Medienkulturwissenschaften

Louisa Melzow, Philipp Saukel

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Theorieansatz

Die Medienkulturwissenschaften operieren am Schnittpunkt zweier Begriffe, die für sich genommen bereits schwierig zu greifen sind: ‚Medium‘ und ‚Kultur‘. Die Frage, was eigentlich unter ‚Medium‘ verstanden werden kann, ist nicht so einfach zu beantworten, wie es zunächst scheint. Denn eine Definition ist immer abhängig von der jeweils eingenommenen theoretischen Perspektive (vgl. Bohnenkamp/Schneider 2015: 43). Bereits seit dem 17. Jahrhundert gibt es die Bezeichnung ‚Medium‘. Sie stammt aus dem Lateinischen und wurde ursprünglich in der naturwissenschaftlichen Fachsprache zur Benennung von ‚räumlicher Mitte, Mittelpunkt oder Mittel‘ verwendet (vgl. ebd.: 35). Im späten 18. Jahrhundert wandelte sich die Bedeutung zum Verständnis des Mediums als „vermittelndes Element“ (ebd.: 35), und erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand der Begriff ‚Massenmedien‘. Diese gelten nach Harry Pross zu den tertiären Medien. Pross unterschied Anfang der 1970er-Jahre unter primären Medien (bei denen Kommunikation ohne Zuhilfenahme technischer Hilfsmittel funktioniert, wie zum Beispiel der menschlichen Stimme, Gestik und Mimik), sekundären Medien (die Schrift, die auf Sender-Seite technische Hilfsmittel benötigt) und tertiären Medien (alle Formen, bei denen sowohl Sender als auch Empfänger Technik zur Kommunikation benötigen, zum Beispiel Radio, Fernsehen, Telefon; vgl. Pross 1970: 131). Dieser dreistufige Medienbegriff bildete die erste Grundlage für die Medienforschung, die im 20. Jahrhundert aufgrund der plötzlichen Medienentwicklung und der kulturellen Auswirkungen auf die Gesellschaft verstärkt Aufmerksamkeit erlangte.

Die Mediennutzung steigt in nahezu allen Bereichen in diesem Zeitraum stark an. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Frage nach der Wirkung der Medien eine immer größere Rolle eingenommen hat. Nicht nur die politische Kultur und ästhetische Entwicklungen werden in zunehmendem Maße durch Medienentwicklungen geprägt, Prozesse der Globalisierung gehören ebenso zu den Effekten der Medienentwicklung. (Ebd.: 36)

Parallel dazu wird, unter anderem vom Germanisten Helmut Kreuzer, um 1975 eine Erweiterung des Literaturbegriffs und der Literaturwissenschaft gefordert: Die normative Trennung von Hoch- und Trivialliteratur sowie die daraus entstehende mediale Begrenztheit der Germanistik sei zugunsten einer semiotischen Betrachtung aller kulturellen Erzeugnisse aufzubrechen (Kreuzer 1975: 22 f.). Retrospektiv wird das von Schmidt als eine Konsequenz der politischen Protestbewegungen dieser Zeit betrachtet, die für eine signifikante Transformation des Konzept- und Wertesystems in der Gesellschaft sorgten (vgl. Schmidt 2008: 352). In dem Zuge wurde auch der weite Textbegriff formuliert, unter welchem abstrakt und neutral alle verschiedenen Arten von Medien- und Kommunikationsangeboten subsumiert werden konnten. Als ‚Text‘ gilt nach Titzmann „jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung“ (Titzmann 1993: 10). Nicht nur das Spektrum der Gegenstände der Literaturwissenschaft wurde erweitert, es ging auch verstärkt um die Methoden und medientheoretische Fragen. Dabei wurde deutlich, dass medientheoretische Fragestellungen bereits „[…] wenn auch mit einer anderen Begrifflichkeit, seit Jahrhunderten in der Philosophie und Kunsttheorie diskutiert worden [sind].“ (Bohnenkamp/Schneider 2015: 39) Besonders die Frage nach einer kritischen Betrachtungsweise spielte in der geisteswissenschaftlichen Diskussion eine tragende Rolle. Hier sind speziell die Einflüsse der ‚Kritischen Medientheorie‘ der Frankfurter Schule zu erwähnen. Aber nicht nur eine Medientheorie, auch eine Mediengeschichte wurde in der Folge konzipiert. Teil des Konzepts sind Annahmen aus der Gedächtnisforschung: „Die Frage nach dem Gedächtnis, nach den Möglichkeiten von Erinnerung, so eine der entscheidenden Überlegungen, ist ganz zentral verwiesen auf die Frage nach den Medien der Erinnerung.“ (Ebd.: 40) Ausschlaggebend ist hier die Zuwendung der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft zur Medienforschung. Die Medien als ein Faktor kultureller Kommunikation neben anderen wurden Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaften. Diese neue Richtung wurde aber zunächst nicht als Medienkulturwissenschaft deklariert, sondern konkurrierte in der Namensgebung zunächst erst mit den Kommunikationswissenschaften (vgl. ebd.: 40).

Außerdem überschnitten sich die Forschungsfelder der selbst deklarierten Medien- oder Kulturwissenschaftler*innen mit denen aus der Medienforschung, z. B. die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, den Medientheorien und den traditionellen Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. All diese Disziplinen erfuhren eine erhebliche Aufwertung in dieser Zeit. Seit jeher dauert die Erfindung eines Faches ‚Kulturwissenschaft‘ bzw. ‚Kulturwissenschaften‘ an. Laut Wittmann entwickeln sich die einzelnen Forschungsansätze in verschiedenste Richtungen, darum „ist es zum gegenwärtig frühen Zeitpunkt wenig verwunderlich, dass die Medienkulturwissenschaft noch kein handbuchmäßig bestimmbares Themen- und Methodendesign ausweist.“ (Wittmann, 2007: 69) Siegfried J. Schmidt versucht, die verschiedenen Disziplinen unter dem Begriff ‚Medienkulturwissenschaft‘ in seinem Ansatz zusammenzuführen. Denn es reiche laut Schmidt nicht, unter dem Nominaldach ‚Kulturwissenschaft‘ alle sich mit Kultur beschäftigenden Disziplinen zu vereinen (vgl. Schmidt, 2008: 353). Vielmehr sei eine klare Problemstellung, die Einführung und Verwendung stabiler Grundbegriffe sowie die Lösung des Autologieproblems (d. h., nur in einer Kultur lässt sich ‚Kultur‘ als ‚Kultur‘ bestimmen) nötig. Unter ‚Kultur‘ versteht Schmidt ein „Gesamtprogramm (im Sinne von Computersoftware) kommunikativer Thematisierung des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft“ (Bohnenkamp/Schneider 2015: 41). Medien sind dabei nach Schmidt „alltägliche Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion“ (Schmidt 1996: 83). Somit muss Kultur immer auch als Medienkultur verstanden werden. In seinem Konzept einer eigenständigen Medienkulturwissenschaft von 1990 plädiert Schmidt gegen eine Fixierung auf einzelne Medienangebote oder bestimmte kulturelle Phänomene, sondern für die Ergründung von Mechanismen, die den Umgang mit solchen Phänomenen und die Rolle der Medien beschreiben. Die philologische Tradition sollen in diesem Konstrukt lösungsorientiert eingebracht werden und sich als Teil der Medienkulturwissenschaft verstehen. Für Wittmann stellen Schmidts Ideen – trotz der Bemühungen um einen ganzheitlichen Ansatz – eine spezifische Strömung innerhalb der Medienkulturwissenschaften dar, die er als soziokulturellen Konstruktivismus deklariert (vgl. Wittmann, 2007: 72).

Der Kompaktbegriff ‚Medium‘ ist bei Schmidt in vier konstitutive Komponenten zu unterscheiden: Kommunikationsinstrumente (= zeichenfähige, materielle Gegebenheiten) Mediengeräte/-technologien (= Schreib-, Druck-, Film-, Fernsehtechnologien etc.), die sozial-systemische Komponente (= soziale Einrichtungen als Organisationssystem der Kommunikationsinstrumente) und Medienangebote (= Resultat der Verwendung von Kommunikationsmitteln, strukturell und inhaltlich konstitutiv von den anderen drei Komponenten geprägt; vgl. Schmidt 2008: 354 f.). Das Medium ist als ein sich selbst organisierendes systemisches Zusammenwirken dieser vier Komponenten unter jeweils konkreten sozio-historischen Bedingungen konzipiert. Es kann sowohl strukturelle Wirkungen durch die Nutzungsmöglichkeiten sowie semantische Wirkungen durch die inhaltliche Nutzung erörtern und somit zu einem Erkenntnisgewinn medienkultureller Wissenschaft beitragen.

Der Kulturbegriff

Um das Konzept der Medienkulturwissenschaften besser verstehen zu können, muss daher auch das Konzept von ‚Kultur‘ betrachtet werden. Ein Kulturkonzept, das den spezifischen Anforderungen der Medienkulturwissenschaft genügen soll, muss hinreichend abstrakt und komplex sein. Dazu sollte das Verhältnis von ‚Kultur‘, ‚Wirklichkeit‘ und ‚Gesellschaft‘ erläutert werden. Grundlegend benötigt eine Gesellschaft geteilte Sinnorientierungen (vgl. ebd. 2008: 356). Diese können skizziert werden als „semantischer Raum, bestehend aus einem Netzwerk von semantischen Kategorien“ (ebd.), welche gesellschaftlich relevante Sinndimensionen markieren und semantisch zweistellig oder mehrstellig neutral differenziert werden (vgl. ebd.). Sie sind Grundlage, um Beobachtungen oder Beschreibungen durchzuführen. Die Kategorien lassen sich folglich beschreiben als Einheit der Differenz von Differenzierungen und weisen sich gegenseitig ihre Funktionsmöglichkeiten zu (vgl. ebd.). Dessen Funktionsbereiche konzipiert Schmidt als Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft: „Wirklichkeitsmodelle lassen sich theoretisch bestimmen als konzeptionelle Arrangements, mit deren Hilfe individuelle Erfahrungen gesellschaftlich einsehbar und handhabbar gemacht werden können.“ (Ebd.: 357)

Die semantische Kombination und Relationierung von Kategorien und Differenzierungen, ihrer affektiven Gewichtung und moralischen Besetzung nennt Schmidt ‚Kultur‘. Kultur hat nach Schmidts Theorieentwurf keine gegenständliche Existenz, sondern eine programmatisch konzeptionelle Funktion. Die Emergenz von Gesellschaft setzt sich demnach aus der Ko-Genese von Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm zusammen, sie bilden einen sich gegenseitig konstituierenden Wirkungszusammenhang (vgl. ebd.: 358). Dies macht alle Optionen des Kulturprogramms kontingent, aber auch anpassungsfähig. Somit kann ‚Kultur‘ doppelt betrachtet werden: „(1) als Gesamtheit aller zu einem bestimmten Zeitpunkt realisierten Programmanwendungen, und (2) als offener Horizont von realisierbaren alternativen Projekten und Entwürfen“ (ebd.: 359). Die Differenz, die sich auf diesen beiden Möglichkeiten der Betrachtung ergibt, bestimmt, wie Schmidt es nennt, das dynamische Potenzial einer Kultur (vgl. ebd.). Eine ‚Gesellschaft‘ kann nach Schmidt also nur mit ‚Kultur‘ und eine ‚Kultur‘ nur mit ‚Gesellschaft‘ verstanden werden. Daraus folgt, dass ein Kulturprogramm ein sich selbst organisierendes, reflexives System von Vorschriften ist, an welchem sich die Individuen orientieren (vgl. ebd.: 360). Kultur stiftet individuelle wie soziale Identität durch die Unterscheidung ‚wir/die anderen‘, die jede Interaktion und Kommunikation bestimmt. Zusätzlich hat das Kulturprogramm drei zentrale Aufgaben: Die Integration der Aktanten in die Gesellschaft („Wir-Normalität“; ebd.: 361), die Identitätsbildung der Aktanten/der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Gedächtnisses und die Kontingenzbegrenzung durch ein verbindliches Angebot kontingenter Optionen (vgl. ebd.: 361 f.).

Kulturprogramme bestehen aus miteinander verschalteten Teilprogrammen, so entwickeln funktional differenzierte Gesellschaften für jedes Sozialsystem eigene Teilprogramme, die zum Teil kompatibel oder inkompatibel sein können. Kulturprogramme brauchen Medien für die Kommunikation ihrer Anwendungen, müssen allerdings die Selektionspräferenzen der Medien, die ihren eigenen Systembedingungen folgen, akzeptieren – darin liegt die Ambivalenz ihrer Relation. Zusätzlich führen die reflexiven Beobachtungsstrukturen zu gravierenden Kontingenzerfahrungen. Der Zusammenhang zwischen Kultur, Gesellschaft und Aktanten kann laut Schmidt als autokonstitutiv bestimmt werden (vgl. ebd.: 362). Wirklichkeitsmodelle bedingen sich gegenseitig und sind selbst organisiert. Kultur kann deshalb als die Einheit der Programme sozialer Konstruktion und Rekonstruktion kollektiven Wissens in/durch kognitiv autonome Individuen modelliert werden. Gesellschaften mit Mediensystem sind folglich als Medien-Kultur-Gesellschaften zu konzipieren.

Eine Wissenschaft spricht laut Schmidt nicht etwa über konkrete Gegenstände in ihrem Untersuchungsbereich, sondern über Phänomene und Probleme (vgl. ebd.: 363). Diese existieren jedoch nur durch die Wahrnehmung der Wissenschaftler*innen, denn System und Umwelt sind voneinander untrennbar. Die Spezifik wissenschaftlichen Handelns liegt im expliziten Problemlösen durch methodisch geregelte Verfahren. Um die Spezifik zu garantieren, müssen als Voraussetzungen eine explizite Theorie als konzeptionelle Problemlösungsstrategie vorliegen und Möglichkeiten der Operationalisierung gefunden werden, wie die Problemlösungsschritte und deren Sequenzierung aussehen soll – also welcher Methoden sie sich bedient. Durch methodische Explizitheit und innerdisziplinär verbindliche Terminologien wird die kommunikative Herstellung von Intersubjektivität ermöglicht. Dabei muss von dem Anspruch der Objektivität aufgrund der Selbstreferenzialität allen Wissens und Erkennens Abstand genommen werden (vgl. ebd.: 364 f.).

Zugriff inklusive Illustrationsbeispiel: Das ‚Trump-Amerika‘ in Dokumentation und Reportage

Widmen wir uns nun den literatur- und filmwissenschaftlichen Möglichkeiten, medienkulturwissenschaftlich zu arbeiten. Im Sinne der Medienepistemologie nach Schmidt (vgl. 2008: 367) lassen sich Aussagen über die Wirklichkeitskonstruktion von Texten im Hinblick auf ihre mediale Verfasstheit treffen. Für einen beispielhaften (komparatistischen) Zugriff dienen hier zwei medientechnologisch sehr ähnliche Werke: Der ARD-Dokumentarfilm TRUMPS AMERIKA - DIE FREMD GEWORDENE SUPERMACHT (2020) und die YouTube-Reportage TRUMP - WARUM LIEBEN IHN SO VIELE REPUBLIKANER? (2018) vom Kanal STRG_F, der Teil des öffentlich-rechtlichen Funk-Netzwerks ist. Dass beide unterschiedlichen kulturellen Teilprogrammen folgen und dadurch auch unterschiedliche Wirklichkeiten konstruieren, soll im Folgenden deutlich werden.

Die ARD-Dokumentation weist viele Elemente von typischen linearen Fernsehproduktionen auf. Zu den Konventionen der Gattung ‚Dokumentarfilm’ gehören nach Nichols (2002: 15) „the use of a voice-of-God commentary, interviews, location sound recording, cutaways from a given scene to provide images that illustrate or complicate stated points […] and a reliance on social actors in their everyday roles and activities”. Alle lassen sich hier konstatieren. Aber auch auf vielen anderen Ebenen präsentiert sich das Werk als Fernsehstück: Sei es die Mise-en-chaîne, die den im klassischen Fernsehen üblichen Techniken des unsichtbaren Schnitts folgt und ab und zu für Interviews typische akustische Klammern nutzt, die musikalische Ebene, auf der nur selten eingesetzte Instrumentalstücke zu hören sind, oder die Textstruktur an sich, die wie „viele der heutigen Dokumentarfilme […] eine diegetische Welt entstehen“ (Tröhler 2002: 29) lässt. Der Film kann als typischer Vertreter des linearen Dokumentarfilms bezeichnet werden.

Im Kontrast zu der YouTube-Reportage wird deutlich, wie stark sich die unterschiedliche mediale Verfasstheit auswirkt. Eine größere Nähe zu Reporter und Reporterin ist schon aufgrund der Gattungszuweisung zur Reportage zu erkennen; allerdings geht diese Annäherung so weit, dass hier nicht nur der Sachverhalt an sich (die Trump-Unterstützenden in Amerika), sondern auch die Medienmachenden selbst in den Blick genommen werden. So ist in der Mise-en-cadre der Kameramann zu sehen (TRUMP - WARUM LIEBEN IHN SO VIELE REPUBLIKANER? [D 2018]: 03:17), was einen Bruch der vierten Wand darstellt und die Medialität der Darstellung betont. Aber auch Over-Shoulder-Einstellungen und selbstgefilmte Nahaufnahmen (Selfies) transportieren Nähe und Unmittelbarkeit. Diese authentisch-persönliche Note findet sich auch in Kommentaren der Journalistin und des Journalisten, sei es in der Darstellung von missglückten Interviewversuchen oder im freien Sprechen mit Publikumsansprachen inklusive Umgangssprache: „Und jetzt ist die Kacke am Dampfen“ (TRUMP - WARUM LIEBEN IHN SO VIELE REPUBLIKANER?: 03:01). Besonders prägnant ist die Aufforderung an die ZuschauerInnen, das Video auf der Plattform zu kommentieren. Solche Beobachtungen stützen die These, dass der auf allen Ebenen kommunizierte Kontakt zu den Zuschauer*innen im Medium YouTube von großer Wichtigkeit ist. Daneben gibt es noch eine weitere Erkenntnis: nämlich, dass das Stück sich filmischer Mittel bedient, um Tempo erzeugen. Das zeigt sich in der Mise-en-chaîne, wenn Trickblenden oder schnelle Montagen genutzt werden. Aber auch die musikalische Ebene bietet intensive und beat-lastige popkulturelle Songs. Während die Gesellschaft Amerikas also im ARD-Film als Objekt dargestellt wird, über das berichtet wird, erreicht das YouTube-Video eine stärkere Empathiebildung (im Sinne einer internen Fokalisierung auf die Medienmachenden) und bietet Rezipient*innen damit eine Subjekterfahrung.

Eine umfassende medienkulturwissenschaftliche Analyse würde hier nicht stoppen. Im zweiten Schritt ließen sich nach Schmidt noch viele weitere kulturwissenschaftliche Fragestellungen anreihen, hier zum Beispiel die nach den Machtstrukturen: YouTube als Medium der Jungen versus Fernsehen als das der Alten; die Deutungshoheit von Journalist*innen über ihr dargestelltes Thema im Dokumentarfilm im Vergleich zu subjektiven Empfindungen von Zuständen in der YouTube-Reportage; die Diskursorientiertheit des Mediums YouTube im Gegensatz zum Massenmedium Fernsehen.

Perspektive der Medienkulturwissenschaft

Die literatur- und filmwissenschaftliche Analyse von Texten eröffnet einerseits neue Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Medien und Kultur, kann aber gleichzeitig auch Gefahr laufen, einen kulturell-präskriptiven Charakter (auch durch den solchen Analysen immer inhärenten Referenzrahmen der eigenen Kultur) anzunehmen (vgl. Wittmann 2007: 41). Daher ist es angebracht, die im untersuchten Medium kommunizierten Wirklichkeitsmodelle als ein Beispiel der Produktivität kultureller Programme anzusehen, nicht aber als verallgemeinerbare Blaupausen, und sich explizit transkulturellen Themen zu widmen. Die Kritik an dieser textzentrierten Herangehensweise als ungenügend, wie sie zum Beispiel Wittmann (2007: 42) formuliert, ließe sich damit zurückweisen.

Es wird vielmehr deutlich, dass die Medienkulturwissenschaft besonders im Kontakt mit anderen Disziplinen wie der Literatur- und Filmwissenschaft eine Vielzahl neuer Perspektiven aufzeigt – oder, wie Schmidt erkennt: „Medienkulturwissenschaft kann nur interdisziplinär arbeiten.“ (Schmidt 2008: 367; Hervorh. i. Orig.) Eine Reihe neuer Ansätze wie die Mediendispositivforschung, der Theatralitätsansatz und die Medienethnologie lassen sich darin genauso integrieren wie die Cultural Studies (New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies, vgl. auch Wittmann 2007: 71). Inwiefern sie eine universitär verfasste Disziplin Medienkulturwissenschaft feststellen lassen oder nur in einem wissenschaftlichen Werkzeugkasten für einzelne Analysen nebeneinander und miteinander bestehen, muss die Forschungspraxis noch bestimmen. Eine vollständige Institutionalisierung besteht auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht (vgl. Wittmann 2007: 69). Die Emergenz eines Studiengangs Medienkulturwissenschaft und die weiterhin produktive Veröffentlichungssituation neuer Werke über dieses Forschungsfeld implizieren aber (vgl. Ruf u. a. 2022), dass die Medienkulturwissenschaft Möglichkeiten zur Ausbildung eines eigenen Fachs bietet. Wie jede Kulturwissenschaft muss sich aber auch – und vielleicht gerade – die Medienkulturwissenschaft insgesamt und für einzelne Untersuchungen einen klaren Rahmen stecken, da die Perspektive ansonsten im Spannungsfeld zwischen Text-, Medien- und Kulturanalyse zu weit für anwendbare Erkenntnisse werden kann. Diesen Rahmen gilt es jeweils auszuhandeln.


Filme

TRUMP - WARUM LIEBEN IHN SO VIELE REPUBLIKANER? [D 2018]. Einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=ZgunA57w57c.

TRUMPS AMERIKA - DIE FREMD GEWORDENE SUPERMACHT [D 2020]. Einsehbar in der ARD-Mediathek.

Forschungsliteratur

Bohnenkamp, Björn/Schneider, Irmela (2005): „Medienkulturwissenschaft“. In: Claudia Liebrand/Irmela Schneider/Björn Bohnenkamp u. a. (Hg.): Einführung in die Medienkulturwissenschaft. 2. Aufl. Münster, S. 35–48.

Kreuzer, Helmut (1975): Veränderungen des Literaturbegriffs. Fünf Beiträge zu aktuellen Problemen der Literaturwissenschaft. Göttingen.

Nichols, Bill (2017): Introduction to Documentary. 3. Aufl. Bloomington.

Pross, Harry (1970): Publizistik. Thesen zu einem Grundcolloquium. Neuwied/Berlin (= Sammlung Luchterhand, Bd. 10).

Ruf, Oliver, Lars Grabbe u. Patrick Rupert-Kruse (erscheint 2022): Medienkulturwissenschaft. Eine Einführung. Wiesbaden.

Schmidt, Siegfried J. (2008): „Medienkulturwissenschaft“. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, S. 351–369.

Schmidt, Siegfried J. (1996): Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Frankfurt a. M.

Tröhler, Margrit (2002): „Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden. Fiktion – Nichtfiktion – Narration in Spiel- und Dokumentarfilm“. In: Montage AV. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 11, 2, S. 9–41.

Titzmann, Michael (1993): Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. 3. Auflage. München.

Wittmann, Frank (2007): Medienkultur und Ethnographie. Ein transdisziplinärer Ansatz. Mit einer Fallstudie zu Senegal. Bielefeld.