Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft

Lea Rahel Groppe

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Theorien: Zum Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft

Für das Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft ist ein Charakteristikum der Literaturwissenschaft zentral: Sie nimmt „immer neue Selbstentwürfe und historisch unterschiedliche Ausgriffe in andere Disziplinbereiche“ (Voßkamp 2008: 73) vor. Auch der Bereich der Kulturwissenschaften bleibt davon nicht unberührt. Dieses Vorgehen (bzw. die Notwendigkeit) begründet sich in dem Gegenstand der Literatur- bzw. Textwissenschaft, den Texten, da diese stets historisch-kulturell eingebunden sind (vgl. ebd.). Das prägt die Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft von Beginn an und führt zu einer permanenten „Verhältnisbestimmung von Literatur- und Kulturwissenschaft“ (Graevenitz 1999: 95) über die Jahrhunderte hinweg – bis heute.

Kritische Stimmen dieses Wissenschaftsdiskurses fürchten, die Literaturwissenschaft könne durch die breiter angelegten Kulturwissenschaften obsolet werden. Wie auch Tilmann Köppe und Simone Winko (vgl. Köppe u. Winko 2007: 363), greift Aleida Assmann die Sorge um die Legitimität der Literaturwissenschaft auf, sieht diese jedoch nicht bedroht:

Der Literaturwissenschaft kommt ihr Gegenstand […] keineswegs abhanden; zwar ist der Text nur noch eine Erscheinungsform kulturellen Sinns unter anderen, dafür ist er aber eher noch prägnanter geworden durch ein neues Bewusstsein für seine spezifische Medialität. (Assmann 2007: 463)

Auch Ursula Kocher und Carolin Krehl sehen keine Konkurrenz, sondern eine Bereicherung der Literatur- durch die Kulturwissenschaft, da sie durch ihre umfassenden Möglichkeiten neue Erkenntnisse für die literaturwissenschaftliche Forschung bereitstellt: „Damit ist die Literaturwissenschaft ein Teil der Kulturwissenschaft und umgekehrt.“ (Kocher u. Krehl 2008: 68)

Das Hauptziel bei der Anwendung kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Literaturwissenschaft ist also grob formuliert ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn. Spezifischer formulieren Köppe und Winko drei Ziele in diesem Zusammenhang: 1) „Aufzeigen von Beziehungen zwischen Texten und kulturellen Phänomenen verschiedener Art [;] 2) Aufzeigen der unter 1) genannten Beziehungen und Aufdecken von Machtverhältnissen, die die Texte verschleiern.“ (Köppe u. Winko 2007: 366) 3) Ergänzung der ersten Punkte um die „tiefenpsychologische Modellierung ihrer Unumgehbarkeit“ (ebd.). Für den Zusammenhang des hier gewählten Wissenschaftsdiskurses ist der erste der genannten Punkte zentral.

Hierfür sind zunächst die für diesen Diskurs zentralen Begriffe zu verhandeln: Literatur und Kultur. Beiden ist gemein, dass sie eine „Reflexionsinstanz […] als semantisches und vor allem performatives Archiv, als Organon des Wissens um die Wirklichkeit symbolischer Welterzeugung“ (Steiner 1997: 33) sind.

Doch die Kulturbegriffe/-konzepte in der Literaturwissenschaft sind vielfältig, sie unterscheiden sich je nach theoretischer Strömung und sind mal weiter, mal enger gefasst. Eine sehr weite und allgemeine Kulturdefinition führt etwa Assmann an: „In diesem Sinne ist Kultur alles, was im Zusammenleben von Menschen der Fall ist.“ (Assmann 2007: 462) Zwar stellt sie auch die Problematik dieser Auffassung fest, die darin besteht, dass der Begriff an Bedeutung verlieren könne, gleichwohl betont sie dessen Nutzen: „Wenn alles Kultur ist, dann besteht der positive methodische Ertrag dieser neuen Perspektive darin, dass alle Bereiche menschlichen Lebens und Erfahrens der Gegenstand kultureller Forschung werden können“ (ebd.).  Das schließt Literatur als menschengemacht in den Gegenstandsbereich kultureller Forschung ein.

Ähnlich, aber bereits stärker eingegrenzt, ist Wilhelm Voßkamps Auffassung von Kultur „als vom Menschen geschaffene Arbeits- und Lebensformen und ihrer Selbstdeutung in stets reflektierten Symbolisierungen“ (Voßkamp 2008: 73). Er hebt auf den produktiven und selbstreflexiven Aspekt ab, womit er zugleich die Besonderheit von Literatur beschreibt.

Für die Abgrenzung verschiedener Kulturen zueinander ist schließlich Michael Titzmanns Kulturbegriff hilfreich, der die anderen Definitionen um eine raumzeitliche und performative Komponente ergänzt. Er definiert Kultur als „jedes raumzeitliche System […], dessen Praktiken des Denkens und des Redens in diesem Raum und zu dieser Zeit eine relative Konstanz ihrer fundamentalen Prämissen aufweisen“ (Titzmann 1989: 47). Für die Literaturwissenschaft und -geschichte (und somit für diesen Beitrag) ist dieser Kulturbegriff besonders interessant, da so (Literatur-)Epochen als eigene Kulturen eingeordnet werden können (vgl. ebd.).

Ähnlich pragmatisch wie sein Kulturbegriff ist auch Titzmanns Definition von Literatur: „[S]ie sei aufgefaßt als die Menge aller Texte, die die Kultur für Literatur hält, und aller Texte, die dieselben Strukturen aufweisen wie jene, die die Kultur für Literatur hält“ (ebd.: 57). Dieser Aspekt scheint auch bei Assmanns Unterscheidung von kulturellen und literarischen Texten durch, da hier ebenfalls das Rezeptionsverhalten eine entscheidende Rolle spielt. Assmann postuliert, dass bei literarischen Texten eine Haltung ästhetischer Distanz eingenommen werde, was heißt: Literatur werde nicht für das ‚wahre Leben‘ gehalten (vgl. Assmann 1995: 241). Kulturellen Texten hingegen werde eine anhaltende Aktualität und zeitlose Wahrheit zugeschrieben und es finde eine Identitätsbildung mit und durch den Text statt (vgl. ebd.: 241 f.). Zentral ist zudem der Identitätsbezug, der bei literarischen Texten auf das Individuum als autonomes Subjekt und bei kulturellen Texten auf Repräsentanten des Kollektivs bezogen sei (vgl. ebd.: 241). Allerdings gäbe es zwischen kulturellen und literarischen Texten eine Schnittmenge, da literarische Texte in den Status eines kulturellen Texts ‚erhoben‘ werden können.

Um diese Schnittmenge zu finden, ist eine Betrachtung von literarischen Texten interessant, die wie kulturelle Texte rezipiert wurden. Ein prominentes Beispiel dafür ist Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774). Der sogenannte Werther-Effekt kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass sich zeitgenössische Rezipierende so stark mit Werther identifizierten, dass sie sich aus dem Modus der ästhetischen Distanz heraus begaben und stattdessen die literarische Wahrheit auf die eigene Lebenswirklichkeit übertrugen: Sie begannen, sich wie Werther zu kleiden, zu sprechen und in extremen Fällen sogar Suizid zu begehen. Das ist natürlich ein Extrembeispiel. Gemäßigter und dennoch nicht weniger relevant ist die im Folgenden behandelte Prometheus-Hymne von Goethe.

Zugriffe: Prometheus als kultureller Schlüsseltext

Prometheus ist „vermutlich nach dem Oktober 1773“ (Selbmann 2017: 537) in der literaturgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Periode (vgl. Luserke-Jaqui 2017: 1) des Sturm und Drang entstanden, in der Goethe maßgeblich tätig war. Folgt man Titzmanns Kulturbegriff, so kann ebendiese Epoche als kultureller Kontext des Textes festgelegt werden. Anhand der Hymne lässt sich durch ihren Status als „Schlüsseltext des Sturm und Drang“ (Jürgensen u. Irsigler 2010: 49) die Wechselwirkung zwischen kulturellen und literarischen Diskursen aufzeigen: „Das Gedicht drückt Auflehnung und Revolution, Leidenschaft, Kraft und Genialität aus, also sowohl das Lebensgefühl als auch zentrale ästhetische Positionen der ‚Jungen Wilden‘.“ (Ebd.: 45) Es zeigt sich, dass die zentralen Aspekte der Epoche nicht nur den literarischen Diskurs prägen, sondern auch Teil der Lebenswelt und somit Kultur dieser Zeit sind bzw. mit diesen in einem Wechselverhältnis stehen.

Die hier angesprochene Auflehnung bezieht sich insbesondere auf das aufklärerische Literaturverständnis und Menschenbild (vgl. ebd.: 47 u. Willems 2004: 1). Standen in der Aufklärung Verstand und Rationalität als Leitkategorien fest, wird im Sturm und Drang die Emotionalität wiederentdeckt und das Herz zum wichtigsten Organ des Menschen erhoben. In Prometheus wird dies in der letzten Strophe verdeutlicht: „Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich“ (Goethe 1961: 321, V. 53-55). Emotionen werden hier als Charakteristikum des Menschen gesetzt, nicht etwa die Verstandestätigkeit.

Auf stilistischer Ebene erteilt Goethe den strengen Regelpoetiken der Vorgängerepochen eine Absage: „Der junge Goethe macht das, worauf er Lust hat, er beugt sich keinen normativen Vorgaben, sondern jedes Gedicht trägt im Sinne der Originalpoesie seine poetische Norm in sich selbst.“ (Jürgensen u. Irsigler 2010: 40). So verfügt auch Prometheus über kein regelmäßiges Metrum oder Reimschema.

An die Stelle der Regelpoetik tritt die Genieästhetik bzw. Originalpoesie, die für den Sturm und Drang typisch ist. Sie manifestiert sich in der Figur Prometheus, der zugleich der Sprecher der Hymne ist: „[D]er Sprecher Prometheus ist in erster Linie autonomer Schöpfer des Kunstwerks, das mit der Hymne vorliegt. Gemäß der Genieästhetik schafft der Selbsthelfer und Kulturbringer Dinge aus sich selbst heraus“ (ebd.: 49). Demnach wird die Emanzipation von vorherrschenden Autoritäten Goethes und Prometheus’ durch den und im Text parallel geführt.

Relevant wird an dieser Stelle ein weiteres zentrales Postulat der Epoche in Zusammenhang mit der Genieästhetik: das der Autonomie (vgl. Vollhardt 2007: 174). Die in der Aufklärung postulierte Autonomie sehen die ‚jungen Wilden‘ nicht konsequent durchgesetzt: „Wo die Vernunft ihre Fähigkeit zur Selbstkritik verliert und in dogmatischen Setzungen zu erstarren droht, ist das Autonomiepostulat offenkundig gefährdet“ (Valk 2002: 16). Sie fordern eine ganzheitliche Emanzipation hin zur Autonomie, die nicht durch den Verstand eingeschränkt wird und überführen diese Forderung „in den Bereich der künstlerischen Praxis“ (ebd.: 24). Demzufolge kann für den Sturm und Drang Autonomie als „Freiheit der künstlerischen Produktivität oder des aus ihr hervorgehenden Werks oder der Kunst/Literatur als ganzer von äußeren Zweckbestimmungen“ definiert werden (Vollhardt 2007: 173).

Neben dieser Dimension von Autonomie findet sich in Prometheus noch eine weitere, die sich – wie bereits angedeutet – auf die Handlungsebene bezieht. Auch unabhängig von seiner Funktion als Sprecher wird Prometheus autonom und schöpferisch tätig. Er wendet sich gegen seinen Schöpfer Zeus, findet selbstständig einen Ausweg aus der Sklaverei und formt Menschen nach seinem Ebenbild (vgl. Goethe 1961: 321, V. 30 u. 51–57). Autonomie ist also ein prägender Bestandteil der Hymne auf allen Ebenen: „[W]ie die Hymne Prometheus das Autonomiestreben des Ichs gegenüber väterlichen Autoritäten propagiert, lässt es sich auch als Rebellion gegen das Diktat ästhetischer Fremdbestimmung lesen.“ (Jürgensen u. Irsigler 2010: 49)

Hymnen sind „aufgrund ihrer artifiziellen Machart als mythologische Rollengedichte eindeutig als Produkt künstlerischer Reflexion zu identifizieren.“ (Ebd.: 40) Verstärkt wird dies bei Prometheus durch das umfassende Aufgreifen von Postulaten und Aspekten des Sturm und Drang auf allen Ebenen: auf der stilistischen, der Sprecher- und der Handlungsebene. Die für literarische Texte spezifische Selbstreflexivität wird durch diese Parallelen herausgestellt (vgl. Voßkamp 2010: 77). Darüber hinaus wird dadurch die Aufmerksamkeit auf den realen kulturellen Kontext des Sturm und Drang gelenkt und über Ideen der Epoche reflektiert. Der Schwerpunkt von Voßkamps Kulturdefinition auf dem Aspekt des Produktiven und Reflexiven kommt hier zum Tragen und auch seine These zur Funktion literarischer Texte in einer Kultur ließe sich in diesem Fall bestätigen: „Unzweifelhaft ist indes, dass Texte als Medien der Wahrnehmung in ihrer die Wirklichkeit mitbestimmenden und selbstreflexiven Funktion Teil der kulturellen Sinnproduktion einer Gesellschaft sind.“ (Ebd.: 78)

Texte sind eine Quelle zur Rekonstruktion kulturellen Wissens, das sozusagen in sie eingeschrieben ist. Titzmann formuliert drei Arten von Relationen zwischen Text und Kultur, die sich auch an Prometheus aufzeigen lassen. Zum ersten die Wissensreferenz: „Texte setzen kulturelles Wissen voraus und setzen sich mit kulturellem Wissen auseinander.“ (Titzmann 1989: 54) Diese Referenz ist für jeden literarischen Text gültig – schließlich ist Literatur, wie bereits behandelt, stets in einen kulturellen Kontext eingebunden und schöpft daraus ihr Wissen. Zum zweiten die „Systemreferenz: Texte können sich auf […] Systeme beziehen und sich mit diesen auseinandersetzen“ (ebd.). Prometheus referiert durch die Ablehnung der Regelpoetik und die Forderung nach Autonomie sowohl ablehnend auf das Denk- und Literatursystem der Aufklärung als auch affirmativ auf das des Sturm und Drang. Zuletzt die Textreferenz: „Ein Text bezieht sich hier auf einen anderen identifizierbaren Text, indem er diesen oder Teilstrukturen von ihm zitiert bzw. auf sie anspielt.“ (Ebd.) Diese Art von Referenz kann auch als Intertextualität bezeichnet werden. In Prometheus werden Figuren und Themen des Prometheus-Mythos aufgegriffen, wodurch auch diese Referenz in der Hymne vorgenommen wird. Es sind also alle drei Relationsarten nachweisbar, was zeigt, dass Prometheus in eine Art ‚Netzwerk kulturellen Wissens‘ eingebunden ist und dieses wiederum bündelt.

Demzufolge liegt der Status des kulturellen Textes nach Assmann für Prometheus nahe. Dieser ‚Verdacht‘ erhärtet sich bei näherer Betrachtung. Das in Prometheus vermittelte Lebensgefühl hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt, da sich die Auflehnung gegen Autoritäten und Veraltetes zeitlos auf die jugendliche Lebensphase übertragen lässt, was insgesamt eine Besonderheit der Epoche des Sturm und Drang ist: „Die eigene Jugend gilt ihnen als Garant des Fortschritts, während das Alte und Überkommene generell als doktrinär und reformunfähig verworfen wird.“ (Valk 2002: 24) Auch der Aspekt der Identitätsbildung ist hier angebunden und lässt sich daran belegen, dass in Prometheus die Grundsätze der Identität der Stürmer und Dränger formuliert werden. Darüber hinaus wirkt die Hymne sogar kulturgenerierend, da sie eine Welle der produktiven Rezeption in Form von literarischen Texten zeitgenössischer Schriftsteller auslöste (vgl. Peters 2002: 117–119). Prometheus ist also Teil des Bildungskanons, der aus literarischen Texten mit dem Status kultureller Texte besteht (vgl. Assmann 1995: 238). Für Texte dieser Art gilt, dass sie „am Paradigma des sakralen Textes orientiert [sind]; durch die ihnen zugesprochenen normativen und formativen Qualitäten haben sie religionsähnliche Züge.“ (Ebd.: 238) Der religionsähnliche Aspekt lässt sich für Prometheus – und Goethes Texte im Allgemeinen – bereits daran erkennen, dass sich Schriftsteller des Sturm und Drang selbst als ‚Goethe-Sekte‘ bezeichneten (vgl. Luserke-Jaqui 2017: 1). Zudem wird in Prometheus die neue Norm der Normlosigkeit bzw. Originalität eingeführt und von Schriftstellern der Epoche in ihren Folgetexten aufgegriffen, was die normative Wirkung der Hymne unterstreicht. Es handelt sich um die von Titzmann beschriebene „systemverletzende Originialität“, die über zwei Wirkungsmöglichkeiten verfügt:

Eine systemverletzende Originalität bleibt entweder folgenlos für das System: sie wird negativ rezipiert oder sogar sanktioniert. Oder sie hat Folgen für das System: dann muss sie positiv rezipiert worden sein und zu Folgetexten anderer Autoren geführt haben, die die abweichende Neuerung bestätigen. (Titzmann 1989: 56)

Wie gezeigt wurde, gilt für Prometheus eindeutig der letztere Fall.

Perspektiven

In einer weiterführenden Auseinandersetzung mit Prometheus als kulturellem Schlüsseltext wäre der Aspekt der Intertextualität, und inwiefern diese ein kulturelles (und literarisches) Gedächtnis darstellt, äußerst interessant. Fruchtbar dafür könnte eine Korpusuntersuchung verschiedener Prometheus-Texte aus der Periode des Sturm und Drang sein.  Einen Ansatz dazu liefert Günter Peters, indem er den Komplex der Prometheus-Texte von Goethes Zeitgenossen darstellt (vgl. Peters 2002: 117–119). Das ist auch für den Einfluss des Textes auf das Literatursystem relevant, da sowohl thematisch als auch formal Prometheus produktiv rezipiert wird. In diesem Fall würde also ein kulturwissenschaftlicher Ansatz die Betrachtung eines Werks sowohl hinsichtlich seines Kontexts als auch seiner Wirkung ermöglichen: „Interdiskursive Relationen der Literatur, Wissensmengen und Denkstrukturen gehören zu den Prämissen adäquater Interpretation literarischer Texte der Kultur.“ (Titzmann 1989: 59)

Anhand des Textes von Goethe konnte gezeigt werden, dass Literatur eine kulturgenerierende Wirkung haben kann – was die Wechselwirkung zwischen Kultur und Literatur hervorhebt. Kulturelles Wissen fließt in Literatur ein und kann durch sie neu formuliert werden: „Literarische Texte sind spezifische Formen des individuellen und kollektiven Wahrnehmens von Welt und Reflexion dieser Wahrnehmung.“ (Voßkamp 2010: 77) Es scheint, als könnte hier kaum eine Trennung stattfinden. Bereichernd erscheint es daher, bei einer literaturwissenschaftlichen Analyse auch einen kulturwissenschaftlichen Ansatz mitzudenken:

Nicht nur auf der Objektebene jedoch, sondern auch im Bereich der Theoriebildung findet eine signifikante Erweiterung statt: Alle Theorien, die zur Modellierung oder Erklärung kultureller Phänomene entwickelt worden sind, zählen zum Pool der potenziell auch für die Literaturwissenschaften relevanten Bezugstheorien. (Köppe u. Winko 2007: 363)

So werden neue Perspektiven, Fragestellungen und Möglichkeiten, sich interdisziplinär auf Forschungsergebnisse zu beziehen, für die Literaturwissenschaft zugänglich. All das kann zu einem zusätzlichen Erkenntnisgewinn führen, was schließlich im Interesse einer jeden wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist.

Die Literaturwissenschaft bleibt dabei weiterhin als Disziplin relevant, da sie das spezifische Handwerkszeug bereitstellt, entsprechend auf die Besonderheiten von literarischen Texten einzugehen. Diese dürfen in der Forschung nicht vernachlässigt werden:

Die Rekonstruktion und Konstruktion der Geschichte der Literatur wird der Eigenständigkeit literarischer Texte nur gerecht, wenn sowohl ihre textuelle Eigenart als auch ihre historische Kontextualität im Gesamtbereich der Kultur ernstgenommen werden. (Voßkamp 2008: 80)

Hier konnte nur angedeutet werden, wie die Anwendung kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Literaturwissenschaft durchgeführt werden kann. Aus der Kombination der beiden Wissenschaftssysteme haben sich zahlreiche disziplinäre Strömungen, unterschiedliche Perspektiven, Methoden und Textzugriffe ausdifferenziert – einige davon sind in den Beiträgen dieses Heftes vertieft.


Literarische Texte

Goethe, Johann Wolfgang von (1961): „Prometheus“. In: Goethes Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Gedichte. Hg. v. Ernst Beutler. Zürich, S. 320 f.

Forschungsliteratur

Assmann, Aleida (1995): „Was sind kulturelle Texte?“ In: Andreas Poltermann (Hg.): Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin, S. 232–244.

Graevenitz, Gerhart von (1999): „Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung“. In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73, 1, S. 94–115.

Jürgensen, Christoph u. Ingo Irsigler (2010): Sturm und Drang. Göttingen.

Kocher, Ursula u. Carolin Krehl (2008): Literaturwissenschaft. Studium – Wissenschaft – Beruf. Berlin.

Köppe, Tilmann u. Simone Winko (2007): „Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft“. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart/Weimar, S. 285–371.

Luserke-Jaqui, Matthias (2017): „Einleitung – Sturm und Drang. Genealogie einer literatur-geschichtlichen Periode“. In: Ders. (Hg.): Handbuch Sturm und Drang. Berlin/Boston, S. 1–28.

Peters, Günter (2002): „Prometheus und die ‚Tragödie der Kultur‘. Goethe – Simmel – Cassirer“. In: Barbara Naumann u. Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft. Berlin, S. 113–136.

Selbmann, Rolf (2017): „Prometheus“. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Handbuch Sturm und Drang. Berlin/Boston, S. 537–577.

Steiner, Uwe C. (1997): „Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen? Eine Bestandsaufnahme“. In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71, 1, S. 3–38.

Titzmann, Michael (1989): „Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99, 1, S. 47–61.

Valk, Thorsten (2012): Der junge Goethe. Epoche – Werk – Wirkung. München.

Vollhardt, Friedrich (2007): „Autonomie“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin/New York, S. 173–176.

Voßkamp, Wilhelm (2008): „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft“. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Weimar, S. 73–85.

Willems, Marianne (2004): „Wider die Kompensationsthese. Zur Funktion der Genieästhetik der Sturm-und-Drang-Bewegung“. In: Goethezeitportal. http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/willems_genieaesthetik.pdf (17.11.2020), S. 1–46.