Kulturwissenschaftliche Raumtheorie(n)

Alexandra Schwind

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Überblick

Seit dem ‚spatial turn‘ der 1980er-Jahre wird in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie vor allem in der Kulturwissenschaft verstärkt die Kategorie des Raums in den Blick genommen (vgl. Dennerlein 2009: 5 f.). Den Ausgangspunkt dieses Paradigmenwechsels sieht Bachmann-Medick in Impulsen aus den postkolonialen Theorien, in der „Erfahrung globaler Enträumlichung“: „Gerade in einer globalisierten Zeit mit ihrer Tendenz zur Ortlosigkeit treten Probleme der Lokalisierung vehement in den Vordergrund.“ (Bachmann-Medick 2006: 41) Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist vor allem die wechselseitige Beziehung von Raum und Kultur von Interesse, in der einerseits der physische und repräsentierte Raum das Aufkommen und die Entfaltung von Kulturen prägend mitbestimmt, andererseits diese Kulturen ihrerseits Einfluss auf den materiellen sowie imaginierten Raum üben (vgl. VZKF).

Neben dem ‚spatial turn‘ lassen sich – mit je anderer Schwerpunktsetzung – ‚topographical turn‘ und ‚topological turn‘ nennen. Ersterer wurde von Weigel geprägt und meint die Fokussierung des Raums speziell in der deutschen Kulturwissenschaft: „Hier stehen technische und kulturelle Formen der Repräsentation von Räumlichkeit im Mittelpunkt, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Karte und kartographischen Techniken liegt.“ (Dennerlein 2009: 7) Der ‚topological turn‘ „umfasst sowohl den strukturalistischen Anschluss an die mathematische Topologie als auch den phänomenologischen Anschluss an den Ortsbegriff von Aristoteles.“ (Ebd.)

Das gesteigerte Interesse an räumlichen Phänomenen führte zur Frage nach der ‚Natur‘ des Raumes als Untersuchungsgegenstand in diversen Disziplinen – so u.a. in der Philosophie und der philosophischen Phänomenologie, den Naturwissenschaften, der Anthropologie, Psychoanalyse, Medienwissenschaft, Sozialwissenschaft, Geografie, Politik und Ästhetik – und brachte in diesen Zusammenhängen zahlreiche Raumtheorien hervor (vgl. Dünne u. Günzel 2018: 13 f.). Durch die Heterogenität dieser Disziplinen ist die jeweilige Schwerpunktsetzung sowie das Verständnis der Kategorie Raum folglich stark divergent:

Die Soziologie etwa versteht den Raum u.a. als sozialen Handlungsraum im Sinne einer Bühne, während sich die Geschichtswissenschaft vor allem mit Orten und der an ihnen sich verdichtenden Geschichte im Sinne einer Topographie auseinandersetzt. Die Literatur- und Medienwissenschaften wiederum fokussieren auf die kulturelle Konstitution und Repräsentation von Räumen. (VZKF)

Eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise ermöglicht es, dieses breite Feld abzustecken und die verschiedenen Positionen „in ihren Gemeinsamkeiten aber insbesondere in ihren Unterschieden zu analysieren.“ (Ebd.) Hierzu bieten sich unterschiedliche Methoden wie die phänomenologische, diskursanalytische sowie semiotische Herangehensweise an (vgl. ebd.). Im Folgenden soll letztere schwerpunktmäßig vorgestellt werden.  

Die Theorien Jurij Lotmans

Ein im Zuge des kultursemiotischen Zugangs (Kultursemiotik) bahnbrechender Ansatz ergibt sich mit den Raumtheorien des russischen Literaturwissenschaftlers Jurij Michajlovic Lotman.1

In seinem zentralen Werk Die Struktur literarischer Texte fasst Lotman den ‚Raum‘ – u.a. neben dem Rahmen, dem Sujet, der Figur und dem Blickpunkt (vgl. 1993 [1972]: 300–401) – als eines der grundlegenden Elemente in der Zusammensetzung mit Texten. Diese Bedeutung ergibt sich auch aus der Tatsache, dass visuelle Wahrnehmung in räumlichen Kategorien stattfindet, was sich wiederum in der Modellierung von Welten in schriftbasierten Texten niederschlägt:

Der dem Menschen eigene besondere Charakter der visuellen Wahrnehmung der Welt hat zur Folge, daß für den Menschen in der Mehrzahl der Fälle die Denotate verbaler Zeichen irgendwelche räumlichen sichtbaren Objekte sind, und das führt zu einer spezifischen Rezeption verbalisierter Modelle. (Ebd.: 312)

Er definiert den Raum als „die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen.“ (Ebd.) Anhand von Redewendungen und Lyrik-Ausschnitten verdeutlicht er die metaphorische Bedeutung topologischer Relationen, welche über ihre räumliche Bedeutung hinaus Kulturmodelle schaffen – „all das fügt sich zusammen zu Weltmodellen, die deutlich mit räumlichen Merkmalen ausgestattet sind.“ (Ebd.: 313) Texte, bzw. alle Arten von Modellen, die auf dem Bewusstsein aufbauen, fasst Lotman als „sekundäre modellbildende Systeme“ (ebd.: 23); sie schaffen somit sekundäre semiotische Weltmodelle (vgl. Nies 2018: 25). „Kultursemiotisch lassen sich dieses Modell von Welt und die zu seiner kommunikativen Vermittlung angewandten ästhetischen Strategien […] als kulturelle Speicher im Kontext der Diskursformationen der Kultur interpretieren, die den Text hervorgebracht hat.“ (Ebd., Herv. i. Orig.) (Kontextsensitive Narratologie)

Als „wichtigste[s] topologische[s] Merkmal des Raumes“ (Lotman 1993 [1972]: 327) fungiert die ‚Grenze‘, die diesen in (mindestens [vgl. Nies 2018: 39]) zwei Teilräume trennt und prinzipiell nicht überschreitbar ist (vgl. Lotman 1993 [1972]: 327). Sie schafft eine semantische Ordnung der dargestellten Welt, wobei die abstrakt-semantischen Räume in Texten auch konkret topografisch umgesetzt werden können (aber nicht müssen) (vgl. Nies 2018: 24). „Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichsten Charakteristika“ (Lotman 1993 [1972]: 327) und somit zentraler Anhaltspunkt bei der Analyse der dargestellten Weltstruktur. Zumeist sind literarische Figuren einem dieser Teilräume zugeordnet; es existieren aber auch Fälle, in denen eine Figur beide Räume ‚betreten‘ kann, oder aber Fälle, in denen sich die Raumaufteilung, sprich der Verlauf der Grenze, bei der jeweiligen Figur unterschiedlich gestaltet (vgl. ebd.: 328 f.). Lotman unterscheidet zwischen beweglichen und unbeweglichen Figuren, wobei nur die bewegliche Figur „das Recht hat, die Grenze zu überschreiten.“ (Ebd.: 338) Jeder narrative Text weist ein ‚Ereignis‘ in Form einer solchen „Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ auf (ebd.: 332; vgl. Abb. 1).

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Neben diesem explizit für literarische Texte konzipierten Modell formuliert Lotman im Aufsatz Über die Semiosphäre2 eine Kulturtheorie, die nun nicht länger lediglich auf kulturelle Artefakte, sondern auch auf Räume sozialer Zeichenprozesse insgesamt anwendbar ist (vgl. Abb. 2). Er entwickelt den Begriff analog zur Biosphäre: Während diese die Gesamtheit der belebten Materie umfasst, handelt es sich beim „semiotischen Universum“ nicht lediglich um die „Gesamtheit einzelner Texte und in Beziehung zueinander abgeschlossener Sprachen“ (1990: 289), sondern um einen einheitlichen Mechanismus, einen „Organismus“. Der Ausgangpunkt liegt nicht in den Einzelteilen, sondern im Gesamtsystem – der Semiosphäre (vgl. ebd.: 290).

Es handelt sich bei der Semiosphäre also um einen Raum, der alle Zeichensysteme einer Kultur fasst (vgl. Illing 2017: 552) und „der durch eine unaufhörliche semiotische Dynamik der Zeichenbildung und Zeichenlöschung (Semiose) prozessual definiert ist.“ (Frank 2012: 69) Sie ist unterteilt in das Zentrum mit dominierenden semiotischen Systemen und der Peripherie (vgl. Lotman 1990: 295), wobei es sich hierbei nicht zwingend um geografische, sondern um semiotische Kategorien handelt (vgl. Koschorke 2018: 93). Kennzeichnend für die Semiosphäre ist zum einen die Heterogenität im Inneren und zum anderen die Abgetrenntheit vom Äußerem sowie die Asymmetrie zwischen Innen und Außen (vgl. Lotman 1990: 290).

Letztere manifestiert sich im bereits in Die Struktur literarischer Texte beschriebenen Konstrukt der ‚Grenze‘, welche auch hier eine zentrale Funktion einnimmt; tatsächlich handelt es sich hierbei um den „Ort, der das Wesen der Semiosphäre bestimmt.“ (Ebd.: 291) Die Grenze meint hier die Summe von sogenannten ‚Übersetzer‘3 -Filtern, die „die äußeren Mitteilungen in die innere Sprache der Semiosphäre übersetz[en] und umgekehrt.“ (Ebd.) Ihre Funktion besteht somit in der Trennung zwischen Eigenem und Fremden, dem Filtern äußerer Mitteilungen und deren Übersetzung, aber auch in der „Umwandlung äußerer Nicht-Mitteilungen in Mitteilungen, d.h. die Semiotisierung des von außen Hereindringenden und dessen Verwandlung in Information.“ (Ebd.: 292) Schließlich findet über die Grenze nicht nur Abgrenzung, sondern auch Aneignung statt, indem die Peripherie als „Ort des Kontakts, des gegenseitigen Eindringens der Semiosphären ineinander, als Ort der Hybridisierung“ (Frank 2012: 70) und somit als „Bereich beschleunigter semiotischer Prozesse“ (Lotman 1990: 293) fungiert, die sich von dieser Peripherie ins Zentrum der Semiosphäre verlagern, um bestehende Strukturen zu ersetzen (vgl. ebd.).4

Lotman vertritt einen Kulturbegriff nach dem die „Menschliche Kultur […] deckungsgleich und synonym mit der Gesamtheit der Kommunikation mittels Zeichen“ ist und sich aus dem Zusammenhang zwischen der „Gesamtheit aller gleichzeitig gegebenen Texte, [den] diesen Texten zu Grunde liegenden Kodes und [den] Benutzer[n] dieser Kodes“ (Decker 2017: 437) ergibt. Da Lotman somit die Semiosphäre als Synonym für Kultur fasst, nimmt ‚Kultur‘ in seinem Modell folglich eine duale Funktion ein: „erstens, als Sphäre zeichenhafter Kommunikation und zweitens, als systemhafter und dabei offener Prozess von Zeichen- und Codebildung und -tilgung“ (Frank 2012: 70).

Exemplum: Thomas Manns Der Weg zum Friedhof

Möchte man Thomas Manns Der Weg zum Friedhof (1900)5 in Hinblick auf Lotmans Raumtheorie untersuchen, so bietet sich zunächst die Theorie der Grenzüberschreitung an. Als semiotische Teilräume der Diegese lassen sich auf konkret topografischer Ebene zunächst die bebaute Fläche der Stadt und der Friedhof ausmachen. Erstere ist geprägt durch die Merkmale ‚neu‘ („Neubauten der Vorstadt“ [WF: 211]) und ‚lebendig‘, im Sinne von ‚dynamisch‘ („an denen zum Teil noch gearbeitet wurde“ [ebd.]); der Friedhof selbst ist nicht näher beschrieben, kann aber unter Hinzunahme kulturellen Wissens mit ‚alt‘ und ‚tot‘ assoziiert werden und ist also oppositionell semantisiert. Auch in der Gestaltung der Chaussee findet sich die Gegenüberstellung von ‚neu vs. alt‘: „so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie‘s nicht.“ (ebd.) Die Peripherie der jeweiligen Sphären bilden die Felder, in die zumindest die Stadt durch die beschriebene Ausweitung durch Neubauten eindringt.

Im Laufe der Erzählung wird die Grenze zwar mehrfach überschritten, so von Fuhrwerken oder den Handwerksburschen, diese Überschreitungen werden jedoch nicht sujethaft gesetzt. Als Handlungsträger ist Lobgott Piepsam zu identifizieren. Dieser entspricht dem semantisierten Raum des Friedhofs, indem zunächst seine Kleidung als ‚alt‘ („altersblanken Gehrock“; „überall abgeschabte Glacehandschuhe“ [WF: 212]) und auch sein Körper zwar nicht als ‚tot‘, jedoch als ‚ungesund‘ und physisch schwach beschrieben wird („dürrer Hals“; „bleich“; „ausgehöhlten Wangen“; „eine vorn sich knollenartig verdickende Nase […], die in einer unmäßigen, unnatürlichen Röte glühte und zum Überfluß von einer Menge kleiner Auswüchse strotzte, ungesunder Gewächse“; „entzündet[e] und jämmerlich umrändert[e]“ Augen [WF: 212 f.]). Als Gegenspieler wird der Fahrradfahrer inszeniert, der – später nur noch als ‚Leben‘ bezeichnet – dem semantisierten Raum der Stadt zuzuordnen ist: „Er kam daher wie das Leben“ (WF: 215). Dieser „Jüngling“ (215) überschreitet ebenfalls eine Grenze, zwischen der befahrenen Chaussee und dem Weg in Form des Grabens, was ereignishaft ist, insofern als es in den Normvorstellungen der Diegese (hier verkörpert durch Piepsam) einen Bruch bildet: „Ich werde Sie anzeigen, weil Sie hier fahren, nicht dort draußen auf der Chaussee, sondern hier auf dem Wege zum Friedhof“ (WF: 216). Hier zeigt sich die von Klimczak herausgearbeitete Perspektivgebundenheit von Ereignissen, auf die im Ausblick noch näher eingegangen wird.

Auch wenn Piepsam auf dem Weg zum Friedhof – zum Tod – ist, unternimmt er unter großen Kraftaufwand einen symbolischen Versuch der Grenzüberschreitung in den abstrakt semantischen Raum ‚Leben‘. Er „klammerte sich mit beiden Händen daran fest, hing sich förmlich daran“ (WF: 217); scheitert letztlich jedoch, die (Lebens-)Kraft hat ihn verlassen: „Er stand da, keuchte und starrte dem Leben nach …“ (WF: 218). So kommt es zum Ende der Erzählung auch zu einem realen Übergang vom ‚Leben‘ zum ‚Tod‘, der schlussendlich auch mit der topografischen Überschreitung der Grenze zum Friedhof vollzogen wird – auch wenn Piepsam diesen Übergang nun nicht mehr aktiv bestreitet, sondern passiv im Sanitätswagen die Grenze passiert.

Will man Der Weg zum Friedhof nun kulturwissenschaftlich untersuchen und herausstellen, welche Rückschlüsse der Text über die Semiosphäre zulässt, aus der er hervorgegangen ist, so ist der Umgang mit der Relation zwischen Leben und Tod hervorzuheben. Hier besteht keine klare Distinktion mehr; vielmehr wird durch das Motiv der Krankheit eine Skalierung zwischen den beiden Polen verarbeitet. Schon zu Lebzeiten ist Piepsam der ‚Tod ins Gesicht geschrieben‘, indem sein Alkoholismus wie oben beschrieben klar zutage tritt. Durch diesen verliert er schließlich seine Anstellung, indem er sich in „unzurechnungsfähigem Zustande […] grober Versehen schuldig“ (WF: 214) macht, und wird endgültig außerhalb der Gesellschaft verortet. Sein inneres Elend, bedingt durch den Verlust seiner Anstellung sowie vor allem durch den Tod seiner Frau und Kinder – „er hatte nicht eine liebende Seele auf Erden.“ (WF: 213) –, kehrt sich nach außen und mündet in Hass sowohl sich selbst gegenüber als auch anderen, allen voran dem Radfahrer. Diese Inszenierung von menschlichem Verfall lässt sich in den Diskurs um Degeneration und Décadence der Literatur des Fin-de-Siècle einordnen, den Mann in seinen wenig später erscheinenden Buddenbrooks weiter ausführt (vgl. Ajouri 2009: 184 f.). Mann stellt eine Antithese zwischen der „Liebe zum Tode/zum Alten auf der einen, [der] Ethik des Lebens und die Bereitschaft zum Neuen auf der anderen Seite“ (Schneider 2015b: 304) auf. Während Piepsam dem Typus der Décadence zuzuordnen ist, kann der Radfahrer als Verkörperung des gegenläufigen Konzepts des emphatischen Vitalismus interpretiert werden (vgl. hierzu Schneider 2015a: 289). „Gemäß Nietzsches Verfallspsychologie siegen die Vertreter des Vitalismus, aber die Sympathie der Texte gilt den verfeinerten Verlierern“ (Schonlau 2015: 314). Das Motiv wird ferner häufig als Zeichen für die „längst schwindsüchtige[] Adelsgesellschaft in einem zerfallenden europäischen Kulturraum gelesen“ (Klein 2014: 313). Die damit verbundene Fokussierung auf das Thema ‚Tod‘ als Zustand, auf den die Erzählung teleologisch verweist, fügt sich in Andreas Blödorns These, nach der besonders im Frühwerk Manns „das Erzählen vom Tod poetologisch sinnstiftend“ (Blödorn 2015: 340) ist. Er betont hierzu die Antizipation des biologischen Todes durch „den metaphorischen ‚Tod‘ als Chiffre eines defizitären Zustandes von Nicht-Teilhabe am Leben“ (ebd.: 341), welcher sich auch für Piepsam attestieren lässt.

Anhand dieses Exemplums lässt sich der heuristische Mehrwert der Raumtheorie Lotmans veranschaulichen. Durch die Herausstellung räumlicher Konstrukte der Oberflächenstruktur kann ein Zugang und Interpretationsansatz zur Tiefenstruktur des Textes eröffnet werden. Somit bietet die Anwendung des Modells bei der Analyse einerseits die Möglichkeit der strukturierten Annäherung an einen Text in Form der Sichtbarmachung des topografischen und topologischen Aufbaus der Diegese sowie andererseits einen Ansatz, um abstrakt semantische Räume, die der Text etabliert, offenzulegen. Darüber hinaus kann man über die Untersuchung, wie ein Text Grenzen zieht, Erkenntnisse über die in der dargestellten Welt geltenden Normen erlangen. Neben diesen Einsichten in textimmanente Bedeutungskonstruktionen ermöglicht Lotmans Modell auch Erkenntnisse über kulturelle Implikationen, die ein Text – explizit oder implizit – über die ihn hervorbringende Semiosphäre tätigt. Der Text als sekundäres semiotisches Weltmodell gibt „Aufschluss über das dem Text zugrunde liegende Denken.“ (Nies 2018: 25) Mithilfe des Modells der Semiosphäre lässt sich ‚Kultur‘ als semiotischer Raum beschreiben und erklären (vgl. Decker 2017: 437).

Ausblick

Lotmans Theorien wurden intensiv – wenn auch selektiv (vgl. Hauschild 2009: 287) – rezipiert und auch erweitert. Hier ist zunächst die Erweiterung durch Karl Nikolaus Renner zu nennen, der den Raumbegriff Lotmans um sogenannte Extrempunkte ergänzt. Hierbei handelt es sich um Punkte, die innerhalb der Binnenstruktur einzelner abgegrenzten Räume eine herausragende Stellung einnehmen, ob topographisch zentriert, besonders hoch oder aber besonders tief gelegen (vgl. Renner 2004: 12). Auch nicht-topographische Strukturen können einen Extrempunkt bilden. Renner nennt hier beispielhaft ein Familienoberhaupt als „Extrempunkt des sozialen Raums“ (ebd.: 13). Die Extrempunkte weisen eine synekdochische Relation zum Gesamtraum auf, die sich auch auf Handlungsebene widerspiegelt: Die Handlungsepisoden im Extremraum „sind gewissermaßen Brennpunkte des Geschehens“ (Renner 1987: 117). Um nun die Bewegung von Figuren innerhalb abgegrenzter Räume zu erklären, formuliert Renner die ‚Extrempunktregel‘:

Überschreitet ein Held die Grenze eines semantischen Feldes, dann führt ihn der Weg innerhalb dieses Feldes zu dessen Extrempunkt. Kehrt er in seinen Ausgangsraum zurück, dann ändert sich dort seine Bewegungsrichtung: Der Extrempunkt ist ein Wendepunkt. Ansonsten endet hier der Weg des Helden: Der Extrempunkt ist der Endpunkt. (Ebd.: 128, Herv. i. Or.)

Peter Klimczak hinterfragt die Annahme lediglich einer Grundordnung eines Textes und fordert die Berücksichtigung von weiteren untergeordneten, miteinander konkurrierenden bzw. korrespondierenden Grundordnungen (vgl. Klimczak 2012: 175). Daneben betont er die Perspektivgebundenheit von Ereignissen und damit auch der Grundordnung. „[E]s liegt in der Natur der Sache, dass, wenn mehr als eine Entität existiert, die Ereignisse indizieren kann, ein und dieselbe Merkmalskombination als ereignishaft und als nicht-ereignishaft eingeschätzt werden kann.“ (Ebd.) Wichtig sei daher, die übergeordnete Grundordnung des Textes zu ermitteln: „Diese kann dabei einer der perspektivischen entsprechen, d. h. alle und ausschließlich Ordnungssätze einer einzigen spezifischen Grundordnung enthalten oder aber eine Kombination von allen oder mehreren perspektivischen Grundordnungen sein.“ (Ebd.: 176)

Im Deutschland der 1990er- und 2000er-Jahre wurden Lotmans Theorien häufig als nicht mehr zeitgemäß bewertet, was Nies in den kulturellen Entwicklungen der 90er-Jahre begründet sieht:

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Einbindung des ehemaligen ‚Ostblocks‘ in globale politische und ökonomische Beziehungen war das jahrzehntelang gültige, Sinn und Ordnung stiftende Koordinatensystem, in dem die konkurrierenden Systeme gedacht werden konnten, obsolet geworden, ohne dass eine neue Orientierung gebende Metatheorie an deren Stelle trat. […] Aber in den Kulturwissenschaften stand seit Postmoderne, Postkolonialismus, Postkommunismus und Postideologie nachvollziehbarer Weise nicht mehr das Unterscheidende, die Differenzbeziehung von kulturellen Systemen und somit der trennende ideologische Aspekt der Grenze, wie ihn der Strukturalismus zu beschreiben bemüht war, im Mittelpunkt diskursiven Interesses. (Nies 2018: 18)

Anstelle der Untersuchung oppositioneller semantischer Räume etablierte sich nun eine Fokussierung auf das Konzept der ‚Vernetzung‘, auf Beziehungsmuster, die nicht länger auf dichotomen Kategorien beruhen, sondern grenzüberschreitend und sogar -tilgend agieren (vgl. ebd.: 20). Gerade in den postcolonial studies wurde das Grenzkonstrukt zunehmend kritisiert, da Grenzen „Ordnungen einschreiben, die stets Ordnungen der Mächtigen sind: Grenzziehungen sind damit als herrschaftliche Gebärden aufgefasst, sie grenzen aus oder ein und müssen so – zu Recht – per se als diskriminatorische Akte gelten.“ (Ebd.) (Kulturwissenschaftliche Xenologie)

Nies schlägt eine Systematisierung vor, nach der die folgenden vier Aspekte unterschieden werden können, um Phänomene ästhetischer Räume und Grenzen zu kategorisieren: (1) der topografisch-geografische Aspekt, (2) der konzeptionell-semantische Aspekt, (3) der perzeptive Aspekt sowie (4) der narrative Aspekt (vgl. ebd.: 61–64). Ersteres meint den real-physischen Raum der dargestellten Welt, bei einer Grenzüberschreitung findet hier kein Ereignis im Sinne Lotmans statt (vgl. ebd.: 61). Untersucht man den konzeptionell-semantischen Aspekt, so widmet man sich der Semantisierung von Räumen, die mit Bedeutung aufgeladen sind, sodass deren Grenze zwei oppositionelle Teilräume im Sinne Lotmans schafft (vgl. ebd.: 61 f.). Unter dem perzeptiven Aspekt fasst Nies die Raumerfahrung eines dargestellten Subjekts; der narrative Aspekt untersucht die Handlungsfunktionen von Räumen (vgl. ebd.: 62 f.).

Koschorke wiederum widerspricht der Auffassung einer Überholtheit Lotmans und betont hierzu vier Merkmale, „die eine Wiederanknüpfung an Lotmans Modell der kulturellen Semiosphäre lohnend machen“ (Koschorke 2012: 120): Zunächst lobt er den Fokus auf die „Interdependenz zwischen Zentrum und Peripherie“, wobei vor allem der Peripherie eine große Bedeutung zugeschrieben wird. Somit erweist sich die Theorie als anschlussfähig an die postcolonial studies, da sie eine „gute Handhabe zur Erklärung der Synkretismen, die sich an den Rändern von hegemonialen Semantiken, zumal von Glaubenssystemen bilden“ (ebd.: 121), bietet und außerdem zur Beschreibung dezentrierter Sozialordnungen dienen kann. Als zweiten Grund für Lotmans Aktualität hebt Korschoke das zugrundeliegende Kommunikationsmodell hervor, welches nicht von einer Übereinstimmung des Codes von Sender und Empfänger ausgeht, sondern gerade Nicht- und Missverstehen als zentral erachtet (vgl. ebd. 122). Auf dieser Basis kann untersucht werden, „in welcher Weise Zentren einer (tendenziell mit hegemonialem Anspruch versehenen) Hochsemantik einerseits, Räume der Dislozierung oder sogar Destabilisierung von Sinn andererseits miteinander interferieren.“ (Ebd.) Der dritte Vorzug der Lotman’schen Theorie ergibt sich aus der Regelung, dass sowohl Codebildung als auch -tilgung notwendige Prozesse des Modells sind und die Übersetzung als zentrale Praktik gilt. Hiermit bildet eine ‚Unbestimmtheit‘ die Grundvoraussetzung für kulturelle Kommunikation – ein „Rest, der nicht ,aufgeht‘, der mehrdeutig oder vage bleibt.“ (Ebd.: 125) Bei einer Untersuchung ebenjener Unbestimmtheit treten „nicht die offiziellen Manifestationen einer Kultur hervor, sondern die Spielräume des Informellen, der schwachen und dispersen Kausalitäten“ (ebd.). Als letztes Merkmal nennt Koschorke die Parallelen zwischen Lotmans Semiosphären-Modell und der Raumgrammatik zeitgenössischer Machttheorien (vgl. ebd.), welche sich erstens im Anti-Intentionalismus (vgl. ebd.: 127), zweitens in der Beachtung von Neuerungen, die durch die Überschneidung von Codes entstehen (vgl. ebd.: 128), und drittens im zyklischen Austausch zwischen Zentrum und Peripherie (vgl. ebd.) abzeichnen. Koschorke fasst zusammen, dass Lotman „die Umrisse einer Theorie [bietet], die literatur-, kultur- und sozialtheoretische Ansätze miteinander verbindet“ (ebd.) und fordert eine Weiterentwicklung (vgl. ebd.: 129). Hierfür schlägt er eine Pluralisierung vor, mit mehreren Zentren samt Peripherien, „so dass zahllose Gravitationsfelder entstehen, die entweder voneinander isoliert bleiben oder in Wechselwirkung treten, sich beeinflussen und durchdringen.“ (Ebd.: 132)

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1   Andere prominente Zugänge, die der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Raum zuträglich sind, liegen bekanntlich mit Bachtins ‚Chronotopos‘ oder Foucaults ‚Heterotopien‘ vor (vgl. Michail M. Bachtin [2008] Foucault [2006]).

2   Und später in seinem Abschlusswerk Die Innenwelt des Denkens (2010).

3   „Wenn Lotman Übersetzungen thematisiert, geht es daher nie nur um die Übersetzung von einer natürlichen Sprache in eine andere, sondern um das Verhältnis verschiedener Codes zueinander in ihrer Fähigkeit, textexterne Strukturen wiederzugeben.“ (Illing 2017: 555)

4   „[…] z. B. bei der Ausbreitung der Jeans. Einst Berufskleidung für Arbeiter, wurde sie von dem Teil der Jugend entdeckt, der die Kultur des Zentrums ablehnte, ‚breitete sich dann in der gesamten Kultursphäre aus und wurde zu einem neutralen, d. h. ‚allgemeinen‘ Kleidungsstück‘“ (Illing 2017: S. 554).

5   Im Folgenden WF.


Literarische Texte

Mann, Thomas (2004): „Der Weg zum Friedhof“. In: Ders.: Frühe Erzählungen. 1893 – 1912. Hg. v. Terence J. Reed (= Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 2.1). Frankfurt a. M., S. 211–221.

Forschungsliteratur

Ajouri, Philip (2009): Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Berlin.

Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Hamburg.

Bachtin, Michail M. (2008): Chronotopos. Frankfurt a. M.

Blödorn, Andreas (2015), „Sterben und Tod“. In: Andreas Blödorn u. Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 340–344.

Decker, Jan-Oliver (2017): „Medienwandel“. In: Hans Krah u. Michael Titzmann: Medien und Kommunikation. Passau, S. 423–446.

Döring, Jörg u. Tristan Thielmann (2008): „Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen“. In: Dies. (Hg.): Spatial Turn: das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld, S. 7–45.

Dennerlein, Katrin (2009): Narratologie des Raumes (= Narratologia 22). Berlin/New York.

Dünne, Jörg u. Stephan Günzel (2018): „Vorwort“. In: Dies. u. a. (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. 6. Aufl. Frankfurt a. M., S. 9–15.

Foucault, Michel (2006): „Von anderen Räumen“. In: Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M., S. 317–329.

Frank, Susi K. (2012): „Jurij Lotman, Der semiotische Raum.“ In: Claus Leggewie u. a. (Hg.): Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften (= Edition Kulturwissenschaft 7). Bielefeld, S. 69–72.

Hauschild, Christiane (2009): „Jurij Lotman: Zum künstlerischen Raum und zum Problem des Sujets“. In: Wolf Schmid (Hg.): Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen (= Narratologia 16). Berlin/New York, S. 261–289.

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Klimczak, Peter (2012): „Ereignis und Perspektive. Die Lotman-Rennersche Grenzüberschreitungstheorie bei multiperspektivischen Medientexten“. In: Simon Frisch u. Tim Raupach (Hg.): Revisionen – Relektüren – Perspektiven (= Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium 23). Marburg, S. 157–173.

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Lotman, Jurij M. (1993 [1972]): Die Struktur literarischer Texte. 4. Aufl. München.

Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens. Hg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe u. Alexander Schmitz. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold u. Olga Radetzkaja. Frankfurt a. M.

Nies, Martin (2018): „B/Orders – Schwellen – Horizonte“. In: Ders. (Hg.): Raumsemiotik. Räume – Grenzen – Identitäten. O. O., S. 13–72.

Renner, Karl N. (1987): „Zu den Brennpunkten des Geschehens. Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie: Die Extrempunktregel“. In: Ludwig Bauer, Elfriede Ledig u. Michael Schaudig (Hg.): Strategien der Filmanalyse. Festschrift für Klaus Kanzog. München, S. 115–130.

Renner, Karl Nikolaus (2004): „Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von Jurij M. Lotman“. In: Gustav Frank u. Wolfgang Lukas (Hg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Festschrift für Michael Titzmann. Passau, S. 357–381.

Schneider, Jens Ole (2015a): „Dekadenz“. In: Andreas Blödorn u. Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 289 f.

Schneider, Wolfgang (2015b): „Humanität und Lebensfreundlichkeit“. In: Andreas Blödorn u. Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 304 f.

Schonlau, Anja (2015): „Körper, Gesundheit/Krankheit“. In: Andreas Blödorn u. Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 314 f.

Virtuelle Zentrum für kultursemiotische Forschung (VZKF) (o. J.): Sektion Raum / Kultur in der KWG. https://www.kultursemiotik.com/netzwerk/sektion-raumkultur-in-der-kwg/ (19.06.2021)