"Jeden Tag kann es passieren, dass man eine unerwartete Entdeckung macht"

Interview mit Prof. Dr. Sarah Zerbes über das Abenteuer Mathematik
Prof. Dr. Sarah Zerbes
Prof. Dr. Sarah Zerbes
© ETH Zürich

Liebe Frau Prof. Zerbes, Ihr Vortrag ist Teil der Reihe "Die 7 größten Abenteuer der Mathematik". Gibt es in Ihrem Arbeitsalltag als Mathematikerin Momente, in denen Sie Mathematik als ein besonderes Abenteuer erleben?
Sarah Zerbes: Ja, das erlebe ich sogar sehr oft so! Mathematische Forschung ist immer spannend. Jeden Tag kann es passieren, dass man eine unerwartete Entdeckung macht, die einem hilft, ein Problem zu lösen, über das man schon lange nachdenkt. Das kann ganz überraschend kommen, zum Beispiel beim Sport oder bei Wanderungen in den Bergen.

Vor einigen Monaten hatten mein Mann, mit dem ich eng zusammenarbeite, und ich bei einer Wanderung in den Alpen eine lange Diskussion über ein Problem, über das wir lange nachgedacht hatten: Wir standen mitten im verschneiten Wald und schrieben mit unseren Wanderstöcken Formeln in den Schnee. Die Wanderung haben wir erst dann fortgesetzt, als wir sicher waren, dass wir das Problem lösen konnten.

Oft geht es bei diesen Entdeckungen um Verbindungen zwischen Strukturen, die man vorher gar nicht gesehen hat. Denn das ist das Wunderbare an der Mathematik: wie alles zusammenhängt und wie viele Verbindungen es noch zu entdecken gibt. Häufig kommen solche Erkenntnisse durch Diskussionen mit Kollegen, die in anderen mathematischen Bereichen forschen.

Haben Sie ein Beispiel für solch eine Situation?
Sarah Zerbes: Ja, vor einigen Jahren hatten wir ein besonderes Erlebnis: Mein Mann und ich hatten mehrere Jahre mit unserem Forschungsprogramm festgehangen und kamen einfach nicht weiter – auch diese schwierigen, frustrierenden Phasen gehören zum Abenteuer Mathematik dazu. Bei einer Konferenz in Princeton stellte dann ein Wissenschaftler aus Lyon ein mathematisches Werkzeug vor, das genau das war, was uns bislang gefehlt hatte, um Fortschritte zu machen. Wir haben uns angesehen und konnten es kaum glauben! Es war wirklich ein wunderbarer Moment.

© Junge Akademie

Sie werden das Millennium-Problem in Ihrem Vortrag am 15. Juni ausführlich vorstellen, deshalb möchten wir jetzt nicht zu viel vorwegnehmen. Nur so viel: Wie kamen Sie dazu, sich mit der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer zu beschäftigen?
Sarah Zerbes: Elliptische Kurven, die bei diesem Millennium-Problem im Mittelpunkt stehen, haben mich schon fasziniert, seit ich als Studentin in Cambridge Vorlesungen bei meinem späteren Doktorvater John Coates dazu gehört habe. Das Besondere ist, dass sie verschiedene Gebiete der Mathematik in Verbindung bringen.

Die Vermutung, die Bryan Birch und Peter Swinnerton-Dyer in den 1970 Jahren formuliert haben, war einfach revolutionär und hat viele Entwicklungen in dem Gebiet ermöglicht. Ich bin mir sicher, dass ihre Vermutung richtig ist – aber ob das in absehbarer Zeit bewiesen werden kann? Als Student hatte mein Mann Peter Swinnerton-Dyer gefragt, ob er glaubte, dass die Vermutung noch in seiner Lebenszeit bewiesen würde. Swinnerton-Dyer antwortete: "Nicht in deiner Lebenszeit, junger Mann!"

Weltweit arbeiten verschiedene Gruppen an vielversprechenden Ideen und Zugängen, Spezialfälle der Vermutung wurden bereits bewiesen. Auch wenn ich nicht optimistisch bin, dass es demnächst einen Beweis der "klassischen" Vermutung geben wird – es gibt auf jeden Fall spannende Fortschritte.

Neben Ihrem Beruf betreiben Sie abenteuerliche Hobbys: Bergsteigen und Eisklettern. Gibt es dabei Parallelen zu Ihrer Arbeit als Mathematikern?
Sarah Zerbes: Auf jeden Fall! Die Beschäftigung mit der Birch Swinnerton-Dyer-Vermutung ist wie die Besteigung eines unbekannten Bergs oder Eisfalls: Immer wieder muss man Hindernisse aus dem Weg räumen, auch mal zurückgehen, neue Wege suchen, neue Zugänge testen. Beides ist abenteuerlich und spannend und erfordert Konzentration und Durchhaltevermögen.

Wenn der Eisfall bezwungen ist oder ein mathematischer Beweis erbracht ist, sind das beides Momente voller Erleichterung und Glück. Das Gefühl, ein mathematisches Problem zu lösen, empfinde ich allerdings als noch schöner als ein Gipfelkreuz zu erreichen: Denn auf dem Berggipfel ist ja bereits jemand vor dir gewesen – mit einem mathematischen Beweis hat man etwas völlig Neues entdeckt.

Der Vortrag "Rätselhaft und bislang unbewiesen: Die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer" von Prof. Dr. Sarah Zerbes findet am Mittwoch, 15.06.2022, um 18:30 Uhr im Schloss, Hörsaal S8, statt. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen.
Weitere Informationen: go.wwu.de/millenniumsfestival