Vorderseite der Lehrtafel
© Johannes Jakob Ruhstorfer

Tafel mit apotropäischen Symbolen und Formeln

Inv.-Nr.:  2
Datierung:  14./20. Jahrhundert n. H./n. Chr.        
Geographischer Bezug: Marokko  
Maße:  40 x 25 x 1cm
Material: Holz, bemalt und beschrieben
Illuminationen: Geometrische Muster, Hand der Fatima, Textfelder
Provenienz: Schenkung von Prof. Dr. em. Dieter Metzler

Es handelt sich bei dem Objekt mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Schreibtafel, wie sie im Kontext des islamischen Schulsystems in Marokko zum Erlernen des Schreibens und der Qur’ān-Memorisation verwendet werden. Auf der einen Seite umschließt ein Rahmen aus sich wiederholenden Mustern fünf symmetrisch zueinander angebrachte Symbole sowie vier, ebenfalls symmetrisch angeordnete Schriftfelder. Die andere Seite ist mit den ersten 13 Buchstaben des arabischen Alphabets beschrieben. Auf beiden Seiten finden sich Abnutzungsspuren in Form von Abschürfungen und Eindellungen am Holz, sowie eine rote Markierung auf der Rückseite, die nicht in den Kontext des Alphabets passt. Das Holzbrett ist gebogen und die Rückseite weist Verschmutzungen auf.
Handsymbol
Das Handsymbol stellt die Hand der Fāṭima, auch Ḫamsa (خمْسة) genannt, dar. Fāṭima, die Tochter des Propheten Muḥammad, ist noch heute „object of great veneration by all Muslims“ (EI, 2012). Ihre Hand findet symbolische Verwendung, da ihr in weiten Teilen der islamisch geprägten Räume eine apotropäische Funktion zugesprochen wird. Die Bezeichnung Ḫamsa nimmt Bezug auf die fünf Finger der Hand. Der Zahl Fünf wird ebenfalls eine apotropäische Funktion zugewiesen. Sie findet auch in der muslimischen Glaubenspraxis Widerhall, etwa bei den fünf Gebeten am Tag und den fünf islamischen Glaubenssäulen.
 

Schriftfelder
Ober- und unterhalb der zentralen Hand befinden sich kreisrunde Schriftfelder. Ober- und unterhalb dieser, wiederum, durch zwei parallele Linien abgetrennt, finden sich Schriftfelder, deren Umrandung an eine Wolke erinnert. Die erkennbaren Eigenschaften der Schrift (kursiv, mit diakritischen Punkten, von rechts nach links) sowie die Rückseite und der Herkunftsort der Tafel legen nahe, dass es sich hierbei um arabische Schrift handelt. Die Anordnung der Schriftfelder nebst den Abbildungen der Hand der Fāṭima deutet darauf hin, dass es sich um Formeln mit ebenfalls apotropäischer Funktion handelt.
Dreieck- und Diamantstruktur
Die Rahmung besteht aus drei, mit unterschiedlichen Mustern ausgefüllten Ebenen. Alle Musterungen weisen Dreieck- und Diamantstrukturen auf. Diese sind „in der Amazigh Kunst sehr geläufig”.1 Sie werden “gemeinhin interpretiert […] als Darstellungen eines Spiegels oder Auges. […] Manche interpretieren das Dreieck auch als ein mögliches stilisiertes Handsymbol“. Ihnen wird eine apotropäische Funktion zugeschrieben.2
Eine mögliche Interpretation der Diskrepanz zwischen den akkurat gezogenen Begrenzungslinien und den ohne vergleichbare Sorgfalt gezeichneten Musterungen ist, dass ein Erwachsener die Form vorgezeichnet hatte und ein Kind diese mit dem Muster ausfüllte. Dies deutet auf den Gebrauch im Schulkontext hin und würde die Präsenz von Dreiecks- und Diamantmotiven in der Amazigh Kunst unterstreichen.


Sozialer Kontext
Das islamische Schulsystem besteht aus „Kuttābs, Madrasahs, and Moschee-Universitäten“. Für viele Schüler*innen stellte die Kuttābs den einzigen Schulbesuch dar, da ein Besuch der Madrasah (مدْرسة) üblicherweise vorbehalten war für „ältere Kinder, die sich zuvor in den Kuttābs hervorgetan hatten, oder deren Eltern reich genug waren, um sie in die Stadt zu senden und ihr Studium zu finanzieren.“ Die Kuttābs setzten ihren Fokus vor allem auf Qur’ān-Memorisation. Sie vermittelten dabei „als Nebenprodukt des Religionsunterrichts auch sprachliche, kognitive und soziale Fähigkeiten, die den in heutigen säkularen Schulsystemen gelehrten stark ähneln.“ Die konsekutive Schulform bildeten die Madrasahs, in welchen vor allem Grammatik, islamisches Recht und Qur’ān-Exegese gelehrt wurden. Die höchste Bildungseinrichtung stellte danach die Moschee Universität dar. Hier wurden Lehrinhalte aus den Madrasahs vertieft sowie zusätzlichen Fächer wie Philosophie und Geschichte gelehrt. Holztafeln dieser Art fanden ihren Gebrauch als Schreibtafeln (arabisch لَوْح lauḥ) in den Kuttābs. Sie wurden verwendet zum Erlernen der arabischen Schrift und später zur Memorisation von Qur’an-Versen. Dabei wurde die Rückseite der Tafel mit Kreide bestrichen und anschließend mit einem angespitzten Stift aus Schilf (arabisch: قَلَم qalam), der in Tinte getaucht wurde beschrieben. Sollte die Tafel neu beschrieben werden konnte die Tinte nun mitsamt der Kreide abgewaschen werden. Dies erklärt die Verunreinigungen auf der Rückseite. Die eindeutig erkennbaren Buchstaben könnten zu Verkaufszwecken nachträglich angebracht worden sein.
Zeitliche Verortung
Die Verwendung von Holztafeln in den Kuttābs (كتاب) des islamischen Schulsystems in Marokko ist gleichfalls wichtig für die Eingrenzung des Zeitraums der Entstehung und des Gebrauchs des Objekts. Diese waren vor und während der französischen Kolonialherrschaft, von 1912 bis 1956, lediglich vereinzelt vorhanden. Sowohl die veränderte Unterrichtssprache als auch die Abwendung von der Qur’ān Rezitation als wesentlichem Schulinhalt legen nahe, dass die Holztafel nach der französischen Kolonialherrschaft Verwendung fand. Darüber hinaus erscheint dies plausibel, da Kuttābs im ländlichen Raum vor der Kolonialherrschaft nur vereinzelt zu finden waren.


Regionale Verortung
Eine regionale Eingrenzung ermöglichen die Aussagen von Prof. Dr. em Dieter Metzler in Verbindung mit der Analyse der Dreieck- und Diamantstruktur, welche die Vorderseite der Holztafel prägt. Diese konnte als wesentlicher Bestandteil der Amazigh art identifiziert werden. “Berber im heutigen Marokko leben hauptsächlich in drei Regionen […]. Die Tarifit im Gebirgszug Rif im Norden Marokkos, die Tamazight im Gebirge Mittelatlas und in Oasen in der südwestlich gelegenen Wüstenregion und die Tashelhit in der Souss-Ebene, und den Gebirgsregionen Hoher Atlas und Antiatlas.” In Verbindung mit den Angaben von Prof. Dr. em Dieter Metzler kommen sowohl das Antiatlas wie auch das Hohe Atlas in Frage.
Fazit
Mit dem Objekt verfügt die Institutssammlung über einen Alltagsgegenstand, an dem sich einige Momente „berberischer“ Kultur zeigen lassen und mit dem ein Einblick in das islamische Schulsystem in Marokko ermöglicht werden kann.

- Philipp Weisenburger

Anmerkungen
1 Der Begriff “Berber” stellt eine Fremdbezeichnung dar, die von den als solche Betitelten nicht gewählt wird. Bei der Verwendung des “Berber”-Begriffs sollte dies kritisch reflektiert werden.
2 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowohl die Benennung der Motive als auch ihre Interpretation, also die soziale Kontextualisierung fluide sind.

Literatur

Becker, Cynthia J.: Amazigh Arts in Morocco: Women Shaping Berber Identity. Austin 2006.

Boyle, Helen N. u. Boukamhi, Abdenour: Islamic Education in Morocco. IN: Daun, Holger u. Arjmand, Reza (Hrsg.): Handbook of Islamic Education. New York 2018. = International Handbooks of Religion and Education, 7, S. 625-636.

Holt, P.M., “Berber”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Edited by: P. Bear-man, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs.

Veccia Vaglieri, L., “Fāṭima”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs. 2012.

Yver, G., Lévi-Provençal, E. and Colin, G.S., “al-Maghrib”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs.

Rückseite der Lehrtafel
© Monika Springberg