Die subversive Kraft emphatischer Liebe im DEFA-Film DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA

Stephan Brössel


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Die DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA als Liebesfilm mit wirklichkeitsreflexivem Potenzial: Zum Bedeutungsaufbau
DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1972/73) baut Bedeutung auf durch seine Thematisierung von Liebe: Der Film verarbeitet das Konzept ‚romantischer‘ Liebe1 und funktionalisiert es als Lösungsstrategie im Rahmen eines als restriktiv gekennzeichneten Verhältnisses zwischen Individuum und Kultur. In dieser Hinsicht kann er als Liebesfilm bezeichnet werden – nicht im Sinne eines smarten Liebesfilms2, doch aber als Film mit strukturell-dominanter und funktional-relevanter Liebesthematik.

Als weltontologisch gesetzt gilt zunächst ein semantischer Raum ‚Realität‘, der gleichermaßen die zugrundeliegende Vorstellung von Wirklichkeit repräsentiert als auch auf ideologischer Ebene Normalität festlegt. Umschreiben ließe sich dieser Raum dementsprechend auch als Alltagsrealität mit allen ihren Implikationen (Familie, Arbeit, soziale Kontakte usw.). Innerhalb dieses semantischen Raums wird vor allem der Aspekt der Paarbildung hervorgehoben und als eminent wichtig ausgestellt. Für Figuren wesentlich sind die Maßnahmen der Partnerfindung und Paarbildung, um beginnend mit einer bestimmten Altersstufe – und zwar grob nach der Adoleszenz – als anerkanntes und funktionierendes Mitglied innerhalb der dargestellten Gesellschaft bestehen zu können. Das heißt, jede der im Fokus stehenden Figuren hat eine Partnerwahl zu treffen und im besten Fall eine Beziehung aufzubauen und eine Familie zu gründen.

Motiviert werden Vorgänge dieser Art durch zwei Beweggründe: Erstens die sexuelle Affirmation, zweitens die Garantie ökonomischer Absicherung in der Zukunft. Bei den Hauptfiguren zeigt sich dies wie folgt: Paula wird eingeführt als alleinerziehende Mutter, die auf der Suche nach einem Mann und einer auch für sie genügenden, befriedigenden Beziehung ist. Die aufkommende Mesalliance nach einer Begegnung mit einem jungen Mann auf dem Rummelplatz wird deutlich durch sexuell motivierte Zuneigung getragen. Sie wird beendet aufgrund seiner Untreue; also einer erneuten sexuellen Umorientierung seinerseits. Auf der anderen Seite entwickelt sich das Verhältnis zwischen Paul und Ines primär auf Basis ihres Interesses an seinen Berufsaussichten und damit eben auch vor allem an der Aussicht auf eine wirtschaftlich gesicherte Existenz.

Die Paarbildung gelingt – wenn auch auf lange Sicht nicht nachhaltig. Bedeutsam ist bei beiden Figuren – Paul und Paula – vielmehr auch, dass Ines später einen Liebhaber hat (= Aspekt der sexuellen Motivation) und ein Herr Saft Paula fortwährend Heiratsavancen macht, auf die sie sich zwischenzeitlich sogar einlässt (= Aspekt der ökonomischen Sicherheit als Motivation). Allerdings bildet alles dies nur eine diegetische Teilwelt ab. Neben der Motivationsfrage und unabhängig vom Gelingen oder Nicht-Gelingen einer jeweiligen Paarbeziehung installiert der Film den disjunkten semantischen Raum ‚Liebe‘. Alternativ zu normalisierten Abläufen im Raum ‚Realität‘ gibt es in der dargestellten Welt die Option, wahrhaft (= emphatisch) zu lieben und damit einen markierten Prozess einzuleiten, der ereignishaft ist und Merkmale des Raums ‚Realität‘ aufhebt bzw. umsemantisiert: Figuren übertreten die Grenze zwischen beiden Räumen, stören damit die gesetzte Ordnung und versuchen ein Alternativmodell von Beziehung und Sozialwesen zu etablieren. Bedeutsam für die sujetlose Textschicht des Films ist die Anordnung der disjunkten Räume ‚Realität‘ und ‚Liebe‘ – für ‚Realität‘ gelten Konformität, Alltäglichkeit, Normalität, Nicht-Glück und (höchstens) minimale Liebe, für ‚Liebe‘ Non-Konformität, Durchbrechen von Alltäglichkeit und Normalität, Glück und emphatisch-gesteigerte Liebe –; bedeutsam für die sujethafte Schicht des Films ist die Überschreitung der Grenze zwischen beiden Räumen durch Paul und Paula.

Der Film inszeniert eine doppelte Grenzüberschreitung, die er anhand seiner Hauptfiguren syntagmatisch versetzt durchspielt. Zuerst wechselt Paula in den Raum ‚Liebe‘ über – und dies deutlich markiert: Sie unterläuft die übliche Routine (der morgendlichen Mitfahrt bei Herrn Saft), läuft tanzend durch die Straßen, vergisst am Arbeitsplatz ihre Arbeitskleidung anzulegen und tritt in Unterbekleidung auf, singt während der Arbeit unanständige Lieder usw. Markiert wird ihr Übertritt in den im Rahmen der dargestellten Welt als ‚Fremdraum‘ gekennzeichneten Raum ‚Liebe‘ also durch das Ablegen bestimmter Merkmale, die in dem anderen Raum, dem ‚Normalraum‘, als gesetzt gelten.

Das gilt auch für ein in diesem Kontext entscheidendes Merkmal: den Verlust von ‚Realität‘ im übertragenen oder gar im buchstäblich-tatsächlichen Sinn. Ist etwa die Tatsache, dass Paula ihre Arbeitskleidung anzulegen vergisst lediglich als Realitätsverlust im übertragenen Sinne (und als Verlust ohne nennenswerte Konsequenz) zu werten, so ist im Gegensatz dazu der Tod eines ihrer Kinder ein tatsächlicher und erschlagender Verlust. In den Raum ‚Liebe‘ überzuwechseln impliziert demnach also auch, den Bezug zur Realität einzubüßen oder – verschärfter – Bestandteile der eigenen Wirklichkeit zu verlieren. Das ist mit anderer Gewichtung auch bei Paul zu beobachten. Nach Paulas Rückzug übertritt er die Grenze zwischen beiden Räumen und verlässt damit auch sein räumlich-soziales Umfeld: Er richtet sich kurzerhand im Hausflur vor Paulas Wohnung ein, liest dort Zeitung, isst, schläft, harrt aus und bemalt die Eingangstür mit einem Herzen. Auch äußerlich besehen verändert er sich, verzichtet auf die Rasur und trägt andere, legere Kleidung. Sein Verlust von Realität manifestiert sich maßgeblich im drohenden Einbüßen seiner beruflichen Stellung – wobei bezeichnenderweise die Arbeitskollegen und die Vorgesetzten als moralische Instanz auftreten (indem sie neben der beruflichen Zurechtweisung Pauls ebenfalls auf seine Rolle als Familienvater und Ehemann insistieren). Auch er kehrt – zumindest zeitweilig – in seinen Ausgangsraum zurück, bevor der Film die Figuren erneut – und letztendlich – zusammenführt.

Das Spiel mit Realität, der Verlust von Realität also aufgrund einer Überwechslung in den Raum emphatischer ‚Liebe‘ ist denn auch der entscheidende Verhandlungsgegenstand des Films und wird neben den genannten Verschiebungen auf der histoire-Ebene ebenfalls auf der discours-Ebene virulent. Das heißt, neben den Problemen und Aussichten, die die Figuren zur Handlung antreibt und die die dargestellte Welt kennzeichnen, wird auch auf Ebene der filmischen Präsentation rekurrent auf die Aufhebung einer festen und gegebenen Realität abgehoben. Angezeigt wird dies gleich zu Beginn (und dann wiederholt) in Form der visuellen Metapher gesprengter Häuserzeilen: So, wie hiermit die Sprengung ausgedienter Gebäude angezeigt wird, werden auch die gesellschaftliche Ordnung und die kulturelle Wirklichkeit ‚gesprengt‘ bzw. unterlaufen; und dies immer dann, wenn es um Liebe im emphatischen Sinn ­– also um die Liebe zwischen Paul und Paula – geht. Ganz zentral ist dahingehend freilich die dionysische Liebesszene in Paulas Schlafzimmer. Nicht allein heben sich die beiden aufgrund ihrer äußerlichen Aufmachung signifikant von ihrem gesellschaftlichen Umfeld ab – Paul entledigt sich seiner Soldatenuniform und erhält einen Blumenkranz! –, auch wird der Umgang mit Realität unmittelbar medial reflektiert: Paul sieht, in Form eines mindscreens dargestellt, seine Arbeitskollegen als Musiker im Raum – die im Übrigen von jeglichen musikalischen Konventionen vollkommen losgelöste Musik spielen –; Paula übernimmt seine Sicht und entschärft die von der Norminstanz potenziell ausgehenden Gefahr („Die sehen doch nüscht.“ (01:00:58)3). Die beiden träumen einen gemeinsamen Traum und wechseln hier gar die diegetische Ebene. Flankiert wird diese Szene von weiteren Sequenzen, in denen die Wahrnehmung der Figuren zum Spiel mit Wirklichkeit genutzt wird: Zum einen ist dies Paulas Sicht auf Paul während eines Freiluftkonzertes, in der sich Paul in ihren Augen (und ihrer Einbildung) bis auf die Haut entkleidet; zum anderen Pauls Rückzug aus der ‚falschen‘ Beziehung zu Ines und seiner Modifikation von Wirklichkeit: Er erkennt Ines’ falsches Spiel, entlarvt den Liebhaber (den er aus dem Kleiderschrank im Schlafzimmer des Ehepaars herauszieht) und verabschiedet sich, indem er auf unerklärliche Weise andere Kleidung trägt (Pyjama ⇒ Rüschenhemd). Schließlich ist die Wiedervereinigungsszene aufschlussreich: Die leidenschaftlich massiv überhöhte Versöhnung von Paul und Paula wird fremdmedial (durch die Fotografie) fixiert und später im Familienbildrahmen platziert. Der Film reflektiert demnach Wirklichkeit, indem er die eigene Medialität im fotografischen Einzelbild auflöst und dieses – eine narrative Strategie – gleich zu Erzählbeginn präsentiert. Die Legende macht also von Beginn an deutlich, dass es ihm über die Verhandlung von Liebe hinaus auch um eine Auseinandersetzung mit Wirklichkeit geht – und das wäre, führt man die inhaltlichen und formal-ästhetischen Aspekte zusammen, vor allem eine Auseinandersetzung mit der sozio-kulturellen Wirklichkeit der DDR.

Liebe und Gesellschaft – Scheitern oder Neuaufbruch im DDR-System?
„Ästhetische Kommunikation ist als mediales kommunikatives Produkt einer Kultur ein Teil dessen, was in dieser Kultur mitgeteilt und somit ein Speicher für das, was in ihr gedacht, gewusst, verhandelt und problematisiert wurde.“ (Nies 2011: 241; Hervorhebung i. Orig.) Wenn nun Liebe in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA ein derart hoher Wert zugemessen wird – ersichtlich an der audiovisuellen Dominanz des Themas ebenso wie an der damit verbundenen Problematik und der Funktion als Sinnstiftungsmodell –, dann lohnt sich eine Öffnung des Blicks auf den Umgang mit Liebe in anderen Teilfeldern der ästhetischen Kommunikation, wie etwa dem der Erzählliteratur, und ferner die Erweiterung des diachronen Kontextes. Zu taxieren wäre der funktionale Stellenwert von Liebe als Strukturelement mit gesellschaftsbezogenem Aussagepotenzial: Im Feld der Literatur als eines der repräsentativen Medien in der Zeit von 1950 bis zum Ende der 1980er-Jahre lassen sich vier Phasen ausmachen:

  • In einer ersten Phase – im Verlauf der 1950er-Jahre – wird Liebe als Konsequenz der sozialistischen Ideologie der DDR-Kultur verhandelt.
  • Eine zweite Phase – zu Beginn der 1960er-Jahre – macht eine Art Entsagungspoetik geltend, die als Folge aus der Unvereinbarkeit von Liebe und Ideologie hervorgeht.
  • In einer dritten Phase – seit dem Ende der 1960er-Jahre – ist die Tendenz zur nachhaltigen Konfligierung von Liebe und ideologischem System zu beobachten, „wobei Liebe bzw. privates Verhalten als moralisches Korrektiv für berufliches Verhalten fungiert“ (Aumüller 2015: 242). Diese Phase ist hier entscheidend.
  • Eine vierte und letzte Phase – der 1980er-Jahre – kehrt die Unmöglichkeit von Liebe hervor bedingt durch die Annahme, dass Liebe Freiheit voraussetzt, die aber im sozialistischen System als nicht gegeben angesehen wird.

Als Belege für diese historische Einteilung wie auch für die Klassifizierung hinsichtlich des Umgangs mit Liebe können u.a. genannt werden: Eduard Claudius’ Menschen an unserer Seite (1951) und Werner Reinowskis Diese Welt muß unser sein (1953) (für Phase 1), Christa Wolfs Der geteilte Himmel (1963) und Erik Neutschs Spur der Steine (1964) (für Phase 2), Günter de Bruyns Buridans Esel (1968), Karl-Heinz Jakobs’ Eine Pyramide für mich (1971) und Jurek Beckers Irreführung der Behörden (1973) (für Phase 3) sowie Christoph Heins Der fremde Freund (1982) (für Phase 4).

Angesichts einer solchen Sachlage wäre zu folgern, dass im Feld der ästhetischen Kommunikation ganz offensichtlich eine diskursive Kopplung zwischen der Liebesthematik und Gesellschaftsfragen vorliegt. Der Rahmen des Kontextes für DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA – also: Phase 3 – zeichnet sich bemerkenswerterweise dadurch aus, dass „die Liebeshandlung von der politisch-ideologischen Handlung“ losgelöst wird (ebd.: 250):

Die Liebe steht der politisch-ideologischen Einstellung nicht mehr entgegen. Sie scheitert nicht mehr an den Erfordernissen des Kollektivs, denen gemäß man sich in Liebesdingen anständig verhalten muss, damit die sozialistische Entwicklung nicht mehr ins Stocken gerät – sie scheitert an persönlichem Versagen, an unmoralischem Verhalten des Individuums in der Zweierbeziehung (z.B. durch Fremdgehen) oder in der Gesellschaft (Anpassung um den Preis der Überzeugungen). (Ebd.: 250 f.)

Nun wäre vor dieser Hintergrundfolie dem gegebenen Film von Carow ein Sonderstatus zu attestieren – und im Zuge dessen vielleicht auch seine hervorgehobene Stellung ‒ auch heute noch ‒ erklärbar. Einerseits präsentiert auch Carows Films klar die Entkopplung von Liebe und System: Partnersuche und Paarfindung sind zwar Prinzipien, die dem Gesellschaftsmodell dienlich sind, die auch dem Einzelnen helfen, indem sie ihm/ihr einen Platz im Kollektiv zuweisen; aber sie funktionieren auch ohne den Zusatz emphatischer Liebe. Ob man liebt oder nicht und ob man bei der Partnerwahl Erfolg hat oder nicht, sind vom Film getrennt voneinander behandelte Komplexe. In dieser Hinsicht fügt sich DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA augenscheinlich nahtlos in die allgemeine Tendenz ein, wie sie von anderer Warte aus die Erzählliteratur, wie skizziert, aufweist. Andererseits aber gestaltet der Film Scheitern ambivalent und relativiert die Tatsachen, dass Paul und Paula nicht zusammenleben können, dass Paula stirbt, dass Paul seine Familie (zum Teil und wahrscheinlich auch seine Stellung) aufgibt und als alleinerziehender Vater in Zukunft zu bestehen hat – und löst das Ganze in einer schillernden Ambivalenz auf: Die Figuren scheitern, und doch überwiegt das Glück, durch die Liebe einen alternativen Lebensweg im vorgeführten Weltmodell – das ja die DDR repräsentiert – gefunden zu haben. Es ist die Korrelation aus Scheitern und Neuaufbruch, die der Film als Proposition angelegt und als Botschaft kommuniziert.

Auf die Frage, warum DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA heute als Kultfilm verstanden wird, lassen sich daran anschließend mehrere Antwortmöglichkeiten ins Feld führen. In der Perspektive der Kultur der Deutschen Demokratischen Republik zu Beginn der 1970er-Jahre wird der Erfolg des Films mit der Hoffnung erklärt, die die Menschen mit dem Führungswechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker verbanden (vgl. Buchholz 2010: 36 ff., 42 u. 50), und damit, dass er mit seiner Filmsprache (Dialoge, Umgang mit Liebe, Filmmusik) nah an der Lebenswirklichkeit seines Entstehungskontextes konzipiert ist und dementsprechend eine enorm hohe Anschlussfähigkeit für das Publikum herstellt und Identifikationsangebote macht (vgl. ebd.: 51).4 Damit einher geht die Konzeption eines ‚neuen sozialistischen Menschen‘ – bzw. die eines ‚besseren Sozialismus‘ – wie auch die Vermittlung eines Frauenbildes, das eine Identifikationsfigur liefert (ebd.: 56 u. 57 ff.; Barnert 2014: 236). Scheitern und Neuaufbruch – das heißt hier also eben auch: eine nur relativierte Absage an das Gegebene und ein Neuanfang in einem revidierbaren Lebensbereich. Flucht und Raumwechsel sind schließlich kein Thema. Insofern wäre denn auch der Titel erklärbar: ‚Legende‘ ist zwar einerseits als Gattungsbezeichnung für Texte der Hagiografie gebräuchlich; andererseits aber auch davon losgelöst als allgemeine Sammelbezeichnung für ‚Texte mit erbauendem Charakter‘: So kann auch der vorliegende Film als ‚textuelle‘ „Darbietung bedeutungsvoller und zur Daseinsbewältigung verwertbarer Heilstatsachen“ (Kunze 2007: 309) aufgefasst werden – gleichwohl losgelöst vom christlich-religiösen Kontext; aber doch mit deutlich lebenswirklichem Bezug. Jedenfalls hat sich – bedingt durch bestimmte Höhepunkte in der Rezeptionsgeschichte – diese Auffassung bis heute halten können bzw. wurde sie zugespitzt in der Zuschreibung eines Kultfilmstatus.5 Und mehr noch: Der Film ist

mit seinem vieldeutbareren Versprechen einer Selbstbefreiung des Menschen aus den ihn beherrschenden Zwängen […] für eine Vielzahl moderner Lebenserfahrungen anschlussfähig geblieben und weist über seine regionale Bedeutung als DDR-Mythos weit hinaus (Barnert 2014: 236).

Auch mit Blick hierauf bliebe festzuhalten: Der Film schafft dies aufgrund seiner ambivalenten und eben nicht eindeutigen Botschaft – die er zusätzlich auf Präsentationsebene verrätselt –, dass Altes überwunden werden muss und die Emanzipation im privat-familiären Bereich zugleich auch ein Teilscheitern des Systems impliziert – aber eben der Neuanfang ein harmonischer, nicht radikal forcierter ist und zugleich auch ein Neuanfang in Anlehnung an die (familiäre) Tradition sein kann. Der Weg dorthin führt über die Liebe.

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1 Zum Konzept ‚romantischer‘ Liebe und seiner Geschichte vgl. die Studie von Reinhardt-Becker (2005); weitere Ausführungen zur Bedeutungskomponente dezidiert ‚romantischer‘ Liebe in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA finden sich bei Brössel (2019).

2 Zum Genre des Liebesfilms vgl. den Überblick von Orth (2019).

3 Die hier verwendete Filmfassung: DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA. DDR 1973. Leipzig: Arthaus – Kinowelt Film Entertainment 2009.

4 „Wenn die Neuerungen, die die Honecker-Ära anfänglich brachten, gemeinhin als Steigerung von individuellen Bedürfnissen, nämlich mehr kaufen, freier leben, mehr erleben und vor allem besser wohnen zu können, beschrieben werden […], dann bedeutet das dieser Lesart zur Folge, dass die Bevölkerung der DDR bereits in den 1960er Jahren frei gelebt hat und mit dem Machtwechsel ‚lediglich‘ noch mehr Freiheitsgrade hinzu kamen“ (Buchholz 2010: 38).

5 „1993 wird Die Legende von Paul und Paula neu in den Kinoumlauf gebracht und endgültig zum ostdeutschen Kultfilm“ (Barnert 2014: 236).


Filme

DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973/74, Heiner Carow).


Forschungsliteratur

Aumüller, Matthias (2015): „Liebe in Zeiten des Sozialismus. Zum Verhältnis von Liebe und Ideologie in der Erzählliteratur der DDR“. In: Christof Hamann/Filippo Smerilli (Hgg.): Sprachen der Liebe in Literatur, Film und Musik. Von Platons ‚Symposion‘ bis zu zeitgenössischen TV-Serien. Würzburg, S. 241–256.

Barnert, Anne (2014): „Die Legende von Paul und Paula“. In: Metzler Lexikon moder-ner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Hg. v. Stephanie Wodianka u. Juliane Ebert. Stuttgart/Weimar, S. 235–237.

Brössel, Stephan (2019): „‘Alles oder nichts’. ‘Romantische’ Liebe in Die Legende von Paul und Paula“. In: Dominik Orth/Heinz-Peter Preußer (Hgg.): Mauerschau – Die DDR im Film. Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates. Berlin/Boston (im Erscheinen).

Buchholz, Ramona Katrin (2010): „Wie aus der Legende von Paul und Paula ein Kultfilm wurde“. In: Lüdeker, Gerhard Jens/Orth, Dominik (Hg.): Mauerblicke. Die DDR im Spielfilm. KWD 26, S. 33‒66.

Kunze, Konrad (2007): „Legende“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Hg. v. Harald Fricke. Berlin/New York, S. 389–393.

Nies, Martin (2011): „Kultursemiotik“. In: Christoph Barmeyer/Petia Genkova/Jörg Scheffer (Hgg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. 2. Aufl. Passau, S. 207–225.

Orth, Dominik (2019): „Der Liebesfilm – Zur Wiederbelebung eines Genres seit der Jahrtausendwende“. In: Elke Reinhardt-Becker/Frank Becker (Hgg.): Liebesgeschichte(n). Identität und Diversität vom 18. Bis zum 21. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York, S. 383-404.

Reinhardt-Becker, Elke (2005): Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt a.M./New York.