Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen

Michael Boch, David Langebröker

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Erinnerung und Gedächtnis

Ein sinnhaftes Verständnis von ‚Kultur‘ zu entwickeln, ist ohne eine konkrete Bezugnahme auf vergangene Erfahrungen und Ereignisse, also ein Rückgreifen auf Erinnerungen, kaum vorstellbar. Der Prozess des Erinnerns durch das Individuum transzendiert dabei

die biologische Ausstattung des Menschen und macht Erinnerung als etwas kenntlich, das auf die gleiche Weise wie Kultur der direkten Befriedigung von Bedürfnissen der Natur entgegengesetzt ist und neben der Sphäre des augenblicklich Notwendigen einen Möglichkeitsraum des nicht aktuellen, aber mental, rituell oder medial Aktualisierbaren eröffnet. (Pethes 2012: 292)

Unter dieser Prämisse kann ‚Erinnerung‘ mithin auch als Synonym oder zumindest als zentrale Metonymie von ‚Kultur‘ begriffen werden,

und das nicht nur in dem Sinne, dass Kultur als Schatz vergangener Erfahrungen, Leistungen und Institutionen mit Erinnerung identifiziert würde, sondern insofern Erinnern eine ebensolche Operation des Selegierens und Vergleichens – sei es von Vergangenem und Gegenwärtigem, sei es von synchronen Optionen der Wertung und Grenzziehung – ist, wie kulturelles Handeln an sich. (Ebd.: 292)

Das Gedächtnis, das mittlerweile zu einem Leitbegriff kulturwissenschaftlicher Neuorientierung geworden ist, wird als Forschungsgegenstand dabei von ganz unterschiedlichen Disziplinen ins Visier genommen, wie beispielsweise der Neurologie, der Psychologie und Psychoanalyse, der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft, sowie der Kunst- und Literaturwissenschaft. Jede Disziplin hat dabei zwar ihre eigene Herangehensweise an den Forschungsgegenstand, das stete Einfügen neuer Mosaiksteine aus unterschiedlichen Händen in das Gesamtbild macht die Gedächtnisforschung jedoch konsequenterweise zu einem transdisziplinären Prozess (vgl. Assmann 2017: 181).

In diesem kontextuellen Rahmen gilt es vor allem zunächst, jene zwei bereits genannten zentralen Begriffe ‚Erinnerung‘ und ‚Gedächtnis‘ definitorisch voneinander zu unterscheiden. Obgleich beide Begriffe besonders auch in der deutschen Sprache häufig synonym verwendet werden, steht ‚Erinnerung‘ „in der Regel für die Tätigkeit des Zurückblickens auf vergangene Ereignisse, ‚Gedächtnis‘ hingegen für die Voraussetzung dieser Tätigkeit, verankert im biologischen Organ des Gehirns und dem neuronalen Netzwerk.“ (Ebd.: 182)

Das soziale Gedächtnis

In ihrem gemeinsam verfassten Text Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis (1994) weisen Aleida und Jan Assmann gleich zu Beginn auf einen wesentlichen Aspekt hin: „Das Gedächtnis entsteht nicht nur in, sondern vor allem zwischen den Menschen.“ (Assmann/ Assmann 1994: 114) Es existiere demnach nicht nur auf individueller sondern auch auf kollektiver Ebene. Das Gedächtnis sei also neben seiner Funktion als neuronales und psychisches Phänomen ebenfalls und in besonderem Maße ein soziales, weswegen die Assmanns auch vom ‚sozialen Gedächtnis‘ sprechen. Sie bauen nach eigener Aussage ihren Text auf der Gedächtnistheorie des französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs (1877–1945) auf, und entwickeln darauf fußend „eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die den kulturellen Aspekt der Gedächtnisbildung in den Vordergrund stellt und nach den Medien und Institutionen fragt, die dieses ‚Zwischen‘ organisieren.“ (Ebd.: 114) Die zentrale These der von Maurice Halbwachs entwickelten Gedächtnistheorie lautet: „Es gibt kein Gedächtnis, dass nicht sozial ist.“ (Ebd.: 115) Folgt man dem Ansatz von Halbwachs, könnte – hypothetisch gesehen – ein vollkommen einsamer Mensch also gar keine Erinnerung ausbilden.

Die Entstehung eines im kulturellen Sinne als ‚sozial‘ bezeichneten Gedächtnisses kann im Übrigen laut wissenschaftlicher Definition immer dort beobachtet werden,

wo bestimmte Ereignisse von einer Gemeinschaft als dauerhaft bewahrenswert eingestuft und entsprechende Verfahren zu ihrer Sicherung festgelegt werden. Die Einspeisung solcher Daten in schriftliche, bildliche oder digital codierte Medien ist dabei bereits als Spätphase der Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses zu betrachten: Lange vor den medialen Möglichkeiten der Neuzeit haben Gemeinschaften durch Riten, Feste und Sakralbauten diejenige Vergangenheit definiert, aus der sie ihre Identität ableiten wollten. (Pethes 2012: 293)

Die Assmanns begreifen Kultur in diesem Zusammenhang als den „historisch veränderliche[n] Zusammenhang von Kommunikation, Gedächtnis und Medien“ (Assmann/ Assmann 1994: 114) und weisen ihr zwei wesentliche Aufgaben zu: Koordination und Kontinuierung. Die Koordination steht in diesem Kontext für „die Ermöglichung von Kommunikation durch Herstellung von Gleichzeitigkeit“ (ebd.). Als Voraussetzung dafür sehen sie neben der Ausbildung symbolischer Zeichensysteme auch die damit verbundene technische und begriffliche Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt als Begegnungs- und Verständigungsraum für die an der entsprechenden Kultur Teilnehmenden. Die Kontinuität hingegen ermögliche die Überführung aus der ‚synchronen‘ in die ‚diachrone‘ Dimension. Die Kultur gewährleiste demnach in einem bestimmten Rahmen nämlich nicht nur eine einigermaßen zuverlässige Verständigung zwischen den verschiedenen Menschen und damit auch ein koordiniertes Zusammenleben, sie sei auch die Grundlage für den positiven Umstand, dass die von jedem Individuum und jeder Generation erlernten sozio-kulturellen Fähigkeiten nicht immer wieder aufs Neue ausgearbeitet werden müssen.

Dem Gedächtnis, das die Assmanns als „das Organ der Diachronie, der Ermöglichung von Ausdehnung in der Zeit“ (ebd.: 115) bezeichnen und definieren, kommen innerhalb dieses Ansatzes wiederum zwei verschiedene Funktionen zu: Speicherung und Wiederherstellung. Dabei sichere die tiefenstrukturelle Speicherung bestimmter kultureller Muster die Wiederholbarkeit manifestierter Handlungen, wodurch Kultur im Sinne einer bruchlosen Kontinuierung der symbolischen Sinneswelt, der Handlungsweisen und Gestaltgebungen reproduktionsfähig gemacht werde. Die Rekonstruktion hingegen setze einen Kontinuitätsbruch voraus, der eine klare Trennung zwischen dem Gestern und dem Heute ermögliche. Dadurch erst komme überhaupt „jener Vergangenheitsbezug ins Spiel, der für unser landläufiges Verständnis von Erinnerung bestimmend ist“ (ebd.).

Der Wandel der Medien und der sozialen Gedächtnisstrukturen

Die Entwicklung der unterschiedlichen Medien und der damit einhergehende Übergang von der Oralität zur Literalität spielen bei der Erhaltung und Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses eine entscheidende Rolle. In rein mündlich organisierten Stammesgesellschaften seien etwa nur solche Informationen tradiert worden die wirklich gebraucht wurden. Durch den Einsatz schriftlicher Medien und besonders auch durch die Erfindung des Internets habe sich das Gleichgewicht bezüglich der Erhaltung und Weitergabe kulturell relevanter Informationen mittlerweile jedoch deutlich verschoben (vgl. ebd.: 130). Die Fortschritte in der Digitalisierung haben bereits gravierende Veränderungen in Bezug auf jahrtausendealte Praktiken zur Erhaltung und Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses hervorgebracht. Durch den Einsatz von Bildschirmen und modernen Textverarbeitungsprogrammen

kann geschrieben werden, ohne dabei bleibend zu fixieren. Damit entwickelt das Medium eine neue Flüchtigkeit und Flüssigkeit; die zeitliche Dimension gewinnt wie einst in der Ära der Mündlichkeit wieder Vorrang vor der räumlichen Dimension. Die Endgültigkeit des Geschriebenen weicht – zumindest tendenziell – einer Dynamisierung des Textes als ‚Prozeßform‘ […]. (Ebd.: 138)

Die allgemeinste Beschreibung der sich daraus ergebenden Konsequenzen sei dabei jene, dass weitaus mehr gespeichert als aktualisiert werden könne und gebraucht werde; ein Umstand, der folglich den Wert der jeweiligen Informationen bisweilen massiv beeinflussen kann (vgl. ebd.: 122).

Die Erfindung der Schrift brachte generell erstmals die Möglichkeit der Auslagerung des kulturellen Gedächtnisses in gegenständige Träger hervor. Durch diese tiefgreifende Revolutionierung „rückt die Überlieferung aus den lebendigen Trägern und den aktuellen Aufführungen ins Zwischenreich der abstrakten Zeichen, wo sie als Text eine neue dingliche Existenzform begründet“ (ebd.: 134). Außerdem ermögliche die schriftliche Fixierung von Informationen eine ‚Ferne-Kommunikation‘, also eine Weitergabe von Wissen an die Nachwelt, ohne die jetzige Welt unmittelbar in den Kommunikationsprozess miteinbeziehen zu müssen, geschweige denn, bei der Weitergabe von ihrem Werturteil abhängig zu sein (vgl. ebd.: 132). Eine dauerhafte Reduzierung des kulturellen Gedächtnisses auf eine rein schriftliche Überlieferung bringe aus Sicht der Assmanns allerdings auch nicht zu unterschätzende Nebenwirkungen mit sich. Das identitätssichernde Wissen sei in diesem Fall nämlich

nicht nur von den lebendigen, autoritativen Trägern, den weisen Alten, sondern auch von den Situationen der festlichen, rituellen Kommunikation getrennt. Es wird verfügbar für andere und zugänglich außerhalb der Riten. Anstelle der Riten nimmt es die Form des Textes an. Als Text tritt es in neue Kommunikationssituationen ein. Die in Texten gespeicherten Informationen besitzen andere Aktualisierungsmöglichkeiten als rituelle oder informelle Inszenierung. Sie sind paraphrasierbar, summierbar, kritisierbar, und vor allem interpretierbar. Durch Interpretationen werden Überlieferungen historisch entwicklungsfähig. (Ebd.: 135)

Während für die Oralkultur eine Gedächtnisgestütztheit gelte, sei für die Sprachkultur eine Sprachgestütztheit evident. Beide Rahmenbedingungen kommen im elektronischen Zeitalter zwar nicht außer Gebrauch, verlieren aber „ihre Kulturprägende Dominanz.“ (ebd.: 139) Durch diesen Umstand verliere zudem die elektronische Kultur ihre älteren anthropomorphen und anthropozentrischen Konturen. Die Medien und Institutionen steuern und organisieren mittlerweile die Zirkulation von Informationen in einem weit höheren Maße als jemals zuvor. Der Zugang zum gespeicherten Wissen werde in Bezug auf seine mediale Verfügbarkeit dezentraler, sodass die Tendenz dahin gehe, dass die Kommunikationsgesellschaft durch die Medien und nicht umgekehrt strukturiert werde (vgl. ebd.: 139).

Unter den institutionalisierten Wissenschaften nimmt die historische Wissenschaft bezüglich der Aufgabe der „kulturnotwendigen Erhaltung des Gesterns im Heute“ (ebd.) die wohl prominenstete Position ein. Allerdings spielt in dem Kommunikationsprozess der Gesellschaft die Literatur eine ebenso, wenngleich auch anders gelagerte Rolle im Zusammenhang mit der Erhaltung und Aufarbeitung des ‚Gestern‘: „Wo die Historiker als Funktionäre einer offiziellen Memorialpolitik in Dienst genommen werden, geht der Erinnerungs-Auftrag an die Literatur über.“ (Ebd.) Die Assmanns verweisen diesbezüglich auf konkrete Beispiele aus der Literatur, wie etwa auf das einflussreiche historisch-literarische Werk Der Archipel Gulag (1966) des russischen Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn, in dem Erinnerungsarbeiten vorweggenommen worden seien, die erst jetzt von Historikerinnen und Historikern wieder aufgenommen werden können (vgl. ebd.). Die Verbindung zwischen erinnernden Kommunikationsgemeinschaften und ihren Speichermedien stellt sich also höchst komplex und besonders auch bilateral dar. Einerseits wirkt das textlich fixierte Medium auf den Erinnerungsprozess der Gesellschaft ein, andererseits kann sich der aktuelle Stand bzw. können sich bestimmte Standpunkte im Rahmen des Erinnerungsprozesses der Kommunikationsgesellschaften in verschiedensten Medien manifestieren. Texte tragen somit maßgeblich zur kollektiven Identitätsbildung bzw. -veränderung bei.

Die besondere Bedeutung der textlich verfassten Medien im Zusammenhang mit dem kulturellen Gedächtnis betont Astrid Erll in ihrem thematischen Einführungswerk Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen (2011). Mit Erll lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sowie die gegenseitige Beeinflussung von Literatur und kulturellem Gedächtnis aufzeigen. Ausgehend von dem theoretischen Ansatz des deutschen Philosophen Ernst Cassirer (1874–1945) ist die Literatur als Symbolsystem bestimmt, welches sich durch bestimmte Privilegien und Restriktionen hinsichtlich der repräsentativen Verbindung vom Imaginären und Realen auszeichnet (vgl. Erll2 2011: 175 f.). Die ‚Schnittpunkte‘ von Prozessen des kollektiven Gedächtnisses und der literarischen Welterzeugung und Bedeutungsstiftung sind die Verfahren der Verdichtung, der Narration und des Gattungsmusters. Diese werden in der literarischen Welterzeugung und Bedeutungsstiftung und in den Prozessen des kollektiven Gedächtnisses angewendet. Sowohl die Erinnerungsprozesse als auch die Literatur verdichten Informationen durch Repräsentationsprozesse. Literatur und Erinnerung verdichten also komplexe Zusammenhänge durch Semiose (vgl. ebd.: 174 f.). Das kollektive Erinnern wie auch das literarische Erzählen bedürfen eines kontextuellen Zusammenhangs ihres Materials, durch welche die einzelnen Informationen in ihrer ihre Bedeutung bestimmt werden und einen Sinn ergeben. Hierbei verweist Erll auf den paradigmatischen Aspekt der Selektion und den syntagmatischen Prozess der Kombination der zu verdichtenden Elemente und konstatiert: „Die Welt der Kollektivgedächtnisse ist eine Welt der Narrative.“ (ebd.: 175) Unter dem Gattungsmuster versteht Erll die der Erinnerung und der Literatur gemeinsame Angewiesenheit auf Modelle von Entwicklungsverläufen. Diese schon vorliegenden Konzeptionen der möglichen Strukturierung eines Narrativs werden von der kollektiven Erinnerungskultur als ‚kulturelle Paradigmen‘ aufgenommen, „um schwer zu deutende kollektive Erfahrungen durch bekannte Deutungsmuster sinnvoll zu gestalten“ (ebd.: 176), so Erlls These.

Allerdings muss zwischen kulturellem Gedächtnis und Literatur auch unterschieden werden. So hat das moderne Literatursystem das gesellschaftlich akzeptierte Privileg auf die Verbindung von Realem und Imaginärem in der Welterzeugung und Bedeutungsstiftung. In der Literatur ist das Imaginäre als solches markiert und gesellschaftlich akzeptiert, was nicht im gleichen Maße für andere Symbolsysteme und die Erinnerungsprozesse gilt. Dementsprechend unterscheiden sich literarische Vergangenheitsdarstellungen von anderen Vergangenheits-darstellungen durch ihren eingeschränkten Anspruch auf außertextuelle Referenzialität. Andererseits kann Literatur aber durch diesen eingeschränkten Anspruch auf Faktentreue die Diskursvielfalt einer Erinnerungskultur besser modellieren, auch wenn sie keinen Anspruch auf deren adäquate Modellierung erheben kann. Die damit einhergehende Darstellung einer hochkomplexen Gemengelage zeichnet sie vor allen anderen Medien des kollektiven Gedächtnisses aus (vgl. ebd.: 177).

Abschließend klärt Erll die Frage nach dem Zusammenhang von literarischem Text und erinnerungsgeschichtlichem Kontext mithilfe des Mimesismodells, das von dem französischen Philosophen Paul Ricœur (1913–2005) entwickelt wurde. Die drei Darstellungsstufen der literarischen Welterzeugung reformuliert Erll in drei Aspekten der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Hierbei werden, anknüpfend an den Kulturbegriff des tschechisch-deutschen Semiotikers und Linguisten Roland Posner (1942–2020), drei mögliche Relationen genannt: der Bezug auf die materiale, die soziale und die mentale Dimension der Erinnerungskultur. Die Mimesis I, das bedeutet, den Bezug des literarischen Textes zur außertextuellen Welt, übersetzt Erll in das Verhältnis des literarischen Textes als Medium der Vergangenheitsdarstellung mit der Erinnerungskultur. Die mögliche Form des Bezugs bestimmt sie als Intertextualität, Intermedialität und Interdiskursivität. Dabei erfolgt die Aufnahme der außertextuellen in die textuelle Struktur durch Selektion und Konfiguration. Da die Erinnerungskultur häufig narrativ verfasst ist, hat sie schon Selektions- und Konfigurationsprozesse gezeitigt. Somit kann Literatur innerhalb der Erinnerungskultur eine Erinnerungsfunktion erfüllen, wenn sie nicht-selektierte Elemente der Realität in die Narration aufnimmt und gleichzeitig eine Artikulationsfunktion erfüllen, indem sie kollektiv nicht-bewusste Elemente ausdrückt (vgl. ebd.: 181). Die Mimesis II, also die Transformation des Vorgestalteten aus der praktischen Welt in die exemplarische temporale und kausale Anordnung des literarischen Textes, überträgt Erll auf den Prozess der Neu- und Umstrukturierung von Elementen des kollektiven Gedächtnisses in einem exemplarischen Medium. Hierbei kommt es durch die literarische Materialisierung der Elemente des kulturellen Gedächtnisses (vgl. ebd.: 182). Die Mimesis III, also die Vermittlung von literarischem Text und außertextueller Welt im Rezeptionsakt des Textes, übersetzt sie schließlich in die Verbindung von literarischem Text und kulturellem Gedächtnisprozess. Die Bezüglichkeit von Leserin bzw. Leser und Text wird zur Bezüglichkeit zwischen Text und kollektiver Refiguration des zu Erinnernden durch heterogene Interpretationsgemeinschaften innerhalb der Gesellschaft (vgl. ebd.: 183).

Mediales Beispiel zum Themenbereich kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen

Zur Veranschaulichung der Thematik dient an dieser Stelle eine Folge der populären US-amerikanischen Serie South Park aus dem Jahr 2003 mit dem Titel I'M A LITTLE BIT COUNTRY (deutscher Titel: FEHLGEBURTEN EINER NATION). In dieser Folge kommt es in der fiktiven Stadt South Park während des Irakkriegs sowohl zu Pro- als auch zu Anti-Kriegs-Demonstrationen, an denen die Protagonisten Stan, Kyle und Kenny teilnehmen, um nicht zur Schule zu müssen, während Cartman versucht, einen ‚Flashback‘ zu bekommen, um sich auf diesem Weg Klarheit über die Absichten der Gründerväter der USA zu verschaffen.

Der gesellschaftliche Prozess der Erinnerung wird somit anlässlich einer historisch-ikonischen Situation durch verschiedene Interpretationsgemeinschaften anhand einer schwierigen Erfahrungssituation geschildert. Sowohl die Kriegsgegnerinnen und -gegner als auch die Befürworterinnen und Befürworter des Krieges führen die Absicht der Gründungsväter als Autoritätsargument an und werfen sich gegenseitig fehlenden Patriotismus vor. I'M A LITTLE BIT COUNTRY kann als filmischer Text beschrieben werden, der auf mehrfache und komplexe Art Teil einer Erinnerungskultur ist – in besonderem Maße, da er sowohl „gedächtnisproduktiv“ (Erll 2011: 161) und „gedächtnisreflexiv“ (ebd.), als auch literatur- bzw. filmreflexiv und selbstreflexiv ist. Gedächtnisreflexiv ist die Folge, da in der Diegese imaginäre und reale Strategien zur Erinnerung als gleichberechtigt inszeniert werden. So wird Cartmans zum populärkulturellen Kanon gehörender ‚Flashback‘ als gleichberechtigt mit der Recherche von Kenny, Kyle und Stan erzählt, obwohl der Flashback in der histoire genauso unwahrscheinlich wirkt wie in der Realität (vgl. 00:04:13; 00:06:15; 00:08:12). Gleichzeitig ist die Folge auch Teil der Erinnerungskultur, da sie als Medium der Erinnerung an die Situation des Irakkrieges und auch an die Verabschiedung der Unabhängigkeitserklärung in literarischer Form erinnert. Ebenso wird die Rezeption literarischer Formate innerhalb der Erinnerungskultur kommentierend dargestellt. So sind Rock ’n’ Roll und Country-Musik eindeutig politisch semantisiert. Diese Verknüpfung von bestimmten Musikgenres mit einer jeweiligen politischen Haltung wird dargestellt, indem im Verlauf der Demonstration die politische Haltung der Demonstrierenden durch eine musikrezipierende Haltung ersetzt wird (vgl. 00:15:58). Dies geschieht in satirischer Weise, sodass der Streit letztendlich durch Einigung auf den Patriotismus als gemeinsame Basis beigelegt wird (vgl. 00:20:23). Damit ist sie also nicht nur deskriptiver Teil der Erinnerungskultur, sondern gleichzeitig Teil der öffentlichen Diskussion über den Irakkrieg. Schlussendlich ist die Folge auch in besonderer Weise selbstreflexiv, indem am Ende der Diegese die 100. Folge von South Park gefeiert wird (vgl. 00:21:20), sodass aus erzählperspektivischer Sicht die ‚vierte Wand‘ durchbrochen wird. Dieser Bruch wird dann aber wieder relativiert, indem Kyle über die Stadt und damit in gewisser Weise über die ganze USA (welche durch die fiktive Stadt South Park auf satirische Art repräsentiert werden) im Kontext ihrer Erinnerungskultur urteilt: „Ich hasse diese Stadt!“ (00:21:29) I'M A LITTLE BIT COUNTRY zeigt also exemplarisch die Erinnerungs- und Artikulationsfunktion des filmischen Textes als Medium der Erinnerungskultur in besonders anschaulicher Weise auf.

Fazit

Die Theorien der Assmanns bezüglich des Zusammenhangs von Kultur, Gedächtnis und Erinnerung, auf die auch Erll in ihren Ausführungen größtenteils Bezug nimmt, zählen zu den elaboriertesten und einflussreichsten in jenem Forschungsfeld, haben aber auch kritische Stimmen hervorgerufen, „die gegen die generelle Festlegung von Kulturen auf Aufbewahrungstechniken und Identitätskonstruktionen die Relevanz von Differenzierungs- und Löschungsprozessen und also des kulturellen Vergessens […] einklagen.“ (Pethes 2012: 293) Mit dem Übergang ins 19. Jahrhundert lässt sich ein Autoritätsverlust „des Topos von der Geschichte als Vorbild und Lehrmeisterin des Lebens“ (ebd.: 293) beobachten. Dieser macht sich besonders an dem Umstand bemerkbar, dass die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichenden Auswirkungen globaler Kriege, Genozide und Gewaltherrschaft kaum noch positive Bezugspunkte für kollektive Erinnerung zulassen, was konsequenterweise die Vorstellung einer kulturellen Kontinuität des hellenisch-jüdisch-christlichen Abendlandes grundsätzlich in Frage stellt. Zudem sorgen im 21. Jahrhundert neben postnationalen globalen Diskursen dezentrale digitale Netzwerke in zahlreichen Fällen für eine Verunsicherung einer als linear und einheitlich konzipierten Vorstellung von einer kulturellen Erinnerung (vgl. ebd.). So bewirken beispielsweise die sogenannten sozialen Medien in der Praxis häufig das Gegenteil von dem, was sie ihrem Namen nach ursprünglich leisten sollten.

Der Zusammenhang von Medium und Kommunikationsgesellschaft wird also mit der Zeit stetig komplexer – was auch die South Park-Folge I'M A LITTLE BIT COUNTRY als mediales Beispiel anschaulich aufzeigt – und hat durch das Internet eine ganz neue Sphäre hinzugewonnen. Vor diesem Hintergrund muss eine Kulturwissenschaft mit Bezug auf literarische Texte die verschiedenen Arten von Medien, Zeichensysteme und gesellschaftliche Lebens- und Kommunikationsgemeinschaften unterscheiden, die sich zunehmend vom Analogen hin zum Digitalen entwickeln, aber selbst stets in der Lebenswelt verwurzelt bleiben. Die multimediale Vielfalt der gegenwärtigen Erinnerungskultur muss dementsprechend einerseits mit einem kontextsensiblen Textbegriff adäquat analysierbar sein. Andererseits muss mit einem weiten Medienbegriff auf die spezifische materielle Verfasstheit der kulturellen Speichermedien eingegangen werden können. Für die Literatur gilt dies natürlich in besonderem Maße. Mit Erll lässt sich dabei durchaus feinkörnig zwischen Literatur als Teil der Erinnerungskultur und der Gedächtnisprozesse dieser Erinnerungskultur differenzieren. Die Übertragung der Mimesistheorie auf den Phänomenbereich der Erinnerungskultur reflektiert zugleich die methodologischen Grenzen einer Analyse der vorausgesetzten, aber nicht direkt zu analysierenden Wechselwirkung von Literatur und kollektiven Gedächtnisprozessen und den Interpretations-gemeinschaften. Ergänzungsbedürftig erscheint dagegen die Reflexion der unterschiedlichen Medialität der literarischen Texte, die zwar typologisiert, aber von Erll nicht systematisiert wird und damit unvollständig bleibt; gerade in Bezug auf die enorme Entwicklung des Internets und dem damit verbundenen Medienwandel der letzten zehn Jahre.


Filme/Serien

I'M A LITTLE BIT COUNTRY (FEHLGEBURT EINER NATION, South Park, Staffel 7, Folge 4, USA 2003, Trey Parker, https://www.southpark.de/en/episodes/zyprl7/ south-park-i-m-a-little-bit-country-season-7-ep-4 (27.01.2022)).

Forschungsliteratur

Assmann, Aleida (2017): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. (= Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27). 4. Aufl. Berlin.

Assmann, Aleida u. Jan Assmann (1994): „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis“. In: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt u. Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen, S. 114–140.

Erll, Astrid (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2. Aufl. Stuttgart.

Pethes, Nicolas (2012): „Erinnerung“. In: Handbuch Kulturphilosophie. Hg. v. R. Konersmann. Stuttgart, S. 292–298.