Islamische Normenlehre (Fiqh)

Die wohl größte Herausforderung für islamische Gelehrte bestand seit jeher vor allem darin, Gottes Wort (Koran) unter besonderer Berücksichtigung der prophetischen Tradition (Sunna) zu verstehen und daraus individuelle sowie kollektive Handlungs- bzw. Unterlassungsnormen abzuleiten, rituell-gottesdienstliche (ʿibādāt) wie religiösrechtliche (muʿāmalāt) gleichermaßen. Ohnehin ist die Juristerei in der islamischmonotheistischen Weltsicht tief verwurzelt, die u.a. mit der (systematischen) Theologie (kalām) eng verbunden ist. In etlichen rechtstheoretischen uṣūl-Werken haben muslimische Rechtsgelehrte die Existenz Gottes nicht bloß postuliert, sondern philosophisch- theologisch nachzuweisen versucht, mit zum Teil genuinen und beachtlichen Argumentationsmustern, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Die rechtliche Souveränität Gottes leitet sich gerade aus seinem Schöpfertum ab. Weil Gott der Schöpfer und mithin Eigentümer allen (potentiellen) Seins ist, entspricht es dem Selbstverständnis des islamischen Rechtsgelehrten, das „Rechte“ aus der göttlichen Mitteilung, sowohl dem Wortlaut (Koran) als auch dem Sinn nach (vor allem mithilfe der prophetischen Tradition) zu eruieren. Al-fiqh (wörtl. das Verständnis) als juristische Disziplin stellt mithin ein relatives, praxisbezogenes Bildnis der umfassenden šarīʿa dar und gliedert sich in mehrere Zweige (furūʿ al-fiqh).