Anfang des Korantextes mit doppelseitiger sarlauḥ-Illumination
© Mona Simon

Koran-Manuskript aus Kaschmir

Objekt des Monats Juni 2021

Inv. -Nr.:                             Hs. 7
Umfang / Format:            540 Seiten / 18,5 cm x 12 cm x 3,5 cm
Material:                            Papier, Leder
Stil:                                     Nasḫ
Illumination:                     Floral um die Suren 1 und 2, 17, sowie 113 und 114
Datierung:                         Um 1800
Provenienz:                       1986 in Delhi mit Hilfe von Annemarie Schimmel
                                             durch Dr. Norbert Holl erworben, Schenkung 2018


Bei diesem Koran handelt es sich um ein Exemplar aus der Region Kaschmir, die sich im 17. und 18. Jahrhundert als neues Zentrum für die Produktion von Manuskripten etablierte. Kaschmirische Korane sind in westlichen Museen selten zu finden und bisher wenig erforscht. Umhüllt wird das 530-seitige vollständige Koranexemplar von einem dunkelbraunen, verzierten Lederumschlag, und ist im Nasḫī-Stil geschrieben. Für die Seitenzahlen wurden Urdu-Ziffern verwendet. Die Seiten sind nach einem bestimmten und kontinuierlich eingehaltenem Schema aufgebaut. Charakteristisch hierbei ist, dass der Text von einem Rahmen umrandet wird und jede Seite jeweils 15 Zeilen Text beinhaltet. Die Einrahmung des Textes führt wiederum dazu, dass ein breiter Rand an allen vier Seiten entsteht. Dieser Rand dient dem Schreiben von Kommentaren und dem Hinzufügen von Seitenzahlen und einiger Ornamente. Außerdem befinden sich in der unteren linken Ecke der rechten Seite sogenannte Kustoden, welche das erste Wort der darauffolgenden Seite darstellen. Sie dienen dazu, die einzelnen Blätter vor der Bindung in der richtigen Reihenfolge zu behalten und wurden deshalb bei diesem Koranexemplar im Laufe der Bindung teilweise abgeschnitten. Es ist zu vermuten, dass das vorliegende Exemplar neu gebunden wurde, da einige Blätter regelmäßige Lochungen aufweisen, welche auf der linken und rechten Seite einer Doppelseite identisch sind. Dies würde bedeuten, dass der vorhandene Lederumschlag nachträglich hinzugefügt worden ist.
Der Korantext und die Seitenzahlen wurden in schwarzer Tinte geschrieben, wobei mit roter Tinte Rezitationszeichen hinzugefügt wurden. Zudem sind am äußersten Rand die juzʾ-Abschnitte des Korans in roter Tinte gekennzeichnet. Der Begriff juzʾ (arab. 'Teil') bezeichnet ein Dreißigstel des Korans. Diese dreißig Einheiten können im Laufe eines Monats, zum Beispiel dem Fastenmonat Ramadan, gelesen werden. Neben der oben erwähnten Umrandung des Textes durch rote, blaue und goldene Linien werden die einzelnen Zeilen des Textes mit einem goldenen Balken voneinander getrennt. Doch was dieses Exemplar besonders macht, sind die bunten Ornamente und aufwendigen Illuminationen, welche auf Persisch als sarlauḥ bezeichnet werden. In diesem Exemplar sind drei dieser aufwendigen doppelseitigen Illuminationen zu finden. Wie allgemein üblich, befinden sie sich auf der ersten, mittleren und letzten Doppelseite des Korantextes. Mit solchen Illuminationen hat man versucht, die physische Trennung zweier Seiten zu überwinden und sie optisch zu einer Einheit verschmelzen zu lassen. Die Illuminationen, welche den Großteil der Seite einnehmen und den Textteil minimieren, sind mit Blüten und Punkten verziert und farbenfroh, wobei das Blau stark mit dem Gold und dem Rot kontrastiert. Das Textfeld wird von einem goldgrundigen Band mit rosa Lotosknospen umrahmt — ein spezifisches Merkmal von Koranen aus dem südasiatischen Raum. Die geschlossene Lotosblüte, ein beliebtes Dekorelement in Hindutempeln, wurde in der indoislamischen Architektur und Buchillumination rezipiert. Aufgrund des Gold- und Blautons ähneln die sarlauḥ-Illuminationen denen aus iranischen Koranmanuskripten der Safawidenzeit. Des Weiteren schmücken insgesamt 79 einzelne Ornamente den Rand des Koranexemplars. Diese sind mit blauen Linien gezeichnet und teilweise mit goldener Farbe ausgefüllt. Zudem bestehen sie aus sieben Teilen, wobei die Mitte des Ornamentes an eine Variante des sogenannten rubʿ al-ḥizb (arab. 'ein Viertel eines Abschnitts') erinnert. Wie der Begriff juzʾ bezeichnet auch der Begriff ḥizb eine Untereinheit des Korans, und zwar ein Sechzigstel. Das rubʿ al-ḥizb ist ein kalligrafisches Ornament, welches im Koran verwendet wird, um ein Viertel eines ḥizb zu markieren.
Eine weitere Besonderheit des Koranexemplars ist die Seite 80. Hier wurden die goldenen Balken, welche für die Zeilentrennung zuständig sind, hervorgehoben, indem ihre Linien wellenförmig und nicht gerade gezogen wurden, was sonst nur auf den illuminierten Seiten der Fall ist. Zudem unterscheidet sich das Ornament auf dieser Seite von den 78 anderen, da es deutlich aufwändigere Formen besitzt. Bei der markierten Textstelle handelt es sich um Sure 4 Vers 102-109. Weshalb diese Seite mit Hilfe von optischen Hervorhebungen ausgezeichnet wurde, ist noch unklar. Möglich ist eine besondere Bedeutung der Sure für den Eigentümer oder den Kalligraphen, da in diesen Zeilen die Verrichtung des Gebets und die Herabsendung des Korans erwähnt werden.

- Selma Durakovic und Mona Simon

Literatur

  • Blair, Sheila S.: Islamic Calligraphy, Edinburgh 2008.
  • Bloom, Jonathan M. u. Blair, Sheila S. (Hrsg.): The Grove Encyclopedia of Islamic Art and Architecture. Bd. 2. Oxford/New York/Auckland/u.a. 2009.
  • Deroche, Francois: Manuscripts of the Qur’ān. IN: McAuliffe, Jane Dammen (Hrsg.): Encyclopaedia of the Qur’ān, Bd.3. Leiden 2003, S. 254-275.