© Johannes Jakob Ruhstorfer

Koran aus Skardu

Inv.-Nr.:                  Hs. 9
Umfang/Maße:    820 Seiten; ca. 17,5 cm x 11,5 cm x 5 cm
Material:                Papier, Leder
Stil:                         nasḫī
Illumination:        keine
Datierung:            9.–11. Jahrhundert n. H. /15.–16. Jahrhundert n. Chr.
Provenienz:          bei Grabungen in Skardu, Pakistan durch den pakistanischen Archäologen Ahmad Hassan Dani (1920-2010) entdeckt, Geschenk von Ahmad Hassan Dani 1997 an Dr. Norbert Heinrich Holl, Geschenk von Dr. Norbert Heinrich Holl 2018 an die Universität Münster
Textstelle:             Sure 4, 11 – Sure 93, 9




Diese Koranhandschrift im nasḫī-Stil wurde vom weltberühmten pakistanischen Archäologen Professor Ahmad Hassan Dani (1920-2009) bei Grabungen in der nordostpakistanischen Stadt Skardu in der Säule einer Moschee entdeckt. Dani schenkte sie vermutlich in den 70er Jahren dem deutschen Diplomaten Norbert Heinrich Holl, der sie 2018 dem Institut überließ.
Dadurch, dass sie über lange Jahre eingemauert war, hat ihre Bindung schwere Schäden genommen, insbesondere auf den letzten Seiten. Da die Blätter durch Abnutzung eine abgerundete Form angenommen haben, während die Buchdeckel noch eckig sind, ist die vorliegende Bindung jüngeren Datums als die Seiten. Wenn das der Fall ist, müssen einige der ersten und der letzten Seiten schon gefehlt haben, als die Bindung erneuert wurde. Dennoch wurden sie nicht ersetzt, sodass der heilige Text unvollständig geblieben ist. Er beginnt mit der zweiten Sure an-Nisāʾ, „Die Frauen“, Vers 11 und endet mit Vers 9 der 93. Sure aḍ-Ḍuḥā, „Der Vormittag“.
Der Fundort der Handschrift liegt in der pakistanischen Provinz Baltistān, die unmittelbar an den Himalaya und an die heute zwischen Indien und Pakistan umstrittene Region Jammu und Kaschmir grenzt. Seit dem 14. Jahrhundert war die Religion des Islam durch die Šāh Mīr-Dynastie hier präsent. Um die Wende zum 17. Jahrhundert wurde die Region vom Mogul-Reich erobert. Die Prinzessinnen und Prinzen der indischen Höfe wurden ebenso wie diejenigen der benachbarten persischen Höfen in der Kunst der schönen Schrift unterrichten und hatten daher ein hohes Maß an Wertschätzung für Kalligraphie und schön gestaltete Bücher. Anders als Akbar (1542-1605), der eventuell eine Lese- und Rechtschreibschwäche hatte und sich dementsprechend künstlerisch nicht besonders hervortat, hatten sein Sohn Ǧahāngīr (1569-1627) und Enkel Šāh Ǧahān (1592-1666) passable Handschriften und sein Großenkel Aurangzeb (1618-1707) war sogar für seine Kalligraphien im nasḫī-Stil bekannt.
Die Handschrift enthält zwar kein Kolophon, ist jedoch vermutlich auf seine Regentschaft zu datieren und damit in die späte Mogulperiode. Unter der Herrschaft des streng sunnitischen Aurangzebs stieg die Nachfrage nach Koranhandschriften aus der Region Kaschmir, womit oft nicht nur das Kaschmir-Tal gemeint ist, sondern auch die im Norden und Osten angrenzenden Regionen. Kaschmir und wahrscheinlich auch Baltistān waren um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert Zentren der Buchproduktion.
Das Textfeld der Handschrift ist eher klein, sodass der Text bis auf die letzte Seite unbeschadet bleibt. Außerdem weist die ebenmäßige und schöne Ausführung des Schriftstils nasḫī verschiedene Eigenheiten auf, die ihn von späteren Varianten unterscheiden, wie wir es zum Beispiel im Koran aus Kaschmir (Objekt des Monats Juni 2021) finden und die der Handschrift eine besonderen Charakter verleihen. Diese Eigenheiten umfassen unter anderem halbkreisförmige Unterschwünge des wāw, hauchdünne Striche unter anderem im obersten Strich des kāf, und der Endstrich des finalen mīm, der runde und sehr dünne oberste Strich des yāʾ und ṣad, bzw. ḍād. Außerdem verhält sich das hāʾ anders als in späteren Handschriften: Es bildet keine Ligatur mit dem initialen bāʾ, tāʾ, ṯāʾ und yāʾ und kommt auch nicht in der charakteristischen medialen Form mit einem langen diagonalen Strich vor, der das spätere nasḫī aus dem indischen Raum auszeichnet. Die häufige Verlängerung der Unterschwünge bei Buchstaben wie dem nūn und der langgezogenen Variante des kāf verleihen dem Schriftbild einen ausgewogenen Rhythmus.
Die Namen der Suren werden durch ein kräftiges Rot hervorgehoben. Im gleichen Farbton sind als Verstrenner kleine rote Punkte und die Rezitationseichen zu lesen zu sehen. Alle fünf Verse findet man am Rand die Notiz ḫams, bzw. ʿašar. Ebenfalls am Rand sind Kommentare in schwarzer Tinte zu finden, welche unter anderem die Aussprache des heiligen Texts erläutern. Es gibt auch einige in roter Farbe, die beispielsweise die Einteilungen des Texts in Abschnitte wie jene dreißig Teile (ǧuzʾ, Pl. aǧzāʾ) vermerken, von denen im Ramadan pro Tag einer gelesen wird.
Es bleibt allerdings unklar, ob der Koran als schützender und glückbringender Talisman in die Säule verbaut wurde oder ob er aus anderen Gründen dorthin gelangte. Der Ursprung des Korans ist ebenfalls schwer festzustellen, da persische und indische Kalligraphiestile oft wegen enger personeller und kultureller Verflechtungen und dem schlechtem Forschungsstand nur schwer zu unterscheiden sind.

-Johannes Ruhstorfer