Zwischen Religion und Okkultismus: METROPOLIS als Kommentar auf einen Trend der Frühen Moderne

Christoph Bosien

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1924 veröffentlichte Thomas Mann seinen Essay Okkulte Erlebnisse, in dem er Erfahrungen bespricht, die er Anfang der 1920er Jahre bei Besuchen von spiritistischen Sitzungen gesammelt hat. In derartigen Sitzungen sollte mittels eines Mediums der Kontakt zur Welt der Toten hergestellt werden (vgl. Pytlik 2005: 35). Manns Wortwahl bei der Beschreibung der spiritistischen Handlungen und Anwandlungen des Mediums machen nach Marianne Wünsch den Eindruck, als hätte er eher einem „biologische[n] Akt“ (Wünsch 2015: 189) anstelle eines spirituellen beigewohnt. Er bewertete seine Erlebnisse hauptsächlich negativ (vgl.: ebd.) – jedoch waren diese Sitzungen Teil eines okkulten Trends, dessen Verbreitung zur Zeit der Weimarer Republik einen Höhepunkt erreicht zu haben schien (vgl. Wünsch 1991: 97). Der Spiritismus als Teilbereich des Okkultismus war dabei „in seiner Blütezeit, d.h. in der zweiten Hälfte des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, das mit Abstand am weitesten verbreitete und am besten bekannte okkultistische System“ (vgl. ebd.: 84).

Diese Entwicklung fiel zusammen mit einer „schwindenden Bindungskraft des Christentums“ (Ulbricht 1998: 55), einer Tendenz in Deutschland, die sich schon im 18. Jahrhundert bemerkbar gemacht hatte. Ihr Ablauf beschleunigte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts und mündete in „Säkularisierungs- und Entkirchlichungsprozesse[n]“ (ebd.),1 wodurch im Verlauf, neben dem Versuch neue Glaubensansätze zu finden, auch Raum für eine „Renaissance mystischen Denkens gerade bei Intellektuellen“ (ebd.: 54) entstand.

Immer mehr KünstlerInnen beschäftigten sich mit Okkultem, wie etwa unter SchriftstellerInnen neben Thomas Mann auch Alfred Döblin und Rainer Maria Rilke (vgl. Pytlick 2005). Aber auch in den Filmen der 1920er-Jahre sind okkulte Motive zu finden. DAS CABINET DES DR. CALIGARI (D 1920) etwa verhandelt das Phänomen des Somnambulismus2 und in DR. MABUSE, DER SPIELER (D 1922) wird eine Séance abgehalten.

Auch METROPOLIS (D 1927), neben DR. MABUSE, DER SPIELER ein weiterer Film des deutschen Regisseurs Fritz Lang, greift Motive aus den zu der Zeit aktuellen okkultistischen und religiösen Diskursen auf und liefert damit einen Kommentar zum damaligen Zeitgeschehen ab. Aus kultursemiotischer Sicht ist interessant, wie der Film dabei verfährt, welche Problemstellungen er aufwirft und welche Konfliktlösungsstrategien er anbietet.

METROPOLIS ist einer der bedeutendsten Filme Langs und basiert auf dem gleichnamigen Roman von Thea von Harbou, die gemeinsam mit ihm das Drehbuch schrieb (vgl. Geser 1996: 38). Er zeigt eine dystopische Zukunftsvision einer Großstadt, in der die Gesellschaft in zwei Klassen unterteilt ist, wobei die eine in der sozialen Hierarchie deutlich über der anderen steht. Mit Hilfe topografischer und topologischer Relationen der im Film dargestellten Stadt und ihrer semantischen Räume stellt der Film die okkulten und religiösen Entwicklungen der Moderne als eine Art (religiösen) Sittenverfall in Opposition zu (vormoderner) Frömmigkeit und einem traditionellen Familienbild. Gleichzeitig inszeniert er stellvertretend durch die Hauptfiguren einen Kampf um das Wohl der Stadt und ihrer Bevölkerung.3

‚Unten‘ gegen ‚Oben‘: Zu Topografie und Topologie
Die Stadt Metropolis besteht aus Ober- und Unterstadt, die topografisch voneinander getrennt und vertikal angeordnet sind. Die Oberstadt ist mit den reichen BewohnerInnen der Stadt bevölkert, zu denen auch Freder, sein Vater Joh Fredersen und Rotwang sowie dessen Kreation, die falsche Maria, gehören. Im Gegensatz dazu lebt in der Unterstadt die beherrschte und arme proletarische Gesellschaftsklasse, Maria eingeschlossen. Der Raum ist mit Maschinen versehen, die von Arbeitern betrieben werden und die Energieversorgung der Stadt garantieren.

Oberstadt und Unterstadt können als topografische Konkretisierungen disjunkter semantischer Räume aufgefasst werden, die gegensätzliche Attribute aufweisen und deren Merkmale auf Diskurse der 1920er-Jahre in Deutschland hindeuten. Die moderneren Diskursrichtungen verortet der Film im Feld der Oberstadt, aus deren Darstellung sich eine Vielzahl von Merkmalen ableiten lässt, die den Raum charakterisieren. So besteht das Leben der reichen Bevölkerungsschicht weniger aus Arbeit, sondern vielmehr aus Vergnügen. Es wird der Polygamie gefrönt, wie am Beispiel Freders zu Beginn des Films beobachtet werden kann. Der beliebteste Treffpunkt ist das Yoshiwara,der Nachtclub der Oberstadt, der nach einem japanischen Bordellviertel der Edo-Zeit benannt ist.

Ebenfalls in der Oberstadt verortet ist das Labor des Wissenschaftlers Rotwang, der an der Erschaffung des Maschinenmenschen arbeitet, dem er später Marias Antlitz verleiht. Sowohl das Labor als auch Rotwang und die falsche Maria sind mit alternativ-religiösen oder okkulten Elementen bzw. Symbolen korreliert, wie etwa dem großen Drudenfuß im Hauptraum des Labors, den Pentagrammen auf den Türen oder der Tatsache, dass die falsche Maria Hel nachempfunden ist, der Mutter Freders und Marias Ebenbild, benannt nach der Göttin der Unterwelt in der nordischen Mythologie. Zusätzlich charakterisiert sie der Film durch ein direktes Bibelzitat, in dem „Die grosse Babylon“ in übergroßen Lettern hervorgehoben ist (METROPOLIS: 01:29:20–01:29:24),4 als Hure Babylons und stellt sie dementsprechend als leichtbekleidete Tänzerin gestützt von den sieben Todsünden im Nachtclub Yoshiwara dar. Die negative Charakterisierung verstärkt noch den Gegensatz, den der Film zwischen Freder/Maria und Rotwang/falsche Maria herstellt.

Im Raum der Unterstadt sind im Gegensatz zur Oberstadt traditionalistische Diskursformationen angesiedelt. Die ArbeiterInnen der Unterstadt leben in Familien zusammen und haben Kinder, etwas, das so in der Oberschicht nicht zu finden ist. Zudem wird eine gewisse Frömmigkeit suggeriert, gehen doch die Arbeiter nach ihrer Schicht in die Katakomben, um Marias Predigt zu hören, die sie vor einer dem Berg Golgatha nachempfundenen Kulisse vorträgt.5

Sowohl in der Oberstadt als auch in der Unterstadt setzt der Film gleichermaßen auf die Problematisierung von Veränderungen innerhalb der aufgegriffenen Diskurse wie auch auf Lösungsangebote, die er stellvertretend in seinen Hauptfiguren Freder und Maria vorführt. Beide sind mit christlich-religiösen Attributen belegt. So tritt Maria vor den Arbeitern der Unterstadt als Predigerin auf und erzählt in den Katakomben eine abgewandelte Version der Geschichte des Turmbaus zu Babel. Sie predigt von der Beendigung der Unterdrückung der Arbeiterschaft durch die Oberschicht mit Hilfe einer friedlichen Vermittlung durch einen Mittelsmann, der später in Form von Freder auftritt. Häufig wird sie durch einen Lichtschein von oben in Szene gesetzt, der ihr ein beinahe sakrales Aussehen verleiht.

Freder stammt aus der Oberstadt und gerät auf der Suche nach Maria in die Unterstadt. Die miserablen Zustände erkennend, entschließt er sich, etwas zu unternehmen und wird dadurch zum Vermittler. Die Interpretation von Freder als Herz, dem „Mittler zwischen Hirn und Händen“ wird vom Film wiederholt und überdeutlich vorgenommen. Er kann jedoch darüber hinaus als Jesusfigur oder als „Herz Jesu“ (vgl. Geser 1996: 34) – hervorgehoben durch seinen wiederholten Griff an die Brust am Anfang des Films – gelesen werden, da er als Vermittler/Herz zwischen der Leitung der Oberstadt (dem Hirn) und der Arbeiterschaft der Unterstadt (den Händen) agiert. Konkret wird seine Rolle als „Herz Jesu“, als er mit dem Arbeiter 11811 die Kleider tauscht und dessen Arbeit an der Herz-Maschine übernimmt. „Wie Jesus ‚herabgestiegen‘, nimmt er [...] die Leiden auf sich und wird an der Maschine symbolisch gekreuzigt [...].“ (Ebd.: 35) Bewusst wird ihm seine wahre Aufgabe als Herz und Vermittler allerdings erst bei seiner zweiten Begegnung mit Maria, wobei seine Eingebung, ähnlich wie bei ihr, in der Bildgestaltung durch einen Lichtschein von oben unterstrichen wird.

Rotwang und die falsche Maria agieren als Gegenspieler und versuchen – erst auf Befehl von Joh Fredersen hin, dann aus eigenem Antrieb heraus – die Arbeiterschaft und die Oberschicht gegeneinander aufzuwiegeln und Chaos zu stiften. Dieses Vorhaben können sie jedoch nicht umsetzen und scheitern. Rotwang wird nach der wiederholten Entführung Marias auf dem Dach des Doms von Freder gestellt und besiegt, die falsche Maria von der Arbeiterschaft als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Beide können ihr Ziel nicht erreichen und werden am Ende getilgt.

In einer letzten Handlung wird Freder auf die Bitte Marias hin seiner Position als Heilsbringer gerecht und vermittelt zwischen seinem Vater und Grot, dem Vertreter der ArbeiterInnen. Durch den Sieg über die okkulten Strömungen in der Oberstadt und der Vermittlung zwischen Ober- und Unterstadt wird nun zuletzt eine Re-Etablierung eines alten Normen- und Wertesystems postuliert.

METROPOLIS im Kontext zeitgenössischer Diskurse
Die falsche Maria wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt und Freder besiegt nicht nur Rotwang, sondern stellt als Vermittler den Frieden zwischen Ober- und Unterstadt her. Durch die Art, wie METROPOLIS Lösungsstrategien entwirft und diese umsetzt, lässt sich mit Martin Nies schlussfolgern, dass der Film ein traditionelles und christliches Werte- und Normensystem für erstrebenswerter als die alternativ-religiösen Strömungen hält (vgl. Nies 2011: 216 f.).

Der Film stellt im Rahmen zeitgenössischer gesellschaftlicher Diskurse um Religion und Okkultismus traditionelle Sichtweisen und neue Impulse einander gegenüber und problematisiert in beiden Fällen die Abkehr von einem traditionellen Wertesystem. Der Film greift die Diskurse auf und verhandelt sie in Oppositionen, wobei die dabei aufgeworfenen Problematiken zugunsten traditioneller Werte gelöst werden.

Das heißt: Alle Elemente des Okkulten oder Heidnischen und jene, die auf einen Verfall von Sitten hindeuten, stehen in Verbindung mit der Oberstadt, von der sich Freder im Laufe seiner Entwicklung zum Vermittler als ‚Herz Jesu‘ löst. METROPOLIS etabliert eine Lösungsstrategie, mit der durch moralisch gutes Verhalten am Ende eine gerechte und funktionale Gesellschaftsordnung hergestellt werden kann. Durch die Korrelation mit christlichen Symboliken auf der discours-Ebene, legt der Film eine Problemlösung auch im Sinne eines vor allem christlichen Verhaltens nahe.

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1 Gemeint ist hierbei hauptsächlich die Abwendung von der institutionalisierten protestantischen Kirche (vgl. Ulbricht 1998: 52 ff.).

2 In DAS CABINET DES DR. CALIGARI wird Somnambulismus nicht als bloßes Schlafwandeln verhandelt, doch handelt es sich beim Dargestellten auch nicht unbedingt um Hypnose, vielmehr kann das Gezeigte nach Wünsch in Verbindung gebracht werden mit dem Mesmer’schen Magnetismus, bei dem u.a. ein Mensch durch Ferneinwirkung in eine Art Trance-Zustand versetzt wird (vgl. Wünsch 1991: 106 f.). Vgl. auch den Beitrag zum Film in diesem Heft (DAS CABINET DES DR. CALIGARI).

3 Okkultismus und Religion in Deutschland sind komplexe Diskurse und können an dieser Stelle nicht in ihrer Gänze verhandelt werden. Auch der Film tut dies nicht. Durch die Wahl bestimmter Motive und Symboliken weist er lediglich auf die Lage innerhalb der Gesellschaft hin, in der die okkulten „Bereiche um 1900 eine Hochkonjunktur erlebten und […] enorme Popularität bis in die späten 20er Jahre“ (Pytlik 2005: 9) genossen.

4 In einer Totale blendet der Film eine aufgeschlagene Bibel ein, in der neben eine Abbildung der Hure Babylon zwei Verse aus der Offenbarung des Johannes (Offenbarung 17, 5 f.) montiert sind. In einer Detailaufnahme wird das Bild auf der Bibelseite noch einmal isoliert (METROPOLIS: 01:29:25–01:29:29) und durch einen darauffolgenden harten Schnitt auf die im Yoshiwara tanzende falsche Maria unverkennbar eine Äquivalenz zwischen biblischer Figur und Maschinenmensch hergestellt.

5 Golgatha (übersetzt: Schädelstätte) ist die Kreuzigungsstätte Jesu (vgl. Mk 15, 22–27).


Filme

DDAS CABINET DES DR. CALIGARI (D 1920, Robert Wiene).

DR. MABUSE, DER SPIELER (D 1922, Fritz Lang).

METROPOLIS (D 1927, Fritz Lang).


Forschungsliteratur

Bauer, Eberhard/Bernhard Wenisch (1990): „Okkultismus“. In: Hans Gasper /JoachimMüller/Friederike Valentin (Hgg.): Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen. Freiburg im Breisgau, S. 768–775.

Baßler, Moritz/Hildegard Châtellier (Hgg.) (1998): Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Strasbourg.

Braungart, Georg (1998): „Spiritismus und Literatur um 1900“. In: Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch (Hgg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: Um 1900. Paderborn.

Geser, Guntram (1996): Fritz Lang. Metropolis und die Frau im Mond. Zukunftsfilm und Zukunftstechnik in der Stabilisierungszeit der Weimarer Republik. Meitingen.

Nies, Martin (2011): „Kultursemiotik“. In: Christoph Barmeyer/Petia Genkova/Jörg Scheffer (Hgg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. 2. Aufl. Passau, S. 207–225.

Pytlik, Priska (2005): Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900. Paderborn.

Treitel, Corinna (2004): A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern. Baltimore/London.

Ulbricht, Justus H. (1998): „‚Transzendentale Obdachlosigkeit‘. Ästhetik, Religion und ‚neue soziale Bewegungen‘ um 1900“. In: Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch (Hgg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: Um 1900. Paderborn.

Universitäts- und Stadtbibliothek Köln (2016): Fritz Langs Metropolis. Eine Ausstellung der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, 27.10.2016–20.02.2017. Köln.

Wünsch, Marianne (1991): Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). München.

Wünsch, Marianne (2015): „Okkulte Erlebnisse (1924)“. In: Andreas Blödorn/Friedhelm Marx (Hgg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 189–190.