Neues "Topical Program" zu Zelldynamik und Mathematischer Modellierung

Prof. Dr. Angela Stevens und Prof. Dr. Erez Raz wollen den Austausch zwischen Mathematik und experimenteller Biologie stärken
Erez Raz und Angela Stevens
Erez Raz und Angela Stevens halten ein tiefes Zusammenspiel von Biologie und Mathematik für äußerst fruchtbar und vielversprechend.
© Kleinrensing/Messerschmidt/Schmidtchen

Zellbewegung, Zellteilung, Zelldifferenzierung und Zellkommunikation mithilfe biochemischer Signale und biomechanischer Kräfte sind fundamental für die Entwicklung jedes Embryos. Experimente und Messungen hierzu beruhen auf physikalischen Grundgesetzen und sind damit mathematischen Gedankenexperimenten besonders zugänglich. Der Zellbiologe Prof. Dr. Erez Raz und die Mathematikerin Prof. Dr. Angela Stevens wollen den Austausch zwischen experimenteller Biologie und Mathematik mit dem neuen Projekt „Zelldynamik und Mathematische Modellierung“ weiter verstärken. Es ist eins von elf „Topical Programs“, die nun vom Rektorat der WWU für eine Förderung ausgewählt wurden.

Erez Raz und Angela Stevens halten ein tiefes Zusammenspiel von Biologie und Mathematik für äußerst vielversprechend. Mit Mathematik ist damit nicht alleine die Auswertung von Daten, Statistik, die Verwendung von mathematischen Formeln oder die Simulation von mathematischen Modellen gemeint, sondern insbesondere auch und viel abstrakter das mathematische Werkzeug der „proofs of principles“ in Biologie und Medizin. Dies betrifft beispielhaft Fragestellungen der folgenden Art: Kann ein beobachtetes biologisches Phänomen aus einem bestimmten hypothetisierten Grund prinzipiell auftreten oder kann es dies aus genau diesem Grund nicht? Was können überhaupt grundsätzliche Ursachen für ein beobachtetes Phänomen sein? Oder – wie historisch im Zusammenspiel von Mathematik und Physik sehr erfolgreich geschehen – „folgendes“ Phänomen müsste existieren oder beobachtbar sein, obwohl dazu noch kein Experiment vorliegt oder durchführbar ist.

Es geht daher um eine auch aus dem mathematischen Denken heraus entwickelte Hypothesenbildung in den Lebenswissenschaften. Dieses Konzept ist nach Meinung der Projektverantwortlichen bisher viel zu wenig in Biologie und Medizin verankert. In der Geschichte der Physik hat ein solches Zusammenspiel von tiefer Mathematik, die teilweise erst neu entwickelt werden musste, und physikalischen Experimenten immer wieder zu großen wissenschaftlichen Durchbrüchen geführt. „In den Lebenswissenschaften haben genau solche Konzepte ein sehr großes, bisher kaum erforschtes Potential“, sagt Angela Stevens. Die Kenntnis und Klassifikation hoch komplexer nichtlinearer mathematischer Systeme liefert ein grundsätzliches abstraktes Wissen über mögliche Funktionsweisen ganzer Modellklassen. Um ein solches Wissen dann erfolgreich für die Lebenswissenschaften zu nutzen, müssen die „richtigen“ Modelle in einer intensiven Zusammenarbeit zwischen den Fachpartnerinnen und Fachpartnern der verschiedenen Disziplinen identifiziert werden. In Münster besteht bereits viel Erfahrung mit einem solchen Wissensaustausch zwischen den Lebenswissenschaften und der Mathematik.

Einer der biologischen „Modellorganismen“, die in diesem neuen Projekt betrachtet werden sollen, ist der Zebrafisch. Biomechanische Eigenschaften und dynamische Formveränderungen von Zellen im Allgemeinen hängen eng mit ihrem jeweiligen Zustand und ihrer zellulären Funktion zusammen. Dies lässt sich zum Beispiel auch bei der Wanderung von Urkeimzellen im Zebrafischembryo beobachten. Solche Prozesse sind mathematisch gut beschreibbar, und der Einfluss wichtiger Parameter kann somit auch theoretisch analysiert werden. Die Forschung zum Zebrafisch liefert außerdem Hinweise zur Dynamik von Wundheilung und zum Tumorwachstum, denn Immun- und Krebszellen teilen viele morphogenetische Eigenschaften mit Embryonalzellen.
Mit dem Fördergeld des Rektorats soll in erster Linie eine Tagung finanziert werden, die internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Biologie, der Mathematik, der Medizin, der Physik, der Chemie und der Informatik in Münster zusammenbringt.

Topical Programs:
Die sogenannten Topical Programs erschließen Themenfelder für künftige Forschungsschwerpunkte an der WWU und schärfen den Blick für größere Förderformate. Darüber hinaus möchte die Universität die Vernetzung mit externen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und anderen universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen stärken und die internationale Zusammenarbeit fördern. Mithilfe eines Online-Review-Verfahrens und durch Unterstützung externer Gutachterinnen und Gutachter hat der WWU-Forschungsbeirat die Anträge gesichtet und elf Projekte ausgewählt. Eine Übersicht ist in der Uni-Zeitung „wissen leben“ 12/2020 (S. 4/5) zu finden.