit möglich sind – wenn man sie denn will.

 

Zum Weiterlesen und Weiterdenken:

Erwin Frauenknecht, Die Verteidigung der Priesterehe in der Reformzeit, Hannover 1997.

Ludwig Schmugge, Kirche – Kinder – Karrieren. Päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter, Zürich 1995.

Claudia Zey, Ohne Frauen und Kinder. Askese, Familienlosigkeit und Zölibat in den Streitschriften des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Saeculum 68/II (2018), S. 303-320 (https://www.hist.uzh.ch/dam/jcr:703dffc3-1b0f-4fba-bee7-1d14848ea83b/2018_Zey_Ohne%20Frauen%20und%20Kinder.pdf).

 

Anmerkungen

[1] Vgl. z.B. Annette Bruhns, Peter Wensierski, Gottes heimliche Kinder. Töchter und Söhne von Priestern erzählen ihr Schicksal, München3 2004. Regelmäßig erscheinen zu diesem Thema Reportagen in überregionalen Medien, die im Wesentlichen alle das gleiche Bild vermitteln.

[2] Vgl. New York Times, 18.02.2018, “Vatican’s Secret Rules for Catholic Priests Who Have Children” (https://www.nytimes.com/2019/02/18/world/europe/priests-children-vatican-rules-celibacy.html).

[3] Schmugge, Kirche, 216.

[4] Interview mit Kardinal Marx, Süddeutsche Zeitung, 03.02.2022, „Bei manchen Priestern wäre es besser, sie wären verheiratet" (https://www.sueddeutsche.de/politik/kardinal-marx-interview-zoelibat-missbrauch-kirche-1.5520606?reduced=true).

© khk

Über die Autorin

Dr. Clara Harder ist Mittelalterhistorikerin an der Universität zur Köln und zurzeit Fellow am Käte Hamburger Kolleg Münster.

Zitieren als:

Harder, Clara, Zur Aktualität von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Zölibat und uneheliche Geburt in Mittelalter und Gegenwart, EViR Blog, 09.02.2022, https://www.uni-muenster.de/EViR/transfer/blog/2022/20220209rechtsnorm.html.

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