Echtzeit und Realeffekt in VICTORIA

Mona von Homeyer, Diana Storcks

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Der Film VICTORIA (D 2015) von Sebastian Schipper, der am Wettbewerb der Berlinale 2015 teilnahm, wurde von der Kritik gelobt und als „vor Energie und Unmittelbarkeit berstender Film“ (Kurz 2015: o. S.) bezeichnet. Der Film, der dreimal gedreht wurde bis Schipper mit dem Resultat zufrieden war, besteht aus einer einzigen Plansequenz ohne Schnitte und Montage.

Die Protagonisten Sonne, Boxer, Blinker und Fuß bezeichnen sich selbst als ‚real Berlin guys‘ und treffen die junge Spanierin Victoria in einem Nachtclub in Berlin. Von Spontaneität geleitet verlassen sie gemeinsam den Club und streifen durch die Straßen des nächtlichen Berlins. Die Kamera folgt der Gruppe stets und ist dabei auf Victoria fokussiert. Als Fahrerin des Fluchtwagens hilft sie den jungen Männern dabei, eine Schuld Boxers zu begleichen, indem sie gemeinsam eine Bank überfallen. Als einzige Überlebende des sich anschließenden Schusswechsels mit der Polizei entkommt Victoria mit dem Diebesgut.

Echtzeit und Echtraum
Da sich die Zeit der Erzählung mit der Dauer des Films deckt, kann man bei VICTORIA von einem Film in Echtzeit sprechen: „Enthält die Erzählung des Films keine Ellipsen, dauert der Film also genauso lange wie der gefilmte Zeitraum, fallen Erzählzeit und erzählte Zeit zusammen. Man spricht dann oft von einer Darstellung mit Zeitdeckung.“ (Schlichter 2012) VICTORIA besteht aus nur einer Einstellung, die Handlung wird nicht durch Schnitte unterbrochen und chronologisch dargestellt. Somit fängt die Kamera das Geschehen 140 Minuten ohne Pause ein und erzeugt einen Realeffekt, da der/die ZuschauerIn dem Geschehen unmittelbar beizuwohnen scheint.

Hinsichtlich der Gestaltung des topografischen Raumes lässt sich feststellen, dass Berlin als Ort der Diegese fungiert und, aufgeladen mit städtischen Merkmalen, bedeutungskonstituierend ist. So befinden sich die Figuren in einem Nachtclub, einem Kiosk, einem Café, einem Hotelzimmer und in den Straßen der Stadt. Der Handlungsverlauf, wie er in VICTORIA in Echtzeit präsentiert wird, ist nur in einem urbanen Raum wie Berlin möglich, da dieser eine Vielzahl an unterschiedlichen Lokalitäten bietet, die sich in unmittelbarer Nähe voneinander befinden. Die Bewegung zwischen den Räumen erfolgt zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto. Die Figuren sind dadurch selbstständig, mobil und nicht fremdgesteuert oder auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Die Straße kann dabei als verbindendes Element zwischen den Räumen gesehen werden, wobei sie gleichzeitig ein zentraler Ort der Handlung ist. Auf der Straße werden Gespräche geführt, es werden Entscheidungen getroffen und Ereignisse finden statt. Berlin ist unter anderem semantisiert als Ort der Spontaneität und Internationalität, der Einsamkeit und der Gemeinschaft. Dieser Ort, an dem alles möglich zu sein scheint, ist somit ein idealer Raum für die Dichte der ‚spontanen‘ Ereignisse in VICTORIA. Abstrakt-semantische Räume, die der Film aufmacht, sind unter anderem Freundschaft, Loyalität, Liebe und Familie. Die Loyalität steht im Zentrum der Freundschaft der jungen Männer. So stehen alle für Boxers Schuld ein, indem sie ihm bei dem Banküberfall helfen. Zudem werden die Räume neu semantisiert: Freunde werden in der Welt von VICTORIA zu einer Art Ersatzfamilie. Die Familiarisierung wird beispielsweise daran ersichtlich, dass sich die ProtagonistInnen ‚sister‘ und ‚Bruder‘ nennen.

Ein weiteres, mit Echtzeit zusammenhängendes Merkmal ist die Nicht-Auflösung des szenischen Raumes: Die Welt in VICTORIA stellt ein absolutes Raum-Zeit-Kontinuum dar. Der Film vermittelt die Proposition1: Ich bin ein Film, der ohne Montage auskommt. Dies belegt ex negativo die Montage als gattungsspezifisches Merkmal des Films, denn Voraussetzung für diese Aussage ist das kulturelle Wissen um das Medium Film. Bestehen die ersten Filme der Brüder Lumière ab 1894 aus nur einer Einstellung, entwickeln sich diese single-shot-scenes des Attraktionskinos seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Prinzip des continuity editings zu mehrgliedrigen Filmen, die aus einer Abfolge von Sequenzen bestehen, die wie unsichtbar aneinander gefügt werden, sodass sowohl eine räumliche als auch zeitliche Kontinuität suggeriert wird mit dem Ziel, einen flüssigen Handlungsablauf darzustellen (vgl. Beller 1993: 14–15; Bordwell/Thompson 2008: 231 u. 245). Dieses Montageideal ist bis heute populär und Voraussetzung dafür, dass die ‚Nicht-Montage‘ als bedeutungskonstituierend in VICTORIA erkannt werden kann. Das Medium Film und seine Möglichkeiten ästhetischer Kommunikation werden hinsichtlich der Raum-Zeit-Gestaltung reflektiert.

Die Instanz der Kamera und realistisches Erzählen
Mit dem Wegfall der Montage als raum- und zeitorganisierendes und gestalterisches Stilmittel (vgl. Lange 2007: 54) kommt der Kamera in VICTORIA eine außergewöhnliche Bedeutung zu.2 In einer sich dem Geschehen anpassenden Bewegung, die in einer fließenden Kombination verschiedener Elemente wie dem Schwenk und der Kamerafahrt besteht, entwickelt sie einen signifikanten Stil, der den Film auf spezifische Art strukturiert und gestaltet. Die markantesten Beispiele für vorwärtsgerichtete Kamerafahrten in VICTORIA lassen sich in den Sequenzen feststellen, in denen die ProtagonistInnen sich fortbewegen – zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto (vgl. VICTORIA: 00:10:46–00:11:10; 00:35:24–00:35:48 u. 01:01:15–01:01:38). Im Rahmen des One Take wird die dynamische Handlung als eine ständige Vorwärtsbewegung durch die Stadt inszeniert, die an den verschiedenen Schauplätzen in kleine ortsgebundene Szenen übergeht. Die Kamerafahrt kann bei den ZuschauerInnen „eine sogenannte induzierte Eigenbewegung erzeugen, das heißt, es kann durch einen visuellen Reiz die Illusion einer Eigenbewegung […] entstehen“ (Khouloki 2007: 57), wodurch der Eindruck einer Realerfahrung erzeugt werden kann. In diesen following shots folgt die Kamera den Figuren jedoch selten starr vorwärts gerichtet, sondern schwenkt währenddessen oft zwischen den Figuren hin- und her (vgl. 00:09:48–00:11:03 u. 00:46:27–00:47:13). Horizontale Schwenks werden vor allem in Figurendialogen eingesetzt; in Kombination mit vertikalen Schwenks kommen sie zum Einsatz, wenn sich der Kamerablick auf Details der Situation richtet oder Figurenhandlungen folgt (vgl. 01:07:13–01:07:28).

Das heißt, die Kamerabewegungen kommen in ihrer Kontinuität der Alltagswahrnehmung der BetrachterInnen nahe und schaffen damit den Effekt einer realen Raumillusion. Darüber hinaus kann durch die Echtzeit eine emotionale Involvierung der ZuschauerInnen beziehungsweise Immersion erzeugt werden, „also eine Form des quasi-somatischen Einbezugs des Zuschauers, häufig metaphorisiert als ‚Eintauchen‘ in die dargestellte Welt“ (Schabacher 2012: 43). Unterstützt wird dieses ‚Eintauchen‘ dadurch, dass die Kamera zwar in ihrer physischen Distanz zum Geschehen variiert, jedoch vergleichsweise nahe an den Figuren bleibt. In VICTORIA werden die Personen den ganzen Film hindurch häufig in Nahaufnahmen gezeigt, wobei die Kamera teilweise lange auf den Gesichtern der Figuren verharrt wie beispielsweise in den Szenen zwischen Victoria und Sonne im Café oder im Hotelzimmer (vgl. 00:44:09; 00:49:45 u. 02:30:56). Die Kamera fängt die Reaktionen und Emotionen der ProtagonistInnen direkt ein, sodass die emotionale Einbindung das Gefühl der Immersion in den Filmraum verstärkt. Somit werden die BetrachterInnen nicht nur kinästhetisch in den Filmraum hineingezogen, sondern auch emotional. Auffällig ist die deutliche Fokalisierung Victorias durch die Kamera. Wenngleich die Geschichte nicht aus ihrer Perspektive erzählt wird, steht Victoria nicht nur im Mittelpunkt der Handlung, sondern wird von der Kamera auch immer wieder ins Zentrum des Bildkaders gerückt, bis auf wenige Augenblicke, in denen sie aus dem Blickfeld der Kamera verschwindet beziehungsweise nur unscharf im Hintergrund zu sehen ist. Die Kamera kann daher als zentrale Erzähl- und Vermittlungsinstanz identifiziert werden, die einem schweifenden Zuschauerblick gleich Personen und Handlungen ins Blickfeld rückt ‒ und zwar ohne Schnitt. Demnach wird eine montageähnliche Vielfalt in der Gestaltung verschiedener Bildausschnitte geschaffen, wodurch Figurenverhältnisse „elegant aus der Szenerie [entwickelt werden], anstatt mit Montage einfach einen kleineren Bildausschnitt aus dem Gesamtgeschehen zu stanzen“ (Khouloki 2007: 84).

Die Hervorhebung der Kamera zur Erschaffung einer Wirklichkeitsillusion im Film führt auch der französische Filmtheoretiker und -kritiker André Bazin in seiner Filmtheorie an. Er sucht die „Komposition in der Bildtiefe in einer teilweisen Aufhebung der Montage, die ersetzt wird durch häufige Panoramafahrten und Auftritte in das Bild. Sie berücksichtigt die Kontinuität des dramatischen Schauplatzes und [...] dessen Dauer.“ (Bazin 2003: 268). In einer Art „inneren Montage“ (Lange 2007: 55) wird der szenische Raum in VICTORIA nicht aufgelöst, wodurch der Effekt einer realen Raumillusion geschaffen wird.

Es handelt sich um eine quasidokumentarische Darstellungsweise, die den ZuschauerInnen suggeriert, ‚dabei‘ zu sein, gleichsam die Grenze zwischen Zuschauerraum und Leinwand zu durchbrechen, in die Diegese einzutauchen und mit Victoria, Sonne, Boxer, Blinker und Fuß in Echtzeit durch das nächtliche Berlin zu ziehen. Doch VICTORIA ist ein fiktionales Filmkunstwerk, dessen Form und Ästhetik diesen Effekt erst ermöglichen. Dies geschieht nicht nur durch die Kinematografie, sondern auch mithilfe der Mise-en-scène. So wurde beispielsweise nur mit natürlichem Licht gearbeitet und die Dialoge waren zum Großteil improvisiert, basierend auf dem 12-seitigen Drehbuch. Auch die von der Gruppe aufgesuchten Orte existieren bis auf den Untergrund-Club wirklich. Die Inszenierung lässt somit Raum für Improvisation und spontane Dialoge, die nicht im Drehbuch stehen, aber dennoch intendiert sind.

Dieses Spiel mit Realität und Fiktion, Improvisation und Inszenierung weist VICTORIA als Film des Gegenwartskinos aus. Insbesondere dessen Tendenzen zur künstlerischen Darstellung der Wirklichkeit, zur Selbstreflexion des Mediums, zum Experimentieren mit filmischen Formen bis hin zum Bruch mit Konventionen (vgl. Ebbrecht/Schick 2011: 14 f.) lassen sich in VICTORIA erkennen. In jüngerer Vergangenheit wurde beispielsweise ebenfalls in den Filmen GRAVITY (USA/UK 2013) und BIRDMAN OR (THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) (USA 2014) mit Plansequenzen experimentiert. Die Funktionalisierung von Echtzeit und der damit verbundene Realeffekt lassen offenkundig unter anderem auf ein „Bedürfnis nach Authentizität“ (Brössel/Kaul 2018) wie auch auf ein reflexives Spiel mit dem Medium Film im Gegenwartskino schließen.

Kultursemiotische Bezüge lassen sich somit in VICTORIA mit Blick auf discours- und auf histoire-Ebene herstellen. Auf histoire-Ebene werden in VICTORIA zentrale Probleme und Fragen der Generation Y aufgegriffen, indem relevante Themen außerfilmischer Wirklichkeit wie Einsamkeit und Gemeinschaft, Liebe und Freundschaft, Globalität und Spontaneität dargestellt werden. Auf der Ebene des discours wird die Selbstreferenzialität des Mediums Film verhandelt sowie in der Reflexion filmischer Mittel das Potenzial des Gegenwartskinos aufgezeigt, eine unmittelbare, mitreißende Filmerfahrung zu schaffen.

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1 Propositionen sind nach Michael Titzmanns strukturaler Theorie Aussagen eines Textes: „Die Gesamtmenge der (expliziten oder impliziten) ableitbaren Propositionen ist praktisch mit der Bedeutung des Textes äquivalent [...].“ (Titzmann 2017: 83) Explizite Propositionen werden in diesem Zusammenhang als Behauptungen verstanden, während es sich bei impliziten Propositionen um Voraussetzungen oder Forderungen handelt (vgl. Titzmann 2017: 83).

2 Dies ist auch daran ersichtlich, dass der Kameramann Sturla Brandt Grøvlen im Abspann des Films vor dem Regisseur genannt wird.


Filme

BIRDMAN OR (THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) (USA 2014, Alejandro Iñárritu).

GRAVITY (USA/UK 2013, Alfonso Cuarón).

VICTORIA (D 2015, Sebastian Schipper).


Forschungsliteratur

Bazin, André (2003): „Die Entwicklung der kinematographischen Sprache“. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart, S. 256–274.

Beller, Hans (1993): „Aspekte der Filmmontage. Eine Art Einführung“. In: Hans Bel-ler (Hg.): Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. Konstanz, S. 9–32.

Bordwell, David/Kristin Thompson (2008): „Film Art. An Introduction“. New York.Brössel, Stephan/Susanne Kaul (2018): „Echtzeit im Film. Konzeptualisierung, Wir-kungsweisen und Interrelationen. Wissenschaftliches Netzwerk. Münster 2018.“ https://www.uni-muenster.de/Germanistik/Echtzeit/ (04.07.2018).

Ebbrecht, Tobias/Thomas Schick (Hgg.) (2011): „Perspektiven des deutschen Gegenwartskinos. Zur Einleitung“. In: Dies. (Hgg.): Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms. Wiesbaden, S. 11–17.

Gräf, Dennis u.a. (2014): Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg.

Khouloki, Rayd (2007): Der filmische Raum. Konstruktion, Wahrnehmung, Bedeutung. Berlin.

Kurz, Joachim (2015): „Victoria“. In: Kino-Zeit. https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/victoria (02.07.2018).

Lange, Sigrid (2007): Einführung in die Filmwissenschaft. Darmstadt.

Schabacher, Gabriele (2012): „Time Running. 24 und das Regime der Echtzeit“. In: Isabell Otto/Tobias Haupts (Hgg.): Bilder in Echtzeit. Medialität und Ästhetik des digitalen Bewegtbildes. Marburg, S. 37–39.

Schlichter, Ansgar (2012): „Zeitdeckung“. In: Lexikon der Filmbegriffe. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=7524 (30.06.2018).

Titzmann, Michael (2017): „Propositionale Analyse und kulturelles Wissen“. In: Hans Krah/Michael Titzmann (Hgg.): Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau, S. 81–108.