Inmitten von Providenz und Kontingenz – Tom Tykwers LOLA RENNT

Sophie Hohmann, Sarah Richter


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Multioptionen von Zukunft und die Selektion des Happy End
Tom Tykwers LOLA RENNT (D 1998) brachte der Produktion des deutschen Films internationale Bedeutung. „This resonance was certainly based in part on Lola’s finely tuned – and timely – pop cultural and postmodern sensibilities.“ (Haase 2007: 161)

Die semantische Grundordnung des Films ist durch die außergewöhnliche Erzählweise bedingt und mit dem Inhalt des ersten Handlungsstrangs vorgegeben. Als erzählerische Voraussetzung für den weiteren Verlauf wird zu Anfang ein Problem – die Beschaffung von 100.000 Mark in 20 Minuten – eingeführt, das es im Laufe der Handlung zu lösen gilt. Nach Lotmans Grenzüberschreitungstheorie lassen sich die räumlichen Oppositionen des Außenraums einerseits und des Innenraums andererseits ausmachen. Während Ersterem das Merkmal der Öffentlichkeit zugeordnet werden kann, lässt sich der zweite Teilraum als privat-geschlossen beschreiben. Die hier verwendeten Sequenzen sind durch rote Beleuchtung vom Rest des Films abgehoben und es bleibt unklar, ob sie Gedanken der sterbenden ProtagonistInnen visualisieren, Rückblenden oder Prolepsen sind (Leschke 2015: 56). Diese abstrakt-semantische Ebene wirft für das Paar die Perspektive einer vermeintlich kontingenten Welt auf. Hier erfahren sie die Möglichkeit des alternativen Lebensweges – unabhängig von der Familie und kriminellen Vorkommnissen.

LOLA RENNT folgt nicht der klassischen, stringent-chronologischen Umsetzung, sondern einem Prinzip der zirkulären Wiederholung. Der Film erzählt eine Geschichte, wiederholt in drei Variationen jeweils mit derselben Ausgangssituation und drei unterschiedlichen Endzuständen. Exakt dieses Spiel mit den Möglichkeiten trifft den Nerv der Zeit; durch die Globalisierung stehen die persönlichen Perspektiven denkbar offen, der Lebensweg ist nicht vorgezeichnet und häufig scheinbar vom Zufall beeinflusst (Haase 2007: 162 f.). Daneben werden identifikationsstiftende Probleme verhandelt, für die das Happy End Lösungsvorschläge bereithält. Neben den Geldsorgen sind auch der Umgang mit den Eltern, die Freiheiten der Adoleszenz, uneingeschränkte Liebe, zufallsbasierte Entscheidungen und unaufhaltsames Zeitvergehen relevant für das Verhalten der Figuren. Entworfen wird eine Vielzahl an Zukunftsoptionen, gewählt wird das Happy End – zugleich wird dadurch aber angezeigt, dass es sich hierbei lediglich um eine Option neben anderen handelt.

Gleichsam spiegelt der Variantenfilm die rasante Entwicklung des Mediums Film seit Ende des 20. Jahrhunderts wider (ebd.). So macht Tykwer Gebrauch von einer ganzen Brandbreite visueller Darstellungsmedien:

Bei der Überlegung, wie man einen Film über die Möglichkeiten des Lebens macht, war mir völlig klar, daß es auch ein Film über die Möglichkeiten des Kinos sein mußte. Deswegen gibt es Schwarzweiß, Farbe, Video, Zeitraffer, Zeitlupe – und Zeichentrick. Dabei spielt auch die Lust an der Freiheit der Mittel eine Rolle. (Tykwer 2010)

Die mehrfach gezeigten Flashforward-Fotosequenzen lassen alternative Entwicklungen eines Lebenslaufs erkennen. Im Fall von Doris wird ihr in der ersten Version das Kind weggenommen und das Sorgerecht entzogen, sie entführt daraufhin ein fremdes Kind. Die zweite Version präsentiert sie als Lotto-Großgewinnerin, die einen beachtlichen Lebenswandel erfährt. In der dritten Version schließt sie sich den Zeugen Jehovas an und verkauft auf der Straße Magazine.

Überdies ist Lolas Selbstreflexivität bedeutend für den Verlauf der verschiedenen Episoden. Direkt zum jeweiligen Beginn trifft sie im Treppenhaus auf einen jungen Mann mit Hund. Im ersten Durchlauf ist Lola zwar erschrocken und der Hund knurrt sie an, doch sie läuft weiter. Die Begegnung läuft in der zweiten Variante nicht so reibungslos ab; der Mann stellt ihr ein Bein und Lola stürzt die Treppe hinab. Lola scheint sich jedoch zu erinnern und lässt diese Panne im dritten Anlauf sich nicht wiederholen; sie springt über das Treppengeländer an den beiden vorbei und gelangt mit entschlossenem Blick schnell zu der Haustür. Durch geringfügige Veränderungen ändert sich auch die Verkettung der Umstände, Lola nimmt dadurch Einfluss auf die gesamte Entwicklung der Geschichte.

Hier kann auf die Possible-Worlds-Theory verwiesen werden (Herbert/Leck/Opitz/Sturm 2017: 54 ff.). Diese beschäftigt sich mit der Annahme, dass die Vergangenheit und damit einhergehende Geschehnisse anders hätten verlaufen können und „die Dinge in der Welt also anders sein könnten, als sie wirklich sind“ (Surkamp 2002: 154). Virtuelle Welten stellen ein Modell alternativer, ‚nichtaktualisierter‘ Welten dar. Die tatsächliche, aktuale Welt, die von uns bewohnt wird, kann somit nur als ein Teil der Wirklichkeit gesehen werden (Bartsch 2015: 56 ff.).

Auch der Sicherheitsbeamte geht im Vorspann auf die Beeinflussung von Abläufen durch den Zufall ein. Er spricht von einem Fußballspiel mit den zwei Tatsachen: Der Ball ist rund und die Spielzeit beträgt 90 Minuten, alles andere ist Theorie (LOLA RENNT D 1998: 00:02:30–00:02:38). Allein Rahmenbedingungen scheinen gegeben (Schneider 2008: 111). Dem Zufall kann die Bedeutung „des Nichtwesentlichen, des Nichtnotwendigen oder des Nichtbeabsichtigten“ (Althaus 1994: 17) beigemessen werden und menschliche Beeinflussung ist an dieser Stelle nur begrenzt möglich (Köhler 1973: 113). Lola selbst thematisiert den Zufall bezüglich ihrer Partnerschaft mit Manni: „[A]ber ich könnt’ doch auch irgend’ne Andere sein […] und wenn du mich nie getroffen hättest, […] dann würdest du dasselbe ’ner Anderen erzählen.“ (LOLA RENNT: 00:30:46–00:31:40). Der Film veranschaulicht umfassend „den spezifisch filmischen Status wechselseitiger Bedingtheit der Parameter von Raum, Zeit und Handlung als Konstituenten des verlässlichen Bedeutungshorizonts eines jeden Films“ (König 2015: 91).

LOLA RENNT und der postmoderne Film
Mit LOLA RENNT öffnet sich Tykwer nicht nur gegenüber einer „kommerziellen Ästhetik“ (Eder 2008: 34), sondern auch dem postmodernen Film und stößt damit einen Wandel des deutschen Films an. Er schließt an die postmoderne Strömung an, die sich in Hollywood vordergründig durch Quentin Tarantino, David Lynch oder Ridley Scott (Eder 2008: 10) und– was insbesondere die Auseinandersetzung mit Zeit anbelangt – durch Christopher Nolan etablierte . Neben dem Merkmal der Selbstreflexivität und alternative Handlungsentwicklungen sowie filminterne Spin-offs für Randfiguren zeichnet sich der postmoderne Film durch Intertextualität aus. Diese „Strategie der Doppelcodierung ermöglicht es […], verschiedene Gruppen eines in sich differenzierten Publikums gleichzeitig auf verschiedene Weise anzusprechen und macht einen Film für das mehrfache Sehen attraktiver“ (Eder 2008: 35). Intertextuelle Anspielungen finden sich bei Tykwers LOLA RENNT etwa auf Alfred Hitchcocks VERTIGO (USA 1958) in Form des Spiralmotivs1, auf Volker Schlöndorffs DIE BLECHTROMMEL (BRD/FRA 1979) durch eine Parallele zu Oskars Schrei, der das Glas einer Standuhr zerbrechen lässt, oder auf Fritz Langs METROPOLIS (D 1927), von Tykwer durch die monströse Uhr in der Anfangsszene zitiert (LOLA RENNT: 00:01:26) (Wittkamp 2006: 6).

Auch Bezüge zu anderen medialen Darstellungsmitteln wie dem Zeichentrickfilm und dem Computerspiel zeichnen sich ab. Ein neuartiger Einsatz findet sich hier in dem Gaming-Charakter, der sich durch Lolas Laufparcours in Anlehnung an Jump’n’Run-Spiele oder durch die zwei ‚Neustarts‘ nach misslungener ‚Mission‘ ergibt; der Tod von Lola bzw. von Manni assoziiert ein Game-Over. Auf diese Weise reiht sich LOLA RENNT passgenau in den Trend postmoderner Produktionen ein, denn

[c]harakteristisch für die postmoderne Art der Intertextualität ist dabei zum einen das Ziel, aus der Kombination des Alten etwas Neues, Eigenes hervorzubringen, vorgefundene Muster nicht nur für die Erzählung zu nutzen und ihnen zu folgen, wie dies viele Genrefilme schon immer getan haben, sondern durch Kombination und Variation neue Bedeutungen zu erzeugen und dadurch die in den Versatzstücken sedimentierten Sinnelemente und Affektstrukturen zu kommentieren. (Eder 2008: 15)

Ein weiteres Charakteristikum postmoderner Texte ist die Behandlung von Raum, Zeit und Individuum (Stutterheim 2011: 11). Wie Nolans MEMENTO (USA 2000) (vgl. Brössel 2015: 189–202) setzt auch LOLA RENNT seinen Fokus auf den Faktor Zeit (Milke 2017: 48 ff.): Das Zeitmotiv wird vielfach sowohl implizit als auch explizit in die Handlung eingebunden. Neben offensichtlich eingebrachten Wanduhren (in der Bank, vor dem Supermarkt, im Casino etc.), der Schildkröte (Langsamkeit), der alten Frau mit Armbanduhr oder Lolas Rennen unter Zeitdruck, nutzt Tykwer auch auf der Ebene des discours verschiedene filmästhetische Mittel wie Zeitraffung, Zeitdehnung, Vor- und Rückblenden oder Parallelbilder durch Split-Screen, um auf die zentrale Thematik des Films hinzuweisen. Auffällig ist zudem, dass die erzählte Zeit der Erzählzeit entspricht. Sowohl Lolas Deadline als auch die einzelnen Handlungsvarianten betragen 20 Minuten. Dieses Phänomen der Echtzeit-Ästhetik spielt also mit der „Kongruenz zwischen der Zeit der Darstellung und der Zeit des Dargestellten“ (Brössel/Kaul 2019: o. S.), lässt das Publikum glauben, „das filmische Geschehen laufe synchron zu seiner eigenen Zeit ab“ (ebd.) und verstärkt durch seinen ‚Simulations‘-Charakter die Nähe zur Gaming-Situation.

Weniger offensichtlich konfrontiert Tykwer den/die RezipientInnen mit der Frage nach dem Individuum und der (Ohn-)Macht gegenüber dem zufallsgesteuerten Leben. Daran schließt sich die Beobachtung an, dass sich der Film durch seine Protagonistin thematisch mit Religion auseinandersetzt. Schmitt argumentiert, die Postmoderne leite die Rückkehr zum Religiösen ein, und so fänden sich auch in LOLA RENNT entsprechende Elemente (vgl. Schmitt 2005). Zwar begegnet Lola in allen drei ‚Runden‘ einer Gruppe Nonnen, doch erst im letzten Durchlauf läuft sie nicht durch sie hindurch, sondern weicht ihnen aus. Mit ihrem Gebet „Komm schon. Hilf mir. Bitte. Nur dieses eine Mal. Ich lauf’ einfach weiter okay? Ich warte“ (LOLA RENNT 1998: 01:01:09) scheint Lola eine göttliche Macht heraufzubeschwören, die ihr „[m]itten in Berlin, wo es das nicht gibt, ein Casino als Rettungsort hinstellt“ (Schneider 2008: 108). Madonnengleich rettet sie anschließend einen Todkranken im Notarztwagen und alle Beteiligten werden in das Happy End der letzten Handlungsversion überführt. Lola scheint als einzige Figur das zufallsbasierte Leben durchbrechen zu können. Bedeutet das also, dass nur der Glaube an die göttliche Allmacht über die vernichtende Herrschaft der zufallsgeprägten Realität triumphiert (vgl. Schneider 2008: 110)? Tykwers LOLA RENNT entfaltet durch die vielen postmodernen Elemente eine deutlich komplexere Geschichte als zunächst sichtbar. Es geht nicht nur um Zeit, sondern auch um die Ohnmacht gegenüber dem Zufall, die Rolle des Einzelnen und die Macht des göttlichen Glaubens.

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1 Vgl. LOLA RENNT, z. B. Treppe (00:11:52), Beschriftung und Wandspirale an Telefonzelle (00:23:46), Kissen (00:51:05) etc.


Filme

LOLA RENNT (D 1998, Tom Tykwer).

METROPOLIS (D 1927, Fritz Lang).

VERTIGO (USA 1958, Alfred Hitchcock).

DIE BLECHTROMMEL (BRD/FRA 1979, Volker Schlöndorff).

MEMENTO (USA 2000, Christopher Nolan).


Forschungsliteratur

Althaus, Claudia/Christian Filk (1994): „Lücke im System – Zum Problem des Um-gangs mit dem Zufall“. In: Waltraud Wende/Karl Riha (Hgg.): Diagonal. Zeitschrift der Universität-Gesamthochschule Siegen. Zum Thema: Zufall 1. Siegen, S. 13–21.

Bartsch, Christoph (2015): „Zeit und Possible Worlds Theory. Eskapismus in ‚mögli-che Zeiten‘ in Jack Londons The Star Rover“. In: Antonius Weixler/Lukas Werner (Hgg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin/Boston, S. 53–78.

Brössel, Stephan/Susanne Kaul (2018): Echtzeit im Film. Konzeptualisierung, Wir-kungsweisen und Interrelationen. Wissenschaftliches Netzwerk. Münster. https://www.uni-muenster.de/Germanistik/Echtzeit/ (26.06.2018).

Brössel, Stephan (2015): „Zeit und Film. ‚Zeitkreise‘ in Christopher Nolans Memento“. In: Antonius Weixler/Lukas Werner (Hgg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin/Boston, S. 179–204.

Eder, Jens (2008): „Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre“. In: Jens Eder (Hg.): Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre. Hamburg.

Haase, Christine (2007): When Heimat meets Hollywood. German Filmmakers and America, 1985–2005. Camden House. Woodbridge.

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Köhler, Erich (1973): Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München.

König, Christiane (2004): Ein Blick auf die Rückseite der Leinwand. Feministische Per-spektiven zur Produktion von Weiblichkeit im Diskurs ‚Film‘. Tübingen.

Leschke, Rainer/Joachim Venus (2015): Spielformen im Spielfilm: Zur Medienmorpho-logie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld.

Lotman, Jurij M. (1986): Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. 2. Aufl. München.

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Schmitt, Axel (2005): „Die Wiederkehr des Religiösen in der Postmoderne. Gianni Vattimos Studie bewegt sich ‚Jenseits des Christentums‘“. In: literaturkritik.de 12. https://literaturkritik.de/id/8803 (21.06.2018).

Schneider, Gerhard (2008): „Jenseits des Identitätszwangs – auf der Suche nach …“. In: Parfen Laszig/Gerhard Schneider: Film und Psychoanalyse. Kinofilme als kulturelle Symptome. Gießen, S. 105–123.

Stutterheim, Kerstin (2011): Studien zum postmodernen Kino. Babelsberg.

Surkamp, Carola (2002): „Narratologie und possible-worlds-theory: Narrative Texte als alternative Welten“. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hgg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier, S. 153–183.

Tykwer, Tom (2010): Lola rennt. Interview mit Tom Tykwer. http://www.tomtykwer.com/de/Filmographie/Lola-rennt/Entstehung (19.06.2018).

Wittkamp, Robert F. (2006): Lola rennt – continent: Eine mögliche Beobachtung zum Dikrus von Gesellschaft, Film und Wissenschaft”. In: Doitsu Bungaku/Deutsche Literatur. H. 50. Osaka, S. 111–130. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/10528 (19.06.2018).