Wir brauchen nationale und europäische Dateninstitute

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Am 7. April 2025 veröffentlichten Benjamin Risse, Tim Hahn, Mario Ohlberger und Thomas Nikolaus in der Frankfurter Allgemeinen einen Aufruf zur Gründung neuer Dateninstitute. Lesen Sie hier den vollständigen Text.

Der Wettbewerb um Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) ist eine historische Herausforderung für Deutschland und Europa. Die kürzlich zugesagten nationalen und europäischen Mittel können eine finanzielle Basis schaffen; die Ausgestaltung der digitalen Wende erfordert jedoch tiefgreifende institutionelle Neuerungen in der akademischen Landschaft. Dies ist ein Plädoyer zur Gründung von öffentlich getragenen Dateninstituten als Schlüssel zum Erfolg der digitalen Revolution.

Wir stehen vor einer epochalen Veränderung, die mit der Wissens- und Wissenschaftsrevolution im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vergleichbar ist. Während den Staaten Europas in den Zeiten der zweiten industriellen Revolution eine technologische Vorreiterrolle zukam, stammen eine Vielzahl der aktuellen KI-Durchbrüche aus den USA und China. Die Diskussion um diese Durchbrüche vernachlässigt jedoch häufig den komplementären Baustein dieser KI-Entwicklungen: Wie die Kraftwerke des 19. Jahrhunderts Treibstoff benötigten, so benötigt die KI Daten. Damit wird das unschätzbare Wissen über Prinzipien, Prozesse und Produkte – das in ansässigen wissenschaftlichen und akademischen Einrichtungen, aber auch in den Unternehmen in Deutschland liegt – zur Chance: Wenn es gelingt, dass der Treibstoff der KI-Revolution in Europa gewonnen wird, profitieren wir direkt von der rasanten Modellentwicklung weltweit.

Offene Daten als Katalysator neuer Kreativität

Während KI-Technologie selbst zunehmend zum Allgemeingut wird, werden Daten in Zukunft die digitale Revolution befeuern und wirtschaftlichen Mehrwert erzeugen. Daher ist die zentrale Einsicht: Für den digitalen Wandel braucht es neue, spezialisierte Forschungszentren, die den Umgang mit Daten in den Mittelpunkt stellen. Analog zu Gründungen von Technischen Hochschulen im Zuge des industriellen Aufschwungs und der rasanten technischen Entwicklungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts sind nationale und europäische Dateninstitute für die Digitalisierung erforderlich. Diese müssen über bestehende Initiativen hinausgehen, Daten sammeln, aufbereiten und zugänglich machen.

So können sich Datenbereitsteller und -nutzer ganz auf die Verwertung einer weltweit einzigartigen Datengrundlage konzentrieren. Europa wäre abermals ein Vorreiter in der Effizienzsteigerung und ein Vorbild für den Bürokratieabbau. Zusätzlich würden mit diesen Daten europäischen Regeln und Werten zur Grundlage von KI-Systemen. Eine starke Dateninfrastruktur ist die Grundlage für den Aufbau eines offenen, vertrauenswürdigen Datenökosystems, das dazu beitragen kann, unsere dringendsten wissenschaftlichen, ökonomischen und letztlich gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Eine solche Dateninfrastruktur umfasst das gesamte Spektrum an Daten – von offenen über gemeinsam genutzte bis hin zu geschlossenen Daten. Die bestmögliche Grundlage sind jedoch offene Daten als Katalysator neuer Kreativität; dies ist etwa vergleichbar mit der offenen Entwicklung von Open-Source-Software und Open-Access-Veröffentlichungen. Angesichts der zunehmenden Komplexität braucht es Vertrauen in Daten, ihre Herkunft und die Institutionen dahinter. Europa braucht jetzt unabhängige, gemeinwohlorientierte Dateninfrastrukturen.

Die gezielte Erschließung des europäischen Datenschatzes durch Dateninstitute wird ein immenses Potenzial freisetzen, das den Hochschulen und Volkswirtschaften einen klaren Wettbewerbsvorteil verschafft und eine neue Wachstumsdynamik für Wissenschaft und Wirtschaft auslöst. Europa hat zudem die Chance, mit einer gesellschaftlich orientierten KI („AI made in Europe“) eine Vorreiterrolle einzunehmen. Sinnvolle Anwendungen, wie sie die UN-Initiative AI for Good zeigt, können das Vertrauen der Bevölkerung stärken und dem negativen KI-Narrativ entgegenwirken. Da Europa in vielen relevanten Bereichen schon führend ist, verfügt es über ein immenses, bis dato noch unerschlossenes Ressourcenpotential, das mithilfe dieser Dateninstitute erschlossen werden kann. Die Nutzung der Datenressource sowie die gezielte Förderung digitaler Talente müssen ein zentrales Ziel der Digitalstrategie sein. Auf diese Weise lassen sich auch gesellschaftliche Zustimmung und politische Unterstützung gewinnen.

Wissenschaftsförderungen sollen Anreize schaffen

Mutige, transformative politische Entscheidungen werden nicht nur die richtigen technologischen Weichenstellungen, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Mehrwert sowie die wirtschaftliche Souveränität ganzer Länder und Kontinente ermöglichen können. Daten sind der Treibstoff der KI-Revolution. Gelingt es, Datenzentren als Ressourcen dieser Revolution zu etablieren, wird dieser Treibstoff für zukünftige Entwicklungen in Europa zugänglich und nutzbar gemacht.

Die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) genannte Initiative Invest-AI ist hierfür ein exzellenter Ausgangspunkt. Entscheidend wird jedoch sein, diese Mittel in selbstverstärkende Anreizstrukturen zu überführen, um somit den wirtschaftlichen Wandel in Europa voranzutreiben. Konkret muss hierfür eine kleine Zahl öffentlich finanzierter Dateninstitute entstehen, die über starke Wirtschaftsvernetzungen sowie umfangreiche personelle und finanzielle Ressourcen verfügen. Diese Institute übernehmen das aufwendige Data Engineering, die Administration, Anreicherung und Fusion digitaler Ressourcen sowie Unterstützung beim Datenschutz für Wirtschaft und Forschung gleichermaßen.

Darüber hinaus sollten gezielte Wissenschaftsförderungen – im Umfang bestehender Exzellenzstrategien – substanzielle Anreize für das Bereitstellen großer Datenmengen schaffen. Bestehende Förderinstitutionen sollten gezielte Aufrufe für groß angelegte Data-Collection-Vorhaben initiieren und hierfür die nötigen Mittel wirksam in Umlauf bringen. Ergänzend braucht es wirtschaftsnahe Accelerator-Anteile, um datenbasierte Innovation und Wertschöpfung mit und in Unternehmen gezielt zu fördern. Kurzum: Es braucht institutionelle Strukturen, klare Anreizmechanismen und eine neue Förderlogik, um Daten zur tragenden Säule von Wissenschaft, Innovation und Wirtschaft in Europa zu machen.

Der Artikel erschien am 7. April 2025 in der Frankfurter Allgemeinen: https://zeitung.faz.net/faz/digitalwirtschaft/2025-04-07/wir-brauchen-nationale-und-europaeische-dateninstitute/1151256.html?GEPC=s3

Die Autoren:

  • Prof. Dr. Benjamin Risse ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Angewandte Informatik und Leiter der Arbeitsgruppe „Computer Vision and Machine Learning Systems“ der Universität Münster.
  • Prof. Dr. Tim Hahn leitet das Medical Machine Learning Lab am Universitätsklinikum Münster.
  • Prof. Dr. Mario Ohlberger ist Sprecher des Exzellenzclusters Mathematics Münster an der Universität Münster.
  • Prof. Dr. Thomas Nikolaus ist ebenfalls Sprecher des Exzellenzclusters Mathematics Münster an der Universität Münster.