Kulturwissenschaftliche Xenologie

Leonie Lieberam

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Theorie: Fremdheitsbegriff

Die kulturwissenschaftliche Xenologie liefert das Handwerkszeug, die Begriffe und Methoden, mit denen man einen bestimmten, zentralen Aspekt aus einem Text herausfiltern und einordnen kann: Fremdheit. Fremdheit ist in allen Texten zu finden, in denen eine Begegnung zwischen zwei oder mehr Individuen oder Gruppen thematisiert wird. Da es sich bei einer Fremdheitserfahrung um einen auffallenden Bruch mit dem Gewohnten, ein ‚Ereignis‘ (Kontextsensitive Narratologie), handelt, ist sie als Themenkomplex weitläufig in Texten der unterschiedlichsten Epochen anzutreffen (vgl. Walberg 2014: 88). Deshalb, und weil Fremdheit als anthropologische Konstante gelten darf, bedarf es mit der kulturwissenschaftlichen Xenologie eines Zugriffs- und Analyseapparates. Doch sind überhaupt die gegebenen Methoden ausreichend, um die Komplexität und Vielseitigkeit des Konzepts ‚Fremdheit‘ und die Dimensionen von Fremdheitserfahrungen zu erfassen?

Auch wenn sich die „Funktion der Fremdheit geändert hat“ (Turk 1990: 8), ist es doch in der modernen globalisierten Welt wichtig, Ansichten der Gegenwart und deren historische Ursprünge zu analysieren. Bis heute erkennen wir in Namens- und Begriffsgebungen wie ‚Nord-Süd-Gefälle‘ oder ‚Dritte Welt‘, in Mythen und Metaphern Fremdheitskonstruktionen und Praktiken der Ethnisierung (vgl. Albrecht und Wierlacher 2008: 295). Die Xenologie schlägt hierfür ein Werkzeug zur Freilegung vor: Rekonstruiert man die „(Voraus-)Setzungen und [die] diskursiven textuellen Strategien, die bei der Verhandlung von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ Anwendung finden“ (Nies 2011: 223), können Aussagen über die Hintergründe dieser Fremdannahmen getroffen werden. Damit steht bei der Textanalyse die Frage im Vordergrund, „ob die in den Modellen artikulierte Fremderfahrung der Kultur in der Kultur als Teil der Kultur, ihres Codes, aufgefasst werden kann oder nicht“ (ebd.: 223).

Jede*r hat schon einmal Fremdheitserfahrungen gemacht, und Fremdheitsdarstellungen lassen sich in nahezu jedem kulturellen Erzeugnis finden. Das meint natürlich das räumlich Fremde, bezieht aber auch das zeitlich Fremde ein. Die Xenologie umfasst alle Fremdheitsdimensionen, wenn ihr Forschungsziel ist, herauszufinden,

was in einer oder mehreren Kulturen in einem gegebenen Zeitabschnitt oder in gesellschaftlichen Teildiskursen und wissenschaftlichen Disziplinen unter dem Anderen als Fremden verstanden wird, wie man von ihm spricht und wie die Auffassungen in Handlungen umgesetzt werden und welche Figurationen des Fremden aus welchen Erkenntnisinteressen die Künste, vor allem die Literatur, erfinden. (Albrecht und Wierlacher 2008: 285)

Diese Fragen können nur gemäß unseren Maßstäben und Vorannahmen produktiv gemacht werden, da kein Mensch frei von diesen ist.

Zentral ist der Grundsatz zur Anerkennung von Fremdheit: Fremde und Fremdheit existieren als Erfahrung, die wir als Subjekte (passiv) erleben und die uns „dazu zwingt, uns zu uns selbst und der Welt in ein anderes Verhältnis zu setzen.“ (Walberg 2014: 191). Diese Erfahrung ist aber nie individuell, sondern stets kulturell geprägt. Dementsprechend „gibt es das Phänomen der Fremdheit nur in der menschlichen Interpretation, die sich im Reden wie im Handeln niederschlägt“ (Albrecht /Wierlacher 2008: 285), womit „[d]as kulturell Eigene und das kulturell Fremde […] keine Kontrastphänomene […], sondern wechselseitige Bezugsgrößen“ (ebd.: 284) sind. Das heißt, dass es bei der Analyse des Fremdheitsereignisses darum geht, das Verhältnis zwischen Eigenem und dem Fremden zu beschreiben.

Das mag so klingen, als stehe das Fremde stets in direkter Opposition zum Eigenen. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass sich das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem auf einer Skala (bzw. mehreren Skalen, weil auch kontextabhängig) anzusiedeln ist.

Wer sich nur durch sein Outfit, nicht aber biologisch und sprachlich von Ego unterscheidet, wird weniger ‚fremd‘ sein als der, der sich nur biologisch oder nur sprachlich unterscheidet; am ‚fremdesten‘ wird sein, wer in allen drei Merkmalsklassen abweicht. (Titzmann 1999: 101)

So kann sich, im Sinne der ‚subkulturellen Fremdheit der Schichten und Generationen‘ (vgl. Albrecht/Wierlacher 2008: 281), ein linker, deutscher Student zu einem anderssprachigen jungen Menschen weniger fremd fühlen als beispielsweise zu einem konservativen CSU-Politiker. Man kann sich in Beziehungen voneinander entfremden. Und es gibt das absolut Fremde, das jedem Menschen fremd ist, also ‚Grenzerfahrungen‘, wie den Tod. Zu den Dimensionen von Fremdheit schlagen verschiedene Theoretiker*innen unterschiedliche Ansätze vor. Horst Turk setzt das Andere zwischen das Eigene und das Fremde, um deutlich zu machen, dass es zu unterschiedlich Fremdem unterschiedliches Verhalten gibt, behält aber die Oppositionen um die fundamentale Grenze bei.

Indem das Fremde selbst als solches erkannt wird, sollte in einer Fremdheitsuntersuchung das Potenzial der zwischen dem Eigenen und dem Anderen/ Fremden stehenden Grenze fruchtbar gemacht werden:

‚Eigenes‘ und ‚Fremdes‘, ob in referentiellen oder in ästhetischen Kommunikationsakten, lassen sich somit als semantische Felder, zwischen denen eine Grenze gesetzt ist, auffassen und hinsichtlich enthaltener Merkmale und Merkmalskorrelationen sowie vergleichend hinsichtlich semantisch-logischer Oppositions- und Äquivalenzrelationen semiotisch analysieren. (Nies 2011: 222)

Theorie: Kulturbegriff und Methodik

Für die praktische Anwendung der kulturwissenschaftlichen Xenologie ist es wichtig, einen Kulturbegriff mit hohem Potenzial zur Anschlussfähigkeit zu verwenden, da sich Kultur in einem Text leicht durch eine Zugehörigkeit zu erkennen geben soll. Daher wird ein offener Kulturbegriff genutzt, wie er etwa auch in sozialwissenschaftlichen Disziplinen Verwendung findet:

[Die Xenologie] begreift Kultur als ein sich wandelndes, auf Austausch angelegtes, kohärentes aber nicht widerspruchsfreies und insofern offenes Regel-, Hypothesen-, Bedeutungs- und Geltungssystem, das Gemeinschaft stiftet, sichtbare und unsichtbare Phänomene einschließt und zu dem man in einem spannungsreichen Zugehörigkeitsverhältnis stehen darf. (Albrecht/Wierlacher 2008: 292)

Er bezieht die Prämisse ein, dass Kultur aus einem Austausch zwischen dem Eigenem und dem Fremden entsteht und Fremdheit nach kulturellen Regeln immer wieder neu verschoben und ausgehandelt werden kann. Diese Definition erlaubt – da sie dieses Spannungsfeld anerkennt – ein Loslösen von dem Asymmetrieverhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, da man auch selbst (als Forscher*in) vom Gegenstand fast zwangsläufig als kulturell außenstehend definiert wird, ohne es je komplett zu sein.1 Die Relevanz hierfür liegt darin, dass der jeweilige literaturwissenschaftliche Untersuchungsgegenstand zumeist die Literatur der eigenen Kultur ist, in der die Sicht auf eine andere Kultur ausgehandelt wird. So können zunächst (und gerade durch diese Betrachtung) Aussagen über die eigene Kultur getroffen werden: „[E]ine sachgerechte Analyse der eigenen Kultur [ist] nur über Erfahrungen des Fremdkulturellen möglich“ (Hinderer 1993: 208). Wir können erkennen, wie zeitlich-historisch über bestimmte Fremde gesprochen wird und wurde, und was und wer als fremd verstanden wird. Dabei müssen wir anerkennen, dass Fremdheitsbegegnungen immer schon semiotisch sind (vgl. Titzmann 1999: 89), und damit den Kultur- und Textbegriff der (Kultursemiotik) im Hinterkopf behalten.

 „Insbesondere die Literatur hat sich mit der Entdeckung, Erfindung und Bewahrung von Fremdheit […] befasst“. (Turk 1990: 10) Das Fremde wird durch die Jahrhunderte hinweg unterschiedlich wahrgenommen und beschrieben: In der Literatur des 18. Jhdt. wird die Abgrenzung von dem/der Fremden gesellschaftlich begründet, im 19. Jhdt. historisch und ökonomisch (vgl. ebd.).

Vor allem die deutsche Literatur kann geradezu als Modus einer Fremdheitsforschung begriffen werden. […] Sie versteht es, ihren Lesern eine imaginative kulturelle Außenposition zur Kritik eigenkultureller Verhältnisse zu eröffnen und sowohl Wurzeln als auch Folgen des Fehlverhaltens durch Xenophobie und Rassismus, Migration und Exotismus vor Augen zu führen. (Albrecht/Wierlacher 2008: 299)

Wir sehen: Literatur kann vielseitig erforscht werden, um darüber Aufschluss über das Verhältnis von Eigenem und Fremdem zu geben. Beispielsweise „nach Themenstellung, nach inhaltlichen und ästhetischen Kategorien und Verfahrensweisen, nach Aspekten der Rezeption, Produktion und teilweise sogar der Distribution“ (Hinderer 1993: 208). Die Methoden der Xenologie können beispielsweise auf den Literaturdiskurs bezogen werden, wenn die Einflüsse des Fremden im Eigenen erkannt werden: (kanonisierte) migrantische Literatur oder Exilliteratur. Auch können durch Einbezug anderer Quellen Aussagen über den Entstehungszeitraum und das kulturelle Denken über Fremde und Eigene getroffen werden. Damit gibt die kulturwissenschaftliche Xenologie sich selbst große heuristische Validität.

Zugriffe: Analyse von Joachim Reichels Schlager „Aloha Heja He“

Unter der Voraussetzung die Kultur als Zeichensystem erkennt, ergeben sprachanalytische Werkzeuge und Methoden der Fremdheitsforschung kombiniert die kulturwissenschaftliche Xenologie, die viele Zugänge bereithält. Dies ist für die Vielfalt an Gegenständen, die uns zur Verfügung stehen, nicht ungewöhnlich. Da sogar Texte aus ein und derselben Epoche mit ähnlichem Hintergrund unterschiedliche Aussagen treffen, kann sich das genaue Vorgehen der Analyse von Text zu Text unterscheiden.

© Leonie Lieberam

Für eine exemplarische Analyse ist das Lied „Aloha Heja He“ von Achim Reichel aus dem Jahr 1991 geeignet, da sich aufzeigen lässt, wie sich das Eigene und das Fremde gegenüberstehen können, zugleich aber auch gezeigt werden kann, wie für eine vollständige Analyse über die kulturwissenschaftliche Xenologie hinausgegangen werden muss. Der Text und sein Auftritt aus dem Jahr 19912, sind auch heute noch Online zu finden. Bereits im Vorfeld bereits erkennt man die Problematik, dass eine westliche Projektion erfolgt, die reale Geschehnisse mit fantastischem vermischt und Problematisches ausklammert.

Für die Untersuchung von Reichels Lied bietet sich Horst Turks Methode an, da im Liedtext zunächst auf Inhalts- und Sprachebene ein Spannungsfeld auffällt, und es zwischen Eigenem und Fremdem keine gemeinsamen Merkmale gibt. Turks abstraktes Denkmodell (siehe Tabelle) arbeitet die asymmetrischen Begriffspaare heraus. Während mit der Perspektive des fiktiven Seefahrers das Eigene (‚Ich‘) mit einer groben, weltlichen, harten Realität und Entdeckertum verbunden wird („Hab die ganze Welt gesehn’“; „harte Überfahrt“; „in den Wind gespuckt“; „Welt verflucht“), wird das Fremde mit dem himmlischen, traumhaften, friedlichen verknüpft: „da glaubte ich zu träumen“, „Gelächter“, „Paradies‘“. Die Kategorien erinnern an die Rousseausche Gegenüberstellung von Naturmensch und zivilisiertem Mensch. Die veraltete Vorstellung des ‚Edlen Wilden‘ soll in unserer Analyse jedoch nicht reproduziert werden, „sondern im Rahmen der Konstitution einer Verstehensposition, die kulturelle Abstände wahrt und aus ihnen Erkenntnisse über sich, das Eigene und das Andere als das Fremde zu gewinnen sucht“ (Albrecht/Wierlacher 2008: 292 f.) rekonstruiert werden.

Die Propositionen im Text werden nicht weiter hinterfragt, somit ist die Grenzziehung ideologischer Natur und muss (an-)erkannt werden (vgl. Nies 2011: 223). Über die Propositionen finden wir unseren ersten Zugang zur Grenze, sie wirkt alien und unverschiebbar.

Die genaue Betrachtung zeigt aber, dass sie nicht statisch ist. Eigenes, Anderes und Fremdes besitzen eine dreiwertige Valenz und konstituieren sich gegenseitig, sodass Anderes und Fremdes auch ihre Position wechseln können (vgl. Albrecht/Wierlacher 2008: 284). Hier formiert die Sprache eine unüberwindbare Grenze. Die beiden Gruppen sprechen nicht miteinander, stattdessen steht aber der einseitige, für das Ich unverständliche Gesang, für eine scheinbar eindeutige, einvernehmliche Kommunikation. Vom Ich wird sie als Friedensangebot und Anregung zur Verschmelzung der beiden Kulturen wahrgenommen. Der Gesang öffnet hier einen gemeinsamen Referenzrahmen, wodurch sich die Kulturen einander annähern. Das Erlebnis der sexuellen Vereinigung als ultimatives Resultat dieser Fremdbegegnung wird angedeutet („den Zahlenmeister ham’ die Gonokokken vernascht“) nicht aber explizit gemacht. Es scheint zunächst, als hätte sich die Grenze aufgelöst, doch dazu ist sie nicht in der Lage. Auch wenn sie beweglich ist, wird sie doch aus der Perspektive beider Positionen bestehen (vgl. Nies 2011: 222 f.). Folgen wir dem Text, bestätigt sich das: Die eigene Gruppe entfernt sich wieder und dem Ich bleibt die fast surreale Erinnerung; womit folglich die Grenze beweglicher wurde und nur eine Verschiebung zum Alteritären stattgefunden hat.

Im Text begegnen uns verschiedene kulturelle Zeichen und Referenzen zur Wirklichkeit, wie der Verweis auf das Jahr 1910, der nur grob angerissen und nicht erklärt wird. Wir wissen anhand der verwendeten Darstellung, welche Kulturen referenziert werden: Da das Ich von Sansibar spricht, dem schlicht falschen, aber noch immer verbreiteten Mythos einer deutschen Kolonie, schließt 1910 die Kolonialzeit ein und scheint diese zu verklären und zu mystifizieren. Das ‚Aloha‘, das im polynesischen Sprachraum eine freundliche Begrüßung und Verabschiedung ist, ist uns vor Allem aus der hawaiianischen Kultur bekannt. In Liedform stammt das bekannteste ‚Aloha‘ aus dem Lied „Aloha’Oe“ der letzten hawaiianischen Königin Liliʻuokalanis. Sie komponierte es für ihr Volk, bevor sie aus wirtschaftlichen Interessen mit Unterstützung von den U.S.A. abgesetzt und eingesperrt wurde (vgl. Noenoe 2004: 180, f.). Auch wenn das Ich vermutlich eher den Willkommensaspekt aufgreifen will, (wofür spräche, dass er es „so […] noch nie gehört“ habe), sollte das Wissen um diese geschichtliche Episode anerkannt werden. Reflektiert wird es im Lied nicht. Auch im Auftritt aus dem Sommer 1991 wird die hawaiianische Kultur referenziert, hier folkloristisch. Brünette Frauen tanzen auf der Bühne in Hula-Kostümen erotisch die Hüften kreisend um den Sänger herum. Warum im Lied die Verbindung von dem an der ostafrikanischen Küste liegenden Sansibar und dem pazifischen Hawaii eröffnet wird, leuchtet ein, wenn wir die Mystifizierung dieser beiden Orte erkennen. Es wird ein diffuser, paradiesischer Ort geschaffen, der auch uns „seltsam bekannt vor[kommt]“.

Wir finden im Lied auch Zeichen des Utopischen sowie Signale des Fiktiven. Der Übergang zum Fremden übers Meer, wo die Begegnung stattfindet, erinnert an Thomas Morus erste Utopie. Das Genre Utopie bedient sich bei der Beschreibung eines unbekannten Ortes auch distinkter Begriffspaare und Merkmale des Fantastischen und Unrealistischen. Gäbe es nicht die Verweise zur Lebenswirklichkeit, könnte man auch von einer Heterotopie, einem Nicht-Ort sprechen. In Form des Seemannsgarns kann eine Erzählung geschaffen werden, die den Seemann als heimatlosen Piraten unabhängig von kolonialgeschichtlicher Verantwortung darstellt oder gleich eine alternative Geschichte schafft.

Im Lied wird eine scheinbar fantastische Begegnung aus Sicht eines westlichen Seefahrers mit einer exotischen, diffusen Kultur geschildert. Das Ereignis der Begegnung wird unkompliziert dargestellt und die Grenzverschiebung ist scheinbar problemlos im beidseitigen Einverständnis möglich. Zwar wird die Fremdheit des Gegenübers anerkannt, doch wird sie nicht reflektiert oder ernstgenommen. Wir erkennen im Lied Vorstellungen und Bilder, die Exotisierung, und Hierarchisierung und damit Machtvorstellungen, die es bis heute gibt, reproduzieren.

Da das Lied von einem Weißen, deutschen Mann für ein deutsches Publikum geschrieben wurde, bedient es sich dieser Vorstellungen und Fantasien, greift aber auch den Vermittlungsdiskurs, der die Kolonialgeschichte nicht aufarbeitet, auf.

Diesen westlichen Blick nehmen auch wir ein, wenn wir erkennen, was Fremdheit für das Ich bedeutet. Wir können ableiten, dass Fremdheit mit Faszination zusammenhängt, mit der Möglichkeit zu reisen, Abenteuer zu erleben und eigene Erfahrungen zu machen. Fremdheit wird idealisiert, womit der Text ein Bild aufgreift, das wir seit der Aufklärung kennen, und spätestens seit seiner Verwendung zur Legitimierung von Herrschaftsansprüchen nicht mehr verwenden. Das Lied hat die Fähigkeit, unsere eigene Identität zu konstruieren, als auch die Identität Anderer und Fremder, und so in das Bild von Wirklichkeit einzugreifen.

Die […] Konstruktion des ‚Deutschen‘ im 19. Jahrhundert vollzieht sich durch eine Serie narrativer Prozesse, durch eine Menge zeitlich geordneter narrativer Texte. […] Merkmalszuweisungen werden durch Erzählungen (z.B. reale oder fiktive Reiseberichte usw.) beglaubigt, und erst, wenn sie zu Ereignissen, d. h. Erzählgegenständen, führen, wenn also freundliche oder feindliche Begegnungen mit einem Alter im Ego- oder Alterraum stattfinden, d. h. Grenzüberschreitungen im Sinne der strukturalen Erzähltheorie, wird Alter für Ego relevant und vollzieht sich der wechselseitige Abgrenzungsprozess verschiedener Identitäten. (Titzmann 1999: 111)

Damit steht das Lied in der Tradition der fiktiven Reiseberichte, die unsere Wahrnehmung vom Eigenen und vom Fremden stark formten und weiterhin formen, wie wir auch am Zuspruch sehen, den das Lied bis heute erfährt.3

Ausblick: Offene Fragen/ Kritik

Anhand der Analyse des Liedes „Aloha Heja He“ von Achim Reichel zeigt sich, dass Aspekte von Fremdheit mithilfe der kulturwissenschaftlichen Xenologie aus einem Text herausgearbeitet werden können. Insbesondere Aussagen über den Beschreibenden, der die Perspektive des Eigenen einnimmt, lassen sich so herleiten. Aussagen über Außertextuelles lassen sich anhand eines Textes allerdings nur bedingt treffen. Denn obwohl laut Turk die Analyse auch auf fiktive Gegenstände angewendet werden kann, ist selbst mit großem interdisziplinärem Vorwissen oft nicht eindeutig, was in einem Text objektive, kulturelle oder subjektive Fremdheit ist. Genauso ist es schwierig zu unterscheiden, wann man das Fremde neutral vom Anderen trennt, und wann man ‚Othering‘ betreibt.

Prinzipiell bietet die kulturwissenschaftliche Xenologie ein angemessenes Werkzeug zur Herausarbeitung von Fremdheitsaspekten aus jeder Form von Text. Das ist der Fall, da verschiedene literaturwissenschaftliche Grundlagen, wie die Kultursemiotik, Hermeneutik (vgl. Albrecht/Wierlacher 2008: 285 f.) oder Sprachanalysen für ein konkretes Erkenntnisinteresse angewendet werden. Zu betrachten, wie ein Text Verfremdungen einsetzt, um Fremdheit darzustellen, führt sicher auch zu interessanten Ergebnissen. Gleichzeitig hat die fortgeschrittene Fremdheitswissenschaft genug (an der Wirklichkeit erprobte) Theorien, die sich auf die Weltmodelle in Texten übertragen lassen. Andere Modelle, wie kulturwissenschaftliche Raumtheorie(n), oder die Erzähltheorie, können hier ebenfalls Anwendung finden.

In der Xenologie ist wichtig, das Eigene und das Fremde neutral darzustellen, Grenzen anzuerkennen und beizubehalten. Doch wenn man innerhalb oder gar außerhalb eines Textes nachforscht, wird man mit Ungerechtigkeiten konfrontiert. Fremdheitszuschreibungen gehen häufig mit komplexen gesellschaftlichen Prozessen einher. Zwar erkennen Turk und andere dieses Problem an, doch Lösungsvorschläge, wie man in der Praxis damit umgehen kann, gibt es nur wenige. Betrachtet man ältere Analysen von Fremdheit in Texten, zum Beispiel Walter Hinderers ‚Das Phantom des Herrn Kannitvestan‘, fällt auf, dass Machtstrukturen nur bedingt offengelegt werden. Da Fremdheit als intersektionale Kategorie gesehen werden kann, sollten unbedingt weitere Faktoren einbezogen werden, da ansonsten kein vollständiger Blick auf Fremdheit möglich ist.

In Verbindung mit der Postcolonial Theory (New Historicism) können die Denkmodelle der Xenologie Texte ganzheitlicher greifen und auch Turks Modell fruchtbar gemacht werden. Das zeigt sich an der Dissertationsschrift Sarah Brauckmanns, die bei der Analyse von Fremdheit in David Leans Filmen erkennt, dass die Kolonialgeschichte bereits in den filmischen Mitteln, mit denen erzählt wird, angelegt ist (vgl. Brauckmann 2021).

Die kulturwissenschaftliche Xenologie ist eine Disziplin, die in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln, und sich dabei immer auf den gleichen Themenkomplex beziehen wird. Einen Gegenstand, der die Menschen immer beschäftigt hat und beschäftigen wird. Wenn sie weiter ausgebaut wird und wissenschaftliche Wenden weiterhin reflektiert werden, kann die Theorie für viele Texte, in deren Analyse-Fokus Fremdheit bisher noch nicht stand, essenzielle und interessante Perspektiven aufzeigen.

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1   „Entweder er wendet auf sich die Kategorien und Formen eines ihm Bekannten Auslegungsrahmen an: mit dem Effekt, daß er sich in ihnen nicht mehr unmittelbar versteht. Oder aber er wendet sich auf die Kategorien und Formen eines vertrauten Auslegungsrahmens an: mit dem Effekt, daß er sich durch sie anders und besser versteht. Der zuletzt genannte Effekt stellt sich beinahe zwangsläufig ein, sobald man überhaupt einen unbekannten und nicht mehr vertrauten Auslegungsrahmen sucht.“ (Turk 1990: 31)

2   Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=vBtYtWlO8Kg (27.01.2022). Zu sehen ist eine Performance-Aufzeichnung des Zweiten aus dem Jahr 1991 von Achim Reichels „Aloha Heja He“.

3   Bis heute wird das Lied regelmäßig im Radio gespielt. Es gibt mehrere Coverversionen. Und die Kommentare unter dem YouTube Video zeigen starken Zuspruch.


Musik

Aloha Heja He, Achim Reichel, Deutschland 1991. https://www.youtube.com/watch?v=vBtYtWlO8Kg (27.01.2022).

Forschungsliteratur

Albrecht, Corinna u. Alois Wierlacher (2008): „Kulturwissenschaftliche Xenologie“. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning: Einführung in die Kulturwissenschaften. Stuttgart, S. 280–306.

Brauckmann, Sarah (2021): Alientität und Alterität. Raumkonzepte in den Filmen David Leans. Marburg.

Hinderer, Walter (1993): „Das Phantom des Herrn Kannitverstan. Methodische Überlegungen zu einer interkulturellen Literaturwissenschaft als Fremdheitswissenschaft“. In: Alois Wierlacher (Hg.): Kulturthema Fremdheit. München, S. 199–217.

Nies, Martin (2011): „Kultursemiotik“. In: Christoph Barmeyer, Petia Genkova, Jörg Scheffer (Hg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. Zweite Aufl. Passau 2011, S. 207–225.

Silva, Noenoe K. (2004): „The Queen of Hawaii Raises Her Solemn Note of Protest”. In: Gilbert Joseph and Emily Rosenberg (Hg.): Aloha Betrayed. Native Hawaiian Resistance to American Colonialism. New York, S. 164–203. https://doi.org/10.1515/9780822386223 (30.06.2021).

Titzmann, Michael (1999): Aspekte der Fremdheitserfahrung. Passau.

Turk, Horst (1990): „Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik. Zum Fremdheitsbegriff der Übersetzungsforschung“. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 22, 1, S. 8–31.

Walberg, Hanne (2014): Film-Bildung im Zeichen des Fremden. Bielefeld. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839418208 (05.04.2021).