Kultursemiotik. Zeichensysteme in einer Kultur und Kulturen als Zeichensysteme

Anna-Noemi Bartl

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Gegenstandsbereich – Semiotik und ‚Kultur‘

Um eine definitorische Grundlage der Kultursemiotik zu formulieren, lässt sich ‚Kultur‘ nach Ernst Cassirers Kulturbegriff als ein ‚System symbolischer Formen‘ begreifen (vgl. Cassirer 1923–1929). Cassirer entwickelt damit einen direkten Zusammenhang zwischen den symbolischen Ausdrucksformen einer Gesellschaft und der spezifischen Kultur, die eine Gesellschaft über ihre Formsprache generiert. Die Semiotik gilt allgemein als Wissenschaft der Zeichen und Symbole. Werden beide Begriffe in der Disziplin der Kultursemiotik zusammengeführt, so ließe diese sich in das weite Feld der Kulturwissenschaften einordnen. ‚Kultur‘ als semiotisches System, das sich über Zeichen generiert, kann mit dem Begriff der Semiosphäre nach Lotman beschrieben werden (vgl. Lotman 1990: 287-305). Aus semiotischer Perspektive handelt es sich bei ‚Kultur‘ also um eine „Hierarchie von Zeichensystemen, als Gesamtheit der Texte und ihrer Funktionen oder als bestimmter Mechanismus, der diese Texte hervorbringt“ (Lotman u. a. 1975: 73). Martin Nies fasst zusammen, die Semiotik ermögliche es, sämtliche kulturelle Phänomene wissenschaftlich zu beschreiben, indem sie die im jeweiligen Zeichensystem organisierten Zeichen zu decodieren vermag (vgl. Nies 2017: 377).

Roland Posner differenziert drei Bereiche, über die sich Kultur erstreckt. Er schlägt mit einer text- und medienübergreifenden Perspektive einen Bogen zur Anthropologie und Archäologie, die sich bereits vor der Semiotik mit dem Gegenstandsbereich ‚Kultur(en)‘ beschäftigten. Die soziale Kultur als Gegenstand der Sozialanthropologie umfasse alles, was sowohl das Individuum als auch die Gesamtgesellschaft betrifft und worüber sie sich reguliert. Dazu gehören zum Beispiel soziale Strukturen, Institutionen, kulturelle Normen und rituelle Handlungen. Darüber hinaus beschreibt er mit materialer Kultur all das, was die Zivilisation einer Gesellschaft in materialisierter Form erzeugt, also an Artefakten hervorbringt (vgl. Posner 2008: 47f.) Nies erweitert und spezifiziert den Aspekt der Artefakte einer materialen Kultur um „kommunikative Produkte, die in medial überlieferten ‚Texten‘ materiell konserviert sind“ (Nies 2017: 378). Die mentale Kultur (als Gegenstand der Kulturanthropologie) umfasse schließlich die Mentalität einer Gesellschaft. Diese manifestiert sich in den Mentefakten, den Werten, Normen und Konventionen ihrer Zivilisation (vgl. Posner 2008: 48).  Diesen Begriff ergänzt Nies um die Menge an Codes, über die eine Kultur verfügt sowie ihr kulturelles Wissen, also alles, was in dieser Kultur gewusst und gedacht werden kann und was als ‚Realität‘ vorgestellt wird (vgl. Nies 2017: 378). Davon ausgehend, dass sich soziale, materiale und mentale Kultur nicht getrennt voneinander betrachten lassen, wird die Wechselbeziehung zwischen einer Kultur und ihrem Zeichensystem deutlich: Geht es der Kultursemiotik um die Untersuchung von Zeichensystemen innerhalb einer Kultur, muss sie zugleich immer auch Kultur selbst als Zeichensystem verstehen.

Ästhetische Kommunikation und kultureller Wandel

Der semiotische Kulturbegriff konstituiert sich aus einer synchronen und einer diachronen Dimension; darüber lassen sich Prozesse kulturellen Wandels beobachten und erklären. Während aus der synchronen Betrachtungsweise räumlich differente Kulturen koexistieren, kann Kultur in ihrer Diachronizität als zeitlich begrenzte Einheit betrachtet werden (vgl. Nies 2017: 379). Sowohl im synchronen als auch diachronen Verständnis ist Kultur stets Veränderungen unterworfen, wobei sich ein solcher Wandel als „Paradigmenwechsel auf der Ebene von gesellschaftlichen, ästhetischen und wissenschaftlichen Diskursen“ (ebd.: 380) manifestiert. Das heuristische Erkenntnisinteresse der Kultursemiotik besteht unter anderem darin, eben solche Paradigmenwechsel zu erkennen und durch ihre Rekonstruktion und Deutung Schlüsse auf die jeweilige Gesellschaft zu ziehen, die als Produzent jener rekonstruierten Kultur verstanden werden kann.

Eine wichtige Rolle kommt in diesem Zusammenhang der ästhetischen Kommunikation zu. Sie fungiert als „medial konservierter ‚kultureller Speicher‘“ (ebd.: 380) und verfügt über die kommunikativen Produkte der materialen Kultur, wodurch auch Erkenntnisse über die soziale und mentale Kultur der jeweiligen Gesellschaft erlangt werden können. Da vergangene Kulturen retrospektiv nur anhand ihrer Relikte beschrieben werden können, müssen zunächst alle raumzeitlich abwesenden Kulturen als ‚fremd‘ eingestuft werden; eine Rekonstruktion ihrer Diskurse erfolgt anhand ihrer spezifischen Merkmale, Strukturen und Funktionen, die sich eben als ‚anders‘ zu je eigenen aktuell stattfindenden Diskursen herauslesen lassen (vgl. ebd.: 381 f.). Hier muss zwischen ästhetischer und referenzieller Kommunikation unterschieden werden (zur ästhetischen und referentiellen Funktion von Texten: Jakobson 1979: 83–121). Als medial vermittelter kommunikativer Speicher, archiviert die ästhetische Kommunikation einerseits Diskursinhalte, die in einer Kultur verhandelt werden und wurden. Andererseits ist nicht nur was, sondern vor allem wie kommuniziert wird – die konkrete textuelle Verfasstheit selbst – zeichenhaft (vgl. ebd.: 384 f.). Die ästhetische (bei Jakobson: poetische) Funktion eines Textes „projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (Jakobson 1979: 94). Indem ästhetische Kommunikation also als sekundäres, semiotisches, modellbildendes System aufgefasst wird, steht sie im Erkenntnisinteresse der Kultursemiotik, die es sich zur Aufgabe macht, implizit oder explizit vermittelte Weltmodelle als Zeichensysteme und Produkte ihrer jeweiligen Kultur zu lesen (vgl. Nies 2017: 387). Im Sinne Lotmans ergibt sich aus dem Wirklichkeitsmodell eines Textes, seinen distinkten semantischen Räumen und dem Konsistenzprinzip das Werte- und Normensystem der Kultur, die als Verfasser des Textes gilt.

Jeder narrative Text verfährt in der Art und Weise, wie er ‚Ereignisse‘ im Rahmen der von ihm paradigmatisch dargestellten Welt modelliert, insofern ideologisch als der Konstruktcharakter dieser Anordnungen in der Regel selbst nicht in Frage gestellt oder thematisiert wird (ebd.: 389).

Wie lässt sich nun aber theoretisch und methodologisch vorgehen, um wissenschaftlich relevante Erkenntnisse zu erlangen, wenn als kultursemiotischer Untersuchungsgegenstand prinzipiell jede Art zeichenhafter Äußerung herangezogen werden kann? Nies nennt hier die beiden Kriterien Rekurrenz und Kohärenz, um eine gewisse Relevanz und Repräsentativität von textuellen Merkmalen zu gewährleisten (vgl. ebd.: 390 f.). Durch beide Prinzipen lassen sich gemeinsame Paradigmen kultureller Erscheinungen erkennen und kategorisieren.

Kultursemiotische Imagologie und interkulturelle Kultursemiotik

Was eine Kultur (explizit oder implizit) als zu sich gehörig klassifiziert oder als nicht zu sich gehörig ausschließt, generiert gewisse Selbst- bzw. Fremdbilder, die sich in den medialen Produkten ästhetischer Kommunikation widerspiegeln. Die Imagologie setzt sich mit der Konstitution und der Genese solcher Selbst- und Fremdbilder auseinander. Neben der Kultursemiotik untersuchen auch andere kulturwissenschaftliche Fächer, wie die Soziologie, Ethnologie, Übersetzungswissenschaften und auch Medienwissenschaften Vorstellungen und Bilder von Kultur bzw. einer Gesellschaft. Hier wird deutlich, dass die Imagologie als interdisziplinärer Teildiskurs ein relevanter Schnittpunkt vieler kulturwissenschaftlichen Fächer sein kann (vgl. ebd.: 392).  Für die Kultursemiotik ist der Bereich der Imagologie von großem Interesse, da „imagologische ‚Bilder‘ […] in metaphorischer Weise Konstrukte aus bestimmten Merkmalskorrelationen [darstellen], die als konstitutiv für eine jeweilige (kulturelle) Entität angesehen werden“ (ebd.: 392). Auch bei Selbst- und Fremdbildern handelt es sich um sekundäre semiotische Modelle, da diese sich via Selektion und Kombination aus einem primären Zeichensystem zusammensetzen. Dies lässt sich auf Lotmans Semiotik und Raumsemantik übertragen, wenn die binären Paradigmen ‚Eigenes‘ und ‚Fremdes‘ als semantische Felder verstanden werden, die von einer Grenze in zwei disjunkte Räume geteilt werden (vgl. Lotman 1972: 327). Martin Nies spricht in seinem Aufsatz B/Orders – Schwellen – Horizonte (2018) der Raumsemantik eine zentrale Rolle für die kultursemiotische Analysepraxis zu: Grenzen seien ein maßgebender Untersuchungsgegenstand der Kultursemiotik, um kulturelle Prozesse und Veränderungen zu beschreiben (vgl. Nies 2018 :16). Anhand von Raumoppositionen lassen sich Eigen- und Fremdbilder im Rahmen ästhetischer Kommunikation „hinsichtlich enthaltener Merkmale und Merkmalskorrelationen sowie vergleichend hinsichtlich semantisch-logischer Oppositions- und Äquivalenzrelationen semiotisch analysieren“ (Nies 2017: 392).

Oben beschriebene Selbst- und Fremdbilder tragen zur sozialen und kulturellen Identitätsbildung bei, indem Stereotypisierungen die Eigen- und Fremdwahrnehmung wesentlich mitbestimmen und für diesen Zweck funktionalisiert werden können (vgl. ebd.: 393). Die Kultursemiotik betreibt insofern auch Interkulturalitätsforschung, da sie solche Stereotype zu erkennen vermag, decodieren kann und ihre „kommunikativen Strategien der kulturellen Selbstbehauptung“ (ebd.: 393) in den Kontext historischen Wandels setzt. Signifikante weiterführende Aspekte können hier zum Beispiel interkulturelle Vergleiche und die Frage nach interkulturellen Wechselwirkungen sein. So lässt sich resümieren, dass der heuristische Wert der interkulturellen kultursemiotischen Imagologie darin liegt, das Selbstverständnis von Kulturen in vielerlei Hinsicht zu ergründen. In diesem Zusammenhang schlägt Nies einige richtungsweisende, impulsgebende Fragen vor, wie:

Welche Merkmale entwirft eine Kultur als zu sich gehörig und welche Merkmale werden ausgegrenzt? Wie ‚denkt‘ eine gegebene Kultur über sich selbst und über andere Kulturen? […] Was wird als wünschenswert gesetzt? Welche kulturellen Hierarchisierungen und Wertungen werden praktiziert? (ebd.: 394)

Das eingangs erwähnte Modell der Semiosphäre (vgl. Lotman 1990: 287–305) eignet sich in diesem Zusammenhang als Analyseinstrument, um die Entwicklung und (interkulturelle) Vernetzung kultureller Systeme sichtbar zu machen. Nies nennt hier die Integration von Zeichen und Codes aus ‚fremden‘ Semiosphären in ‚die eigene‘; oder auch hybride Entwicklungen, die eine neue transidentitäre Semiosphäre entstehen lassen können (vgl. Nies 2017: 394).

Medienanalyse und diachroner Kulturvergleich: Paradigmenwechsel in der Waschmittelwerbung

Als Anwendungsbeispiel für die oben erläuterten Aspekte zur Kultursemiotik lassen sich drei Werbespots der Firma Persil heranziehen. Die Spots stammen aus den Jahren 1954, 1996 und 2020 und stehen demnach im diachronen Vergleich. Es sollte insofern eine Vergleichbarkeit gewährleistet sein, als dass alle drei Spots deutsche Produktionen derselben Marke sind; so können mögliche Paradigmenwechsel innerhalb der ‚deutschen‘ Kultur in einer Zeitspanne von rund 65 Jahren rekonstruiert werden. (Mediale) Produkte ästhetischer Kommunikation sind immer vor der Folie ihrer raumzeitlichen Verortung zu betrachten und müssen daher im Kontext ihrer Produktionskultur gedeutet werden. „Somit ist die Rekonstruktion von Textsemantiken immer auch eine Rekonstruktion von Mentalitäts-, Kultur- und Sozialgeschichte […]“ (Krah u. Gräf 2013: 211).

Der erste zur Analyse stehende Persil-Werbespot wurde in den 1950er-Jahren in Deutschland ausgestrahlt. Er handelt von schmutzig-schwarzen Pinguinen, deren Bäuche dank Persil weißgewaschen werden. Der Zeichentrick-Spot beruht auf dem dreiminütigen Trias-Film DIE WEISSE WESTE (D 1954), in dem die Polar-Tiere ihre helle Farbe verloren haben, weil sie von ihrer Umgebung ‚beschmutzt‘ wurden: so auch die Pinguine, die ein komplett schwarzes Federkleid tragen (vgl. Forster 2013: 120). Der Spot klammert diese Vorgeschichte aus und setzt mit einem Matrosen in die Diegese ein, der seine weiße Wäsche mit Persil wäscht. Er kommt der Bitte der Pinguine nach und wäscht sie ‚weiß‘. Da er nicht genug Waschmittel für alle Pinguine hat – „Au Backe, mein Persil reicht aber nur für weiße Westen“ (PERSIL-WERBUNG 50ER-JAHRE (D [Entstehungsjahr unbekannt]): 00:00:33–00:00:38) – werden nur die Bäuche der Pinguine weißgewaschen, der Rest des Körpers bleibt schwarz. Die metaphorische ‚weiße Weste‘ thematisieren die Pinguine selbst, indem sie singen „Ja, unsre weiße Weste, verdanken wir Persil, es ist für uns das Beste, Persil bleibt doch Persil“ (ebd.: 00:00:39–00:00:52). Der Entstehungskontext des Werbefilms in den 1950er-Jahren eröffnet in diesem Zusammenhang unmittelbar Thematiken der Nachkriegsjahre in Deutschland: umstrittene Entnazifizierungsmethoden und die kontrovers betrachtete Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor der Folie der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik finden Themen, die die Gesellschaft zu dieser Zeit beschäftigten, ihre Verortung auch in der ästhetischen Kommunikation. Soziale, mentale und materiale Kultur verarbeiten und reproduzieren in diesem Fall auf eine naiv-unkommentierte Art und Weise eine Nachkriegs-Mentalität, die in ihrer Metaphorik und einer impliziten Schwarz-Weiß-Semantik Einzug in die bundesdeutschen Waschküchen gefunden hat. Indem auf discours-Ebene auf die Ästhetik des Zeichentrickfilms zurückgegriffen wird, impliziert der Spot im Modus der Uneigentlichkeit eine gewisse Verharmlosung und Legitimationsstrategie im Hinblick auf den kontroversen Diskurs um die Entnazifizierung in den 50er-Jahren. In seiner expliziten Zeichenhaftigkeit stellt der Spot dabei die Metaphorik ‚weißer Westen‘ und die Korrelation mit einem ‚rein(gewaschen)en Gewissen‘ nicht in Frage und führt die dargestellte Realität in einer dem Spot eigenen Naivität vor.

Der Persil-Spot aus den 90er-Jahren (PERSIL MEGAPERLS, D 1996) lässt dagegen auf einen Paradigmenwechsel schließen. Das politische (Welt-)Geschehen spielt in der Diegese keine Rolle, es erfüllt keinerlei narrative Funktion und wird gar nicht erst thematisiert. Vielmehr dreht sich in diesem Werbefilm alles um das Privatleben einer Mutter und ihrem Baby. Als relevant gesetzt werden die Merkmale ‚privates Heim‘, ‚Kinderversorgung‘ und ‚Reinheit‘. Die junge Mutter erklärt ihr Neugeborenes zum Mittelpunkt ihres Lebens „Mein Leben hat sich echt verändert mit der Kleinen. Und meine Ansprüche an Reinheit auch – bei jeder Wäsche“ (PERSIL MEGAPERLS: 00:00:33–00:00:39). Sie wird beim Füttern des Kindes, in der Küche und vor der Waschmaschine gezeigt. Die Anwesenheit eines Vaters/Mannes wird dabei nicht thematisiert oder gar gezeigt, sie bleibt Nullposition. Letztlich erklärt eine männliche Stimme aus dem Off „Wenn’s drauf ankommt, kommt man zu Persil Megaperls […]“ (ebd.: 00:00:40–00:00:43) – das Waschmittel wird als unverzichtbarer Alltagsbestreiter, implizit sogar als Substitut für einen Mann im Haushalt – in der sozialen wie mentalen Kultur angesiedelt.

Zuletzt steht der Spot PERSIL – UNSER BESTES (D 2020) im diachronen Vergleich zu den anderen Werbefilmen. Hier dankt ‚Unser Bestes von Persil‘ – im metonymischen Sinne für die Marke als Ganzes stehend – „allen, die sich um andere kümmern, die täglich ihr Bestes geben […] und mit uns rein in die Zukunft gehen“ (PERSIL – UNSER BESTES: 00:00:05–00:00:16). Zu Beginn und Ende des Spots ist jeweils das Brandenburger Tor in Berlin zu sehen, das in eine rote Persil-Schleife gewickelt ist, vor dem Tor steht eine große Menschenmenge. Auch hier bedient sich der Spot einer Metonymie, diesmal auf der Ebene visueller Kodierung. Das Brandenburger Tor und die Menschen davor sind als Teil-Ganzes-Relation für Deutschland zu verstehen; ganz Deutschland ist in Persils rote Schleife gehüllt, ganz Deutschland nutzt dieses Waschmittel. Durch die Argumentationsstrategie der Verallgemeinerung und Generalisierung schafft der Spot ein Verbundenheitsgefühl zwischen Rezipient*innen und Marke. Raumtopologisch ist der Werbespot sowohl in der Öffentlichkeit (Brandenburger Tor, Berlin) als auch im Raum des Privaten (in der Wohnung einer Familie) angesiedelt. Im Gegensatz zum Spot aus den 90ern wird allerdings nicht nur eine Frau als Zielgruppe für Waschmittel vorgeführt, sondern auch ein Mann kommt der Hausarbeit und Kinderbetreuung nach. Paradigmatisch ist hier ein Wandel weg von klassischen Rollenbildern und hin zu einer gleichberechtigten Aufgabenverteilung zu beobachten. Schließlich weist der Spot eine interessante Parallele zur Werbung aus den 50er-Jahren auf: Geht es 1954 darum die ‚weiße Weste reinzuwaschen‘, heißt es 2020 ‚rein in die Zukunft zu gehen‘. Die Konnotation von ‚Reinheit‘ ist 1954 und 2020 zunächst die gleiche: ‚Reinheit‘ korreliert mit ‚Unschuld‘. Im Kontext der Nachkriegszeit ist diese Korrelation dennoch anders aufgeladen und semantisiert als im 21. Jahrhundert. Während Unschuld vor der Folie der Entnazifizierung den Beigeschmack einer moralisch falschen ‚Unschuld‘ bekommt, eben die Konnotation einer vom Nationalsozialismus reingewaschenen weißen Weste, bestätigt vom sogenannten ‚Persilschein‘, geht es im Spot aus dem Jahr 2020 um eine ethisch-moralische Unschuld, die Menschen meint, die ein gemeinschaftliches Miteinander leben und ‚ihr Bestes‘ geben, um in eine positive Zukunft gehen. Es geht jeweils vor allem aber auch um die Vermarktung eines Produktes. Persil wird hierfür eindeutig als das Waschmittel mit den für das Produkt besten Eigenschaften semantisiert. Es steht für Reinheit (im Sinne von Sauberkeit), Qualität und Vertrauen und platziert sich damit als führende Waschmittelmarke. Aufgrund der konnotativen Aufladung der Marke sollen potenzielle Konsument*innen zum Kauf angeregt werden. Auch wenn es sich bei den Werbespots um mediale Produkte der ästhetischen Kommunikation handelt, steht doch ihre je ausgeprägte appellative Funktion im Fokus der Kommunikationssituation.

Was auf discours-Ebene in zeichenhaft-kodierter Form dargestellt wird, ist als Weltentwurf zu lesen, der durch Selektion und Kombination konstruiert wird und damit als sekundäres, modellbildendes Produkt ästhetischer Kommunikation zu lesen ist. Solche Konstruktionen von Weltentwürfen erlauben als kultureller Speicher schließlich Rückschlüsse auf die soziale und mentale Kultur, die als Produzent des konkreten Textes gilt.

Es lässt sich anhand der zeitlich weit auseinanderliegenden Werbespots also zeigen, inwiefern sie über konkrete Semantisierungen und Argumentationsstrategien bezüglich Waschpulver „implizit […] (kulturspezifische) Normen und Werte [Herv. i. O.]“ (Krah u. Gräf 2013: 227) und Mentalitäten der spezifischen raumzeitlichen Kulturen transportieren. Dabei zeichnen sich über die Jahrzehnte gesehen paradigmatische Argumentationsverlagerungen innerhalb der deutschen Mentalität, des Denksystems und der Wertevermittlung ab. Anhand der aufgeführten Beispiele ist auch eine solche Paradigmen-Verschiebung und damit ein diachron stattfindender kultureller Wandel nachvollziehbar: von ‚politischer Diskurs/Vergangenheitsbewältigung‘ (1950er-Jahre) über ‚Häuslichkeit/Privatheit/Familie‘ (1990er-Jahre) hin zu ‚Offenheit/Gleichberechtigung/Zukunft‘ in den 2020er-Jahren.


Filme (Werbespots)

DIE WEISSE WESTE (D 1954) (Kinowerbefilm)

PERSIL MEGAPERLS (D 1996) https://www.youtube.com/watch?v=Ziypkq_UT94&ab_channel=OliverNumrich (27.03.2021).

PERSIL – UNSER BESTES (D 2020) https://www.youtube.com/watch?v=e7Kk1zFfMZ4 (27.03.2021).

PERSIL-WERBESPOTS 50ER-JAHRE (D Erscheinungsjahr unbekannt) (in Anlehnung an DIE WEISSE WESTE) https://www.youtube.com/watch?v=lCW_6vgLRyk&ab_channel=codingfreak (27.03.2021).

Forschungsliteratur

Cassirer, Ernst A. (1923–1929): Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Berlin.

Forster, Ralf (2013): „Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm. Zäsuren des bundesdeutschen Werbeanimationsfilms um 1960“. In: Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, S. 119–131.

Jakobson, Roman (1979): „Linguistik und Poetik“. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M., S. 83–121.

Krah, Hans u. Gräf, Dennis (2013): „Medienanalyse und Kulturvergleich: Das Beispiel Werbung“. In: Daniela Wawra (Hg.): European Studies – Interkulturelle Kommunikation und Kulturvergleich. Frankfurt a. M., S. 191–230.

Lotman, Jurij M. u. a. (1972): Die Struktur literarischer Texte. München.

Lotman, Jurij M. u. a. (1975): „Theses on the Semiotic Study of Cultures (as Applied to Slavic Texts)”. In: Thomas A. Sebeok (Hg.): The Tell-Tale Sign. A Survey of Semiotics. Lisse, S. 57–83.

Lotman, Jurij M. (1990): „Über die Semiosphäre“. In: Zeitschrift für Semiotik 12, 4, S. 287–305.

Nies, Martin (2018): „B/Orders – Schwellen – Horizonte. Modelle der Beschreibung von Räumen und Grenzen in ästhetischer Kommunikation – Eine raumsemiotische Positionsbestimmung“. In: Raumsemiotik. Räume – Grenzen – Identitäten. (= Virtuelles Zentrum für kultursemiotische Forschung. Schriften zur Kultur und Mediensemiotik 4), S. 13–72.  https://www.kultursemiotik.com/ (20.06.2021).

Nies, Martin (2017): „Kultursemiotik“. In: Hans Krah u. Michael Titzmann (Hg.): Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau, S. 377–398.

Posner, Roland (2008): „Kultursemiotik“. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar, S. 39–72.