100 JAHRE ADOLF HITLER – Abnutzung und Dekonstruktion eines Mythos

Holger Grevenbrock, Julian Kaupmann

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Der Bunker als die Sichtbarmachung eines ‚verborgenen Deutschlands‘
In nur 16 Stunden Drehzeit gelingt es Christoph Schlingensief, in einem Mühlheimer Bunker ein Chaos zu inszenieren, das die klaustrophobische und apokalyptische Stimmung der letzten Stunden der nationalsozialistischen Führungselite zeigt. Hierbei wird der Wahnsinn einer gescheiterten Ideologie deutlich: Inzest, Intrigen und Gewalt sind bestimmende Merkmale einer Ordnung, die ihren Untergang selbst herbeiführt. Dabei folgt der Film 100 JAHRE ADOLF HITLER (D 1988/89) keiner linearen Erzählweise; Ort und Zeit der Handlung werden nicht weiter expliziert: „Die Ur-Aufgabe des Kinos, Raum und Zeit zu konstituieren (und daher und somit: zu ‚erzählen‘), wird radikal verweigert: es ist der ortlose und der zeitlose Film“ (Seeßlen: 2018).

Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, die Verfahren einer Bedeutungsvermittlung frei zu legen. Erst dann wird es möglich sein, 100 JAHRE ADOLF HITLER im Diskursfeld des deutschen Films zu betrachten. Fokussiert werden soll ein bestimmtes Verhältnis zu Deutschland, Heimat und Geschichte, das sich in den behandelten Texten jeweils unterschiedlich materialisiert. In Schlingensiefs Auftakt seiner Deutschlandtrilogie1, so die These dieses Beitrags, manifestiert sich ein Bild von Deutschland, das den/die ZuschauerIn auf Distanz hält, indem es ein im Verborgenen existierendes Deutschland zur Darstellung bringt.

Gleich zu Beginn wird der Innenraum Bunker in Opposition zum Außenraum Deutschland gesetzt. Direkt gezeigt wird Letzterer jedoch nicht, sondern findet über das Medium des Fernsehers Eingang in die Lebenswelt des Bunkers. Dieser zeigt den Regisseur Wim Wenders, wie er den Regiepreis für DER HIMMEL ÜBER BERLIN (D 1987) entgegennimmt. Demzufolge ließe sich das Geschehen auf das Jahr 1988 datieren. Die Figuren innerhalb des Bunkers erweisen sich jedoch als isoliert zur äußeren Wirklichkeit. Hitler – als gebrochener Charakter von Udo Kier dargestellt – glaubt noch immer an die Möglichkeit eines Großdeutschen Reiches, wenn er sagt: „Ganz Deutschland ist meine Heimat!“ (100 JAHRE ADOLF HITLER: 00:01:18), und auch die übrigen Figuren ergehen sich wiederholt in Intrigen und Machtspielen, die auf eine weiterhin intakte Machtstruktur verweisen. Die Zeit, so legt das Geschehen innerhalb des Bunkers nahe, steht still. Wenn etwa ein aufgewühlter und kindlich aufgekratzter Göring zu Bohrmann hinüberläuft, um diesen zum wiederholten Male vom Verrat Fegeleins zu berichten, ist dies nur einer von vielen Belegen dafür, dass sich die Geschichte nicht fortbewegt (vgl. 00:17:10–00:18:302).

Dass sich die Lebenswirklichkeit des Bunkers gegenüber der äußeren Wirklichkeit als ganz und gar autonom darstellt, führt die Weihnachtsfeier vor, die am Todestag des Führers, dem 30. April 1945, stattfindet. Rituale wie dieses widerstreben der Interpretation einer anarchischen Ordnung. Im Gegenteil sind sie Beleg einer weiterhin intakten Normen- und Wertestruktur, die sich allerdings für den äußeren Betrachter nur bedingt nachvollziehen lässt. Aus diesem Grund führt Georg Seeßlen den Begriff des Ritems ein, als „eine abgeschlossene Handlung, die weder im Sinne einer Ursache/Wirkungs-Realität, noch im Kontext einer Story, noch in einem vorhandenen Code ‚Sinn‘ erzeugen, wohl aber als Kommunikation innerhalb des Filmes und seiner Wesen“ (Seeßlen 2015: 88). Doch auch wenn sich das Geschehen für den analytischen Blick als hermetisch darstellt und sich keine sinnhafte Handlung rekonstruieren lässt, sind es unmittelbare Assoziationen, die die Bilder hervorrufen und die Ideologie des Nationalsozialismus als inzestuös, gewalttätig und autodestruktiv kennzeichnen. Gerade in der Verweigerung einer stringenten Erzählung, vermittelt sich das Gezeigte als die Beschreibung eines inneren Zustands. Vor diesem Hintergrund wäre der Bunker als Heterotopie im Sinne Michel Foucaults zu bewerten, der isoliert zur äußeren Wirklichkeit Westdeutschlands weiter existiert und über eigene Codes und Zeichen verfügt (vgl. Foucault 1967: 39). Der Bunker bringt ein anderes Deutschland zur Darstellung, das jenem von Wim Wenders repräsentierten Westdeutschland diametral gegenübersteht. Dieser äußert sich in seiner Rede zum aufklärerischen Potenzial des Kinos: „Wir können die Bilder der Welt verbessern und damit können wir die Welt verbessern.“ (00:01:42–00:01:49)3

Der im Film selbst präsente Filmemacher Schlingensief inszeniert sich als Antagonist gegenüber Wenders, indem er das Triebhafte, Irrationale zur Darstellung bringt. Anders als Wenders Filme widerstrebt 100 JAHRE ADOLF HITLER jeder äußeren Sinnzuschreibung. Geschichte als Erklärungsmodell wird ad absurdum geführt, so etwa wenn Eva Braun vorliest, der Krieg wäre zu gewinnen gewesen, wenn nur die Zeit die richtige gewesen wäre (vgl. 00:37:49–00:38:50). Das exzessive Bestreben nach historischer Exaktheit gipfelt zudem in der Beschriftung einer Texttafel. Nicht allein der Tag wird genannt, sondern auch die genaue Uhrzeit. Die Exaktheit von Ort und Zeit verbürgen demnach für den Wahrheitswert des Behaupteten (vgl. 00:04:09). Geschichte als sinnstiftender Diskurs wird in seinem Ziel, ein geschlossenes Modell von Welt zu transportieren, überhöht und in seiner Kontingenz ausgestellt. 100 JAHRE ADOLF HITLER verfolgt hierzu ein entgegengesetztes Verfahren. Statt Wirklichkeit mimetisch abzubilden, wird das Gezeigte schon zu Beginn des Films als das Resultat einer Inszenierung markiert. Die aus dem Off verlautende Stimme Schlingensiefs, im Bild präsente Kameraklappen, die auf ein Minimum reduzierten Produktionsmittel ‒ all dies sind Verfahren, die dazu dienen, den Produktionsprozess selbst in die Diegese einfließen zu lassen. Auch wenn das Gezeigte vor der Kamera auf diese Weise in seiner Gemachtheit ausgestellt wird, erfährt die Rahmenhandlung ein Mehr an Authentizität.

Geschichte, so das vorläufige Fazit, wird in 100 JAHRE ADOLF HITLER in ihrer Funktion als Sinn beziehungsweise Realität herstellender Diskurs herabgesetzt als die bloße Ansammlung von Tatsachen. Demgegenüber erfährt der Film als Medium eine Aufwertung, da er sowohl imstande ist, sich selbst infrage zu stellen als auch eine Wahrheit zu behaupten, die abseits einer positiven Wirklichkeit Geltung beansprucht. Die ZuschauerInnen sind nicht wie üblich Zeugen eines psychischen Prozesses, den das Medium Film abbildet, sondern der Film selbst – der Raum, den die Kamera einfängt – „ist selber ein psychischer Prozess“ (Seeßlen: o. S.).4

100 JAHRE ADOLF HITLER und das Trauma des Nationalsozialismus
In Schlingensiefs 100 JAHRE ADOLF HITLER geht es darum, ein bestimmtes Bild von Deutschland zur Disposition zu stellen. Schon der Titel liest sich als Provokation und Anklage gleichermaßen:

Indem Schlingensief im Titel die irritierende Verbindung zwischen nationaler Erinnerungskultur und kollektiver Abgrenzungsbestreben knüpft, macht er auf die bis heute fehllaufende Entwicklung in der Verarbeitung der deutschen Vergangenheit aufmerksam. (Seeßlen 2015: 87 f.)

Statt das Trauma des Nationalsozialismus auf eine Zeit und einen Ort zu fixieren und damit von der Gegenwart abzugrenzen, realisiert der Film vielmehr die Aufhebung der Grenze. Konsequenterweise gelingt es schließlich Eva Braun und Hermann Fegelein, der Isolation des Bunkers zu entfliehen: „In die Freiheit. In die Zukunft, die auch unsere Gegenwart ist.“ (Ebd.: 89) Der Film endet schließlich mit den Worten Franz Josef Strauß’:

Die Deutschen müssen endlich lernen, dass in diesem Leben nicht alles nach einer mathematischen Gleichung aufgeht: 2 mal 2 ist 4. Sie sollen weniger romantisch sein, weniger schwärmerisch sein und sie sollen vor allen Dingen weniger ideologieträchtig sein. (100 JAHRE ADOLF HITLER: 00:49:13–00:50:24)

Faschismus lässt sich in 100 JAHRE ADOLF HITLER nicht allein auf historische Ursachen reduzieren, vielmehr sind es bestimmte mentale Dispositionen, die ihm erst zu seiner Realisierung verhelfen. „[T]he trilogy offers no spaces ‘outside’ or ‘beyond’ the politics of exclusion, no critical position that is not itself implicated in the system“ (Vander Lugt 2010: 39).

Hieran zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zum vorangehenden Neuen Deutschen Film. Eine kultursemiotische Perspektive ermöglicht eine argumentative Vergleichsbasis, indem stilistisch wie formal unterschiedliche Filme unter demselben Paradigma subsumiert werden. Ausgehend vom Text selbst sollen also vor dem Hintergrund einer deutschen Filmgeschichte Entwicklungslinien nachverfolgt wie auch Brüche transparent gemacht werden. Am Beispiel von 100 JAHRE ADOLF HITLER lässt sich zeigen, dass er die Tradition des Neuen Deutschen Films fortführt. Er präsentiert ein anderes Deutschland und begreift das Medium Film als Mittel zur Kritik. Die Art und Weise der Kritik unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich von einem Regisseur wie Fassbinder. Letzterer übt Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, indem er marginalisierte soziale Gruppen in den Fokus nimmt und auf diese Weise das Bild eines anderen Deutschlands entwirft (vgl. Marek 2009) (Rainer Werner Fassbinders Faustrecht der Freiheit). Schlingensief greift dagegen nicht auf das Mittel der Subversion zurück, sondern auf jenes der Übertreibung. Nicht von ungefähr lassen sich auf formaler Ebene zahlreiche Parallelen zum Expressionistischen Film erkennen: „Der Expressionismus […] schien ja für seine Protagonisten und Theoretiker […] eine Methode, das Unsichtbare sichtbar zu machen, zum Selbstausdruck zu bringen, auch durch das Mittel der Übertreibung.“ (Seeßlen 2015: 49) (Das Cabinet des Dr. Caligari) ,Deutschland‘ wird als etwas bereits Gegebenes vorgeführt, das irgendwo zwischen Wagner, Bockwurst, Weihnachten und Sankt Martin, Romantik und Franz Josef Strauß anzutreffen wäre. Der Film bedient sich somit bestimmter Propositionen, die von einer Kultur nicht weiter hinterfragt werden und gerade deshalb identitätsstiftendes Potenzial für eine Gesellschaft besitzen:

Da die kultur- bzw. textspezifische Modellierung der Merkmalsbündel ‚Eigenes‘ vs. ‚Fremdes‘ wie auch die der Grenze zwischen diesen Bereichen auf Propositionen beruht, die in der Regel selbst nicht mehr hinterfragt werden, ist der Akt einer derartigen Grenzziehung immer ein ideologischer. (Martin Nies 2012: 17)

Der Bunker kommt damit einem allegorisierten obszönen Kern gleich, in dem sich jene verdrängten Anteile verorten lassen, die das Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erst konstituieren. Nationale Ereignisse, die das Gedenken zelebrieren – so wäre eine mögliche Lesart des Films –, verhindern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Trauma der Schuld, und auch Debatten, wie der zu dieser Zeit noch aktuelle Historikerstreit, werden an der Oberfläche des Themas ausgetragen, ohne wirklich dessen Tiefen auszuloten.

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1Neben 100 JAHRE ADOLF HITLER komplettieren DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER (D 1990) und TERROR 2000 – INTENSIVSTATION DEUTSCHLAND (D 1992) die Trilogie.

2100 JAHRE ADOLF HITLER. DIE LETZTE STUNDE IM FÜHRERBUNKER (D 1988/89, Christoph Schlingensief).

3Zum Ende des Films wird die Rede von Wim Wenders ein zweites Mal im Fernsehen gezeigt (vgl. ebd.: 00:48:57).

4Dieter Kuhlbrodt, einer der regelmäßigen Schauspieler in Schlingensiefs Filmen, bezeichnet die Methode Schlingensief als eine Art Verarbeitung und reflektiert zugleich die persönliche NS-Vergangenheit: „Das Unterlassene und Verdrängte kommt jetzt wieder hoch. Es will raus. Es geht raus. Dank Schlingensiefs Therapie. Auwei, schon wieder. Da steht es jetzt. Den Begriff Therapie hat er niemals benutzt. Eher so etwas wie aufmachen, was zu ist. Oder: wenn was stört, nicht sich beschweren, sondern in die Sache reingehen und sie von innen her aufmischen“ (Kuhlbrodt 2015: 15).


Filme

100 JAHRE ADOLF HITLER. DIE LETZTE STUNDE IM FÜHRERBUNKER (D 1988/89, Christoph Schlingensief).

DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER (D 1990, Christoph Schlingensief).

TERROR 2000 – INTENSIVSTATION DEUTSCHLAND(D 1992, Christoph Schlingensief).

DER HIMMEL ÜBER BERLIN (D 1987, Wim Wenders).


Forschungsliteratur

Foucault, Michel (1993): „Andere Räume.“ In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. Leipzig.

Kuhlbrodt, Dieter (2015): „Vorwort.“ In: Georg Seeßlen (Hg.): Der Filmemacher Christoph Schlingensief. Berlin, S.11–19.

Marek, Michael (2009): „Papas Kino ist tot! ‒ Das Oberhausener Manifest“. In: DW Kultur. https://www.dw.com/de/papas-kino-ist-tot-das-oberhausener-manifest/a-4315391 (13.11.2018).

Nies, Martin (2012): „Deutsche Selbstbilder in den Medien. Kultursemiotische Per-spektiven.“ In: Martin Nies (Hg.): Deutsche Selbstbilder in den Medien. Film – 1945 bis zur Gegenwart. Marburg, S. 11–22.

Seeßlen, Georg (2015): Der Filmemacher Christoph Schlingensief. Berlin.

Seeßlen, Georg (2018): Über die Filme, das Theater und die Talkshow. http://www.schlingensief.com/bio_seesslen.php. (20.06.2018).

Vander Lugt, Kristin T. (2010): „An Obscene Reckoning: History and Memory in Schlingensief’s Deutschlandtrologie.“ In: Tara Forrest/Anna Teresa Scheer (Hgg.): Christoph Schlingensief: Art without borders. Bristol, S. 39–55.