Vorwort

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Das vorliegende Heft unserer Paradigma-Reihe versammelt Beiträge zu ausgewählten Etappen der deutschen Filmgeschichte, hervorgegangen aus einem Seminar, das im Sommersemester 2018 am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität durchgeführt wurde.

Den Auseinandersetzungen, wie im Seminar vorbereitet und hier nun zusammengestellt, liegt ein zweifaches Interesse zugrunde: Erstens die Beantwortung der Frage, wie eine Geschichte des deutschsprachigen Films aussehen könnte, welche Merkmale einzelne Etappen aufweisen und welche Strukturwandel zu beobachten sind; zweitens die Beantwortung der ‚alten‘ Frage danach, wie Text/Kontext-Relationen heuristisch sinnvoll in den Griff zu bekommen wären. Sind gegebene Instrumentarien, Analysekategorien und Beschreibungsvokabularien genugsam und was lässt sich ganz konkret ‒ an einem Beispiel exemplifiziert ‒ mit ihnen bewerkstelligen?

Was den ersten Bereich anbelangt, so kann das Heft nur einen schlaglichtartigen Blick bieten. In der chronologischen Abfolge einzelner Stationen des deutschen Films und anhand von Hinweisen auf filmhistorische Vernetzungen sollte aber zumindest eine grobe Linie aufgezeigt sein. Vor allem aber will sich die ‚lose Filmgeschichte‘, wie sie hier vorliegt, als Anreiz verstanden wissen, aufgezeigte Lücken durch weiterführende Beschäftigungen zu füllen. Die Etappen jedenfalls zum Weimarer Kino, zum Nachkriegsfilm, zum Neuen Deutschen Film, zum DDR-Film, zum Film der 1980er- und 1990er-Jahre und schließlich zum aktuellen Film werden je nur angerissen und anhand eines Beispiel aufgerollt und verhandelt. Der Frühe Film und der Film der NS-Zeit fehlen ganz. Auch mussten hochrelevante Serienformate der aktuellen deutschen Fernsehproduktion ausgeklammert werden. Etwa STROMBERG (2004–2012), DER TATORTREINIGER (2011–2018), LERCHENBERG (2013 ff.) WEINBERG (2015) und DARK (2017 ff.) stellen Produktionen dar, die hier ganz zu Recht vermisst werden. Es gibt also noch Einiges zu tun. Vielleicht ein Anstoß für die künftige Forschung, für Haus- und Abschlussarbeiten?

Den zweiten Komplex hat das Seminar unter Rückgriff auf eine kultursemiotische Zugriffsweise zu handhaben versucht, gestützt durch drei einschlägige Ansätze ‒ wobei sicherlich Michael Titzmanns Begriff des kulturellen Wissens den fundamentalsten Pfeiler einer kontextsensitiven struktural-semiotischen Auseinandersetzung mit Untersuchungsgegenständen darstellt. Flankiert wurden dessen Basisannahmen ‒ ausführlich in seiner in den 1970er-Jahren in den deutschsprachigen Raum eingeführten strukturalen Textanalyse ‒ von Martin Siefkes’ semiotischer Diskursanalyse und Martin Nies’ Kultursemiotik1, die jeweils methodologisch unterschiedliche Wege einschlagen, stets aber ausgehen vom Gegenstand des ‚Textes‘, von Zeichen und Zeichensystemen und ihrer Verwendungspraxis: Ein interessantes und auch in metatheoretischer Perspektive lohnendes Feld künftiger Auseinandersetzungen. Und das nicht nur bezogen auf aktuelle Phänomene ‒ wie sie etwa die genannten Serien filmisch verarbeiten ‒, sondern auch in Bezug auf damalige Kulturen. Zum Beispiel mit Blick auf den NS-Film. So ließe sich anhand von DIE FEUERZANGENBOWLE (1943/44) aufzeigen, inwiefern sogar in einem oberflächlich harmlosen Film – dem ja im Übrigen bis heute ein ‚Klassiker‘-Status beigemessen wird und der alljährlich im Rahmen von universitären Weihnachtsfeierlichkeiten rezipiert wird – NS-Ideologeme eingearbeitet sind und diese durch ihn kommuniziert werden. Denn bei aller Kurzweil und erzählerischer Finesse ‒ der Film kann mit Blick auf sein Ende als Mind-Bender-Film gelesen werden ‒, ist im Rahmen der ‚Auseinandersetzungen‘ zwischen den alten Autoritäten der Lehrer und den jungen Schülern die Figur des Oberlehrers Dr. Brett hervorgehoben. Dieser unterbindet den Schabernack seiner Zöglinge, kennt bereits jeden Trick und gilt daher als unbeugsam. Und er steht für die ‚neue Methode‘ im pädagogischen Umgang an der Lehranstalt. Auffällig dabei ist, wie Brett die Denkfigur des Waldes ‒ die für das nationalsozialistische Denksystem zentral ist (vgl. EWIGER WALD [D 1936]) ‒ mit einem Militärjargon verknüpft und so die Erziehung einer dezidiert ‚neuen Zeit‘ aufzeigt. In doppelter Kommunikation angelegt zwischen Brett und einem Repräsentanten der Weimarer Republik ‒ Lehrer Bömmel ‒ sowie zwischen Film und Publikum, kann DIE FEUERZANGENBOWLE als bemerkenswertes Zeitdokument angesehen werden, das instruktiv vor Augen führt, wie Unterhaltung und Propaganda verschränkt worden sind.2 Kultursemiotisch formuliert: Im Film werden auf subtile Art und Weise Ideologeme seines Entstehungskontextes aufgerufen und kommuniziert ‒ vor allem aber unmarkiert als ‚normal‘ gesetzt. Das, was Dr. Brett über Krieg und Frieden sagt, das, was er über Disziplin und den Wuchs junger Bäume erläutert, das wird als Lösungsangebot zwecks Domestizierung der jungen ‚Wilden‘ eingeführt und bestätigt, und zugleich als Methode der ‚neuen Zeit‘ ‒ ebenfalls eine zentrale Denkfigur der Nationalsozialisten (wie etwa in Goebbels Rede im Kaiserhof am 28.03.1933 ausgerufen) ‒ angepriesen. Man kann dies dem Film vorwerfen ‒ sogar ganz berechtigt ‒, man sollte es zunächst aber aus wissenschaftlicher Perspektive analytisch herausarbeiten und benennen: als Speicherfunktion, die der Film hier übernimmt. Er ist ein kultureller Speicher für zentrale Konzepte, Problemstellungen und Diskurse derjenigen Zeit, die ihn hervorgebracht hat. Auch wenn der Film als Filmerzählung gut gealtert sein mag, er ist doch auch ein Produkt des nationalsozialistischen Deutschland der 1940er-Jahre. Es ließe sich mehr sagen; als einführendes Beispiel möge dieser Einblick aber genügen – weitere Auseinandersetzungen zum Film der 1920er- bis 2010er-Jahre finden sich auf den folgenden Seiten.

Der Herausgeber dankt allen Beiträgern für die ergiebigen Seminardiskussionen und für die Arbeit an den vorliegenden Artikeln ‒ eine Arbeit, die immer auch eine Arbeit über die zeitlichen Grenzen eines Seminares hinaus darstellt und insofern eines längeren Atems bedarf. Das erfreuliche Ergebnis dieser Ausdauer liegt nun in den Händen der Leserschaft. Danke! Besonderer Dank gilt auch Annika Herrmann, die tatkräftige Hilfe bei der Herstellung einer übergreifenden ‚groben Linie‘ des Heftes geleistet hat, und Alexandra Schwind und Jasper Stephan, die den überwiegenden Teil der Redaktionsarbeit übernommen und für einen reibungslosen Ablauf hinter den Kulissen gesorgt haben.


Stephan Brössel
Münster, im Juni 2019

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1 Vgl. auch den breiteren disziplinären Rahmen, den die kultursemiotische Forschung inzwischen etwa in der Arbeit des Virtuellen Zentrums für kultursemiotische Forschung einnimmt (http://www.kultursemiotik.com/; 01.03.2019).
2 Einen allgemeinen und vielseitigen Überblick zum Film im NS-Staat bietet das die Seite filmportal.de (https://www.filmportal.de/thema/hinweis-zur-dokumentation-der-filme-der-ns-zeit-bei-filmportalde; 13.12.2018).