Rainer Werner Fassbinders FAUSTRECHT DER FREIHEIT und die homosexuelle Emanzipation in der BRD der 1970er-Jahre

Juliane Baier, Friederike Brinkmann


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Homosexualität und Ausbeutung in FAUSTRECHT DER FREIHEIT
Rainer Werner Fassbinders FAUSTRECHT DER FREIHEIT erschien 1975 in der BRD und sorgte beim Publikum für viel Aufsehen. In dem Film werden zwei gesellschaftsbezogene Themenfelder behandelt: einerseits die Opposition zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse und andererseits die Ausgrenzungen von Homosexuellen. Das in den 1970er-Jahren gesellschaftlich brisantere Thema der Homosexualität wird im Film durch den Klassenkonflikt überlagert (vgl. Woltersdorff 2012: 224 f.). Dadurch wird der Status der Homosexualität als gesellschaftliches Randphänomen normalisiert und die damit einhergehenden Konflikte in den Hintergrund gerückt. Im Zentrum der Handlung steht der Protagonist Franz Biberkopf, den Fassbinder selbst spielt. Dieser wird eingeführt als junger Homosexueller, der auf dem Jahrmarkt arbeitet und der unteren Gesellschaftsschicht angehört. Durch einen Lottogewinn und die Beziehung zu dem Unternehmererben Eugen wagt er einen Grenzübertritt in die gehobene Klasse. Dieser Versuch scheitert, indem der Film ihn mit dem Tod sanktioniert.

In FAUSTRECHT DER FREIHEIT bilden Homosexuelle eine Parallelgesellschaft, was dadurch deutlich wird, dass die Handlung nahezu ausschließlich im semantischen Raum der homosexuellen Szene spielt. So ist die Auswahl der besuchten Lokalitäten beschränkt. Dies gilt nicht nur für Restaurants und Bars, sondern auch für Geschäfte des alltäglichen Bedarfs wie das Reisebüro oder den Blumenladen. Innerhalb dieser Räume können sich die homosexuellen Figuren gemäß ihren Regeln und Normen verhalten, die von den Vorstellungen der allgemeinen Gesellschaft abweichen. So herrscht in der Therme eine ungezwungene Freizügigkeit, die durch nackte Männerkörper markiert wird, die der Film explizit und normalisiert herausstellt. Des Weiteren wird die Exklusivität durch die Figurenkonstellationen im Film verdeutlicht. Alle der Szene angehörigen Charaktere treffen regelmäßig aufeinander und sind untereinander bekannt. Obwohl der Film in München spielt, etabliert er mit diesen Mitteln einen dörflichen Charakter der homosexuellen Szene, was als ein Indiz für ihren Status als Minorität zu werten ist.

Innerhalb des semantischen Raums der Homosexualität sind die Räume in privat und öffentlich unterteilt und werden jeweils einer Klasse zugeordnet: So gibt es die Stammkneipe von Franz, die als proletarisch semantisiert ist. Das edle französische Restaurant hingegen fungiert als Treffpunkt für den gehobenen Teil der homosexuellen Szene. Die privaten Räume der oberen Schicht können zudem für exklusive Treffen genutzt werden, wie dies beispielsweise an dem Abend bei Max oder bei der Einweihungsfeier der neuen Wohnung von Eugen und Franz der Fall ist. Privatheit wird nicht nur durch die Nutzung der Räume markiert, sondern auch auf der discours-Ebene durch die Blickführung. Insbesondere in den privaten Räumen finden Fokussierungen auf einen Teilraum statt. Blicke sind beispielsweise durch Türrahmen angeschnitten oder werden durch Fenster geleitet. So wird die Kamera während des gesamten Films zu einem stummen Teilnehmer am Geschehen. Durch diese Blickführung wird der/die RezipientIn zu einem/r voyeuristischen ZuschauerIn, der/die stets das Geschehen von außen beobachtet.

Innerhalb des Milieus wird Homosexualität nicht problematisiert; außerhalb wird ihr Minderheitenstatus jedoch umgehend akut. Insbesondere das Verhalten zur zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme wird als anstößig markiert. So lernen sich Max und Franz Biberkopf nicht an einem ‚normalen‘ Ort kennen, sondern vor einer Klappe – einer öffentlichen Toilette –, die als Treffpunkt von Schwulen für anonymen Sex genutzt wird. Auch spricht die verdeckt codierte Kontaktaufnahme in dieser Filmszene für den Sonderstatus von Homosexuellen. Deutlich wird dies vor der Hintergrundfolie von Heterosexualität, die etwa in der nur künstlich aufrechterhaltenen Scheinehe zwischen Max und seiner Frau erkennbar wird. Diese ist sich über den Zustand des dauerhaften ‚Betrogen-Werdens‘ bewusst, nimmt dies aber wie der männliche Protagonist im Film DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1972/1973) resigniert hin (Die subversive Kraft emphatischer Liebe). Im Gegensatz zu Paul, der durch Paulas Liebe aus seiner miserablen Lage befreit wird, gibt es für Max’ Ehefrau keine Auflösung dieser Situation. Ein weiterer Hinweis auf die gesellschaftliche Missbilligung einer homosexuellen Beziehung ist die Kündigung von Eugens Wohnung. Zu Beginn ihrer Beziehung wohnt Franz bei Eugen, bis schließlich der Vermieter den Mietvertrag aufgrund ständigen Beherbergens dritter Personen und unsittlichen Verhaltens kündigt. So zeigt der Film, dass die moralische Beurteilung von Homosexualität nur innerhalb des Milieus unproblematisch ist und von der allgemeinen Öffentlichkeit hingegen geächtet wird.

Jedoch ist Homosexualität nicht das eigentliche Problem, das der Film aufwirft. Es liegt vielmehr in der dargestellten Ausbeutung der Arbeiterklasse durch das Unternehmertum und die damit verbundenen Machtstrukturen. Die Etablierung der Opposition ‚Bürgertum vs. Arbeiterklasse‘ erfolgt durch die semantisierten Figuren des Schaustellers Franz und des Unternehmenserben Eugen. Für die RezipientInnen wird ersichtlich, dass Eugens Interesse an Franz in dessen finanzieller Situation liegt. Geschickt schafft er es, durch das Zurückhalten von Informationen Franz finanziell zu ruinieren und seine eigene Situation zu verbessern. Die Opposition tritt hier besonders drastisch hervor, da Franz als extrem naiv dargestellt wird und den für den/die RezipientenIn offensichtlichen Betrug nicht vorhersieht. Besonders perfide wirkt Eugens Vorgehen, da sich die Figuren eigentlich in einer Liebesbeziehung befinden, die jedoch durch eine reduzierte Darstellung von Gefühlen unglaubwürdig erscheint. Die Folgen des Betrugs treiben Franz zunächst in eine Depression, dann in den finanziellen Ruin und schließlich zum Selbstmord.

Außerdem wertet Eugen alles ab, was mit der Arbeiterklasse und einem einfachen Leben verbunden werden kann. Dabei geht er so weit, dass er Franz ‚entmenschlicht‘. So sagt er an einer Stelle zu ihm: „Aber wir werden es schon schaffen einen Menschen aus dir zu machen“ (FAUSTRECHT DER FREIHEIT: 01:05:071). Dagegen profiliert er sich als Bildungsbürger durch seine Fremdsprachenkenntnisse, das Verfolgen des aktuellen Kulturbetriebs und durch den Wert, den er auf Kulinarik legt. Die Darstellung von Franz erfolgt im deutlichen Kontrast hierzu, da er nicht einmal basale Tischmanieren kennt und ihm häufig ein animalisches Verhalten zugeschrieben wird. Dies ist sowohl in den Szenen nachvollziehbar, in denen das Paar gemeinsam mit Eugens Eltern isst als auch bei dem Besuch des Paares in dem französischen Restaurant.

Obwohl Franz eindeutig als Opfer von Eugens Intrigen inszeniert wird, ist er selbst kein Sympathieträger. Franz ist genauso wie andere Protagonisten Fassbinders keine bemitleidenswerte oder eindimensionale Persönlichkeit, kein Held. Fassbinder zeigt in seinen Protagonisten

undurchdringbare Individuen, die mitunter ebenso schockierende oder zumindest irritierende Verhaltensweisen an den Tag legen wie ihre Unterdrücker und so die Gewalt als strukturell in der Gesellschaft verankerte anthropologische Grundkonstante entlarven (Colin/Schössler/Thurn 2012: 9).

Bei näherer Betrachtung des Figurenensembles hat jeder seine feste Rolle in der Gesellschaft. Entweder man identifiziert sich mit dem Bürgertum oder mit dem Proletariat. Franz gehört dem Proletariat an, versucht jedoch die Grenze des Raumes durch seinen Lottogewinn und seine Beziehung zu Eugen zu überwinden, womit er am Ende scheitert. In den Augen der gehobenen Schicht bleibt er trotz seines Geldes ein Proletarier. Auf Ebene der Mise-en-scène wird dies durch das Mobiliar der Wohnung und durch seine Kleidung deutlich, die sich im Laufe der Partnerschaft der von Eugen angleicht. Nach der Trennung kehrt er zu seinem alten Kleidungsstil zurück. Zusätzlich verliert er im Laufe der Beziehung zunehmend an Dominanz. Während er sich zunächst frei in Eugens Wohnung bewegt, Anweisungen gibt und sich nicht zurückweisen lässt, gibt er später nach. Eugen gewinnt an Macht in der Beziehung, die er schamlos ausnutzt, bis Franz’ Situation sich prekärer gestaltet als vor seinem Eintritt in den Raum der gehobenen Schicht. Auf diese Weise wird die Grenze zwischen den Schichten bestätigt und ihre Undurchdringbarkeit manifest. Der Proletarier bleibt durch mangelnde Kultur und mangelndes Wissen untergeordnet, bis er durch den gesellschaftlichen Druck zerstört wird. Max ist die einzige weitere Figur, die ebenfalls eine Grenzgänger-Position einnimmt, und im Gegensatz zu Franz ist er damit erfolgreich. Er bleibt seinen Wurzeln dabei verbunden und bringt die Klassen im privaten Rahmen zusammen. Er ist anscheinend der Einzige, der die gesamte Situation von beiden Seiten durchblicken kann und tritt in jeder für die Handlung bedeutenden Szene auf: Durch ihn lernen Eugen und Franz sich kennen und selbst bei der Trennung der beiden steht er als stiller Teilhaber daneben. Er ist auch derjenige, der den toten Franz in einem Münchner Bahnhof findet. Dabei ist er in Begleitung von dessen ehemaligen Lebensgefährten Klaus, mit dem er ein Geschäft aushandelt, wodurch nochmals seine Grenzgänger-Position deutlich wird. Dass ihm der Schritt zwischen den ‚Räumen‘ gelingt, zeigt, dass es darauf ankommt, woher man kommt. Max stammt aus dem Bürgertum und tritt ein in eine sozial ‚niedrigere Welt‘. So ist es das Streben nach Höherem und Besserem, das zum Scheitern verurteilt wird.

Durch diese Gestaltung der semantischen Räume ‚Proletariat‘ und ‚Bürgertum‘, zwischen denen eine beinahe undurchdringliche Grenze liegt, übt der Film Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung. Die Homosexualität der Figuren dient dabei lediglich als Folie eines Gesamtproblems. In diesem Sinne schreibt auch Thomas Elsaesser: „Wenn Sexualität als Barriere überwunden werden kann, bleiben immer noch diejenigen von Klasse und Bildung. FAUSTRECHT DER FREIHEIT zeigt keinen Ausweg“ (Elsasser 2012: 416).

FAUSTRECHT DER FREIHEIT und Homosexualität in der BRD
Wie in der Analyse verdeutlicht, ist die gesellschaftliche Wahrnehmung von Homosexualität zentral für das Verständnis und die Einordnung des Films. Um zu überprüfen, in welchem Verhältnis die Aussagen des Filmes über Homosexualität zur gesellschaftlichen Realität seiner Entstehungszeit stehen, wird im Folgenden eine Kontextebene einbezogen.

Tatsächlich war männliche Homosexualität Mitte der 1970er-Jahre in Deutschland ein gesellschaftlich hoch umstrittenes Thema, dessen Aktualität sich in der Lockerung des § 175 des Strafgesetzbuchs der BRD begründet. Dieser Paragraph stellte sexuelle Handlungen unter Männern – oder wie im Paragraphen formuliert „Unzucht unter Männern“ (Preisendanz 1970: 316–319) – unter Strafe. Konnten vorher jegliche sexuellen Handlungen unter Männern mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden, war es ab 1969 lediglich dann strafbar, wenn einer der Partner unter 21 Jahre alt war ‒ verhängt werden konnten maximal fünf Jahre Freiheitsstrafe (vgl. ebd.: 316–319). 1973 wurde dieses Alter auf 18 Jahre heruntergesetzt und der Begriff ‚Unzucht‘durch „homosexuelle Handlungen“ und „sexuelle Handlungen“ ersetzt (Preisendanz 1978: 588 f.). Eingeführt worden war der § 175 1871/72, unter den Nationalsozialisten wurde er deutlich verschärft. So wurde beispielsweise die in der Fassung von 1871/72 vorgesehene Gefängnisstrafe in der nationalsozialistischen Gesetzgebung zeitlich definiert. Sexuelle Handlungen unter Männern wurden „[m]it Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten“ geahndet (Frank 1897: 211; Zirpnis 1940: 93 f.). Als besonders heikel erweist sich angesichts dessen der Umstand, dass die Gesetzgebung der BRD den § 175 unverändert aus der Fassung des Strafgesetzbuchs der Nationalsozialisten übernommen hatte (Beljan 2014: 67). Zudem nahmen die Verurteilungen auf Basis des § 175 in den 1950er-Jahren deutlich zu (vgl. ebd.).

Wenn auch auf gesetzlicher Ebene in der Emanzipation der Homosexuellen im Jahr 1969 ein Meilenstein erreicht worden war, veränderte dies nicht unmittelbar die gesellschaftliche Wertung von Homosexualität. Laut einer Studie des Soziologen Karl Heinz Reuband hielten „53 % der Bevölkerung Homosexualität für ein ‚sehr schlimmes‘ oder ‚ziemlich schlimmes‘ Verhalten“ (Reuband 1989: 68) und 30 % der Befragten befürworteten eine Sanktionierung von Homosexualität. Des Weiteren wurde im Jahr 1980 öffentlich, dass die Polizei Homosexuelle namentlich in Listen erfasste (vgl. Beljan 2014: 74). Zwar wurde dementiert, dass es sich bei diesen Listen um sogenannte ‚Rosa Listen‘ handelte, wie sie unter den Nationalsozialisten geführt wurden und ausschließlich Homosexuelle aufführten, aber dennoch blieb die Unterstellung eines Zusammenhangs zwischen Homosexualität und kriminellem Verhalten manifest (vgl. ebd.: 74 f.). Aus diesen Fakten wird ersichtlich, dass es sich bei männlichen Homosexuellen in den 1970ern um eine diskriminierte und gesellschaftlich stigmatisierte Minorität handelte; ein Problem, das in FAUSTRECHT DER FREIHEIT jedoch nur am Rande angesprochen wird ‒ beispielsweise durch das versteckte Treffen in der Klappe und Eugens Wohnungskündigung.

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Der Spiegel der Reform des § 175 und der Gesamtproblematik 1969 eine Titelgeschichte widmete. Auf dem Titelblatt des Heftes prangte die Überschrift Das Gesetz fällt – bleibt die Ächtung? Die 14-seitige Titelgeschichte selbst trug den Titel Späte Milde, woraus die Positionierung des Artikels aufseiten der Homosexuellen erkennbar wird. Es wird die Ausgrenzung von Homosexuellen in der Gesellschaft, die Gesetzeslage und insbesondere die späte Lockerung des nationalsozialistischen Gesetzes kritisiert. Der Artikel übt Kritik an der öffentlichen Meinung, die Homosexualität immer noch als unsittliches Verhalten abtat und sich vor allem aus Klischees über homosexuelle Männer speiste, die diese vor allem in einem zwielichtigen, freizügigen und kriminellen Nachtclub-Milieu verortete (vgl. Beljan 2014: 69). Dies wird neben der Titelgeschichte durch zwei Erfahrungsberichte erzielt. In diesen Berichten beschreiben Homosexuelle jeweils ihre Erfahrungen, ihre Wahrnehmung und Behandlung durch die Gesellschaft. Einer dieser Berichte stammt von einem 31-jährigen Homosexuellen, dessen Leben von vielen Heimlichkeiten und Ängsten geprägt ist. So fürchtet er den Verlust seiner Arbeitsstelle, sollte seine Homosexualität öffentlich werden. Das Zusammenleben mit seinem Freund in einer gemieteten Wohnung verhalte sich wie folgt:

Wissen Sie, immer, wenn ich mir so überlege: Irgendwann könnten die Nachbarn auf die Idee kommen – na, sagen wir mal, sich für mein Bett zu interessieren, für das, was ich darin mache – das würde also mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zu einer Kündigung führen, so daß man also da immer in einem Schwebezustand ist. (Der Spiegel 20/1969: 78)

Durch die beiden Erfahrungsberichte wird ein empathischer Blick auf das Schicksal von homosexuellen Männern ermöglicht. Außerdem wird deutlich gemacht, dass homosexuelles Leben nicht nur in einem verruchten Milieu stattfindet, sondern auch ‚mitten in der Gesellschaft‘. Das Schicksal der Wohnungskündigung ereilt, wie bereits angesprochen, auch Eugen in FAUSTRECHT DER FREIHEIT und zeigt, dass die Darstellung von homosexuellen Leben im Film durchaus der damaligen Lebensrealität entspricht.

Die Betrachtung des Kontextes macht die große Kritik der homosexuellen Bewegung an Faustrecht der Freiheit erklärbar. Fassbinder behandele die sexuelle Ausrichtung in diesen und in anderen Filmen zu stereotyp und als eine universelle Gegebenheit (vgl. Elsaesser 2012: 415 f.). Letzteres würde durch Fox’ Aussagen betont: „Es wird hier auch nicht anders sein als überall“ (01:14:58) und „Zu haben ist jeder!“ (00:24:17). Mit derartigen Aussagen und der teilweisen Verortung der Handlung in zwielichtigen Kneipen und einem teils auch kriminellen Milieu bediene Fassbinder eben jene Klischees, von denen sich die homosexuelle Emanzipationsbewegung befreien wollte. Darauf begründet sich auch der Vorwurf der Homophobie, mit dem Fassbinder im Zusammenhang mit dem Film häufig konfrontiert wurde. Er zeige eine Universalität, die den Gedanken einer unterdrückten Minderheit, die um ihre homosexuelle Identität kämpft, untergrabe. Die Universalität zersprenge die Darstellung einer homosexuellen Identität (vgl. Woltersdorff 2012: 224 f.). Als Angriffspunkt der Kritik diente ferner die im Film verhandelte Hierarchie zwischen bürgerlichen und plebejischen Schwulen: Homosexualität stehe im Ideal der Homosexuellenbewegung für Gleichheit. Statt einer Solidarität innerhalb der Szene betone Fassbinder hingegen Unterschiede und Machtgefälle, wodurch er sich gegen die Bewegung stelle (vgl. Woltersdorff 2012: 224 f.; Elsaesser 2012: 415 f.).

Mit diesem Kontext wird darüber hinaus deutlich, dass FAUSTRECHT DER FREIHEIT zur Bewegung des Neuen Deutschen Films gehört, die in den 1960ern in Deutschland Fuß fasste. Es sind unkonventionelle Filme mit gesellschaftspolitischen Themen, die in diesem Zusammenhang entstanden sind. Die Figuren sind häufig auf der Suche nach ihrer eigenen Identität und finden sich in schwierigen Gesellschaftsverhältnissen (vgl. Grob/Prinzler/Rentschler 2012: 9–53). „Der Neue Deutsche Film mischte die Erfahrung der Entzauberung mit dem Geist der Hoffnung, subjektive Vision mit kollektiver Anstrengung, alternative Energie mit utopischem Anspruch.“ (Grob/Prinzler/Rentschler 2012: 53) FAUSTRECHT DER FREIHEIT nimmt diese Thematiken auf. Franz findet sich wieder zwischen Ausbeutung, gesellschaftlichen Normen, Sexualpolitik und der Suche und dem Verlust der eigenen Identität.

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1 FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD 1974/1975, Rainer Werner Fassbinder).


Filme

FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD 1974/75, Rainer Werner Fassbinder).

DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1972/73, Heiner Carow).

Forschungsliteratur

Beljan, Magdalena (2014): Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD. Bielefeld.

Colin, Nicole/Franziska Schössler/Nike Thurn (2012): „Einleitung“. In: Dies. (Hgg.): Prekäre Obsession. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Bielefeld, S. 7–28.

Der Spiegel (1969): „§ 175. Das Gesetz fällt – bleibt die Ächtung?“ 20/1969, S. 55–82.

Eckhardt, Bernd (1982): Rainer Werner Fassbinder. In 17 Jahren 42 Filme – Stationen eines Lebens für den deutschen Film. München.

Elsaesser, Thomas (2012): Rainer Werner Fassbinder. 2. überarb. Aufl. Berlin.

Frank, Reinhard (Hg.) (1987): Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetze. Leipzig.

Grob, Norbert/Hans Helmut Prinzler/Eric Rentschler (2012): „Einleitung“. In: Dies. (Hgg.): Neuer Deutscher Film. Stuttgart, S. 9–58.

Preisendanz, Holger (Hg.) (1970): Strafgesetzbuch. Lehrkommentar mit Erläuterungen und Beispielen sowie den wichtigsten Nebengesetzen und je einem Anhang über Jugendstrafrecht, Jugendschutz und Strafprozeßrecht. Berlin.

Preisendanz, Holger (Hg.) (1978): Strafgesetzbuch. Lehrkommentar mit Erläuterungen und Beispielen, ausgewählten Nebengesetzen sowie einem Anhang über Jugendstrafrecht. Berlin.

Reuband, Karl Heinz (1989): „Über gesellschaftlichen Wandel, AIDS und die Beurtei-lung der Homosexualität als moralisches Vergehen. Eine Trendanalyse von Bevölkerungsumfragen der Jahre 1970 bis 1987“. In: Zeitschrift für Soziologie 18, Nr. 1, S. 65–73.

Woltersdorff, Volker (2012): „Keine Minderheitendramen. Homosexuelle Minoritä-ten und Fassbinders Filme“. In: Nicole Colin/Franziska Schössler/Nike Thurn (Hgg.): Prekäre Obsession. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Bielefeld 2012, S. 223–239.

Zirpis, Walter (Hg.) (1940): Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Erläuterte Textaus-gabe mit einem ausführlichen Sachregister, nebst Einführungsgesetz und den wichtigsten Nebengesetzen. Berlin 1940.