Etappen der deutschen Filmgeschichte – kultursemiotische Perspektiven. Eine Einführung

Marina Uelsmann

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Spielfilme sind fester Bestandteil unseres Alltags – so selbstverständlich und doch auch so komplex, dass eine ‚einfache‘, private Rezeption das Geflecht aus Zeichen und Bedeutungen nur in Teilen zu entschlüsseln vermag. Die Kultursemiotik ermöglicht es, Filme als kulturelle Produkte zu analysieren und Aussagen über Text-Kontext-Relationen zu treffen. Sie versteht Filme als Texte, die es zu ‚lesen‘ gilt, um das Selbstverständnis einer Kultur sichtbar zu machen. Betrachtet man allein die deutsche Filmgeschichte, ist der Umfang des Korpus enorm – eine Auswahl erlaubt es dennoch, Kontinuitäten, Brüche und gewisse historische Linien in deutschen Filmen festzustellen. Zur kultursemiotischen Analyse deutscher Filme stehen drei Ansätze im Vordergrund: Michael Titzmann konzentriert sich in „Propositionale Analyse und kulturelles Wissen“ auf die Wechselwirkung zwischen Textaussagen und kulturellem Wissen. Martin Nies erarbeitet in seinem Aufsatz „Kultursemiotik“ ein differenzierteres Modell von Kultur und anwendungsorientierte Analysefragen. Mit „Wie wir den Zusammenhang von Texten, Denken und Gesellschaft verstehen“ schlägt Martin Siefkes schließlich ein Vier-Ebenen-Modell für eine komplexe diskursanalytische Analyse vor, das eine erweiterte Diskursdefinition und die Wechselbeziehungen verschiedener Kulturaspekte integriert.

Das theoretische Fundament: Bausteine einer Kultursemiotik
Titzmanns Text gibt ein Grundgerüst vor, indem er eine Definition von kulturellem Wissen vorschlägt. Kulturelles Wissen entspricht der Gesamtmenge aller von den Mitgliedern einer Kultur für wahr gehaltenen Propositionen; Letztere sind die expliziten und impliziten Aussagen archiviert in Texten. Explizit sind sie, wenn sie Behauptungen sind, implizit, wenn es sich um Voraussetzungen und Forderungen handelt. Sie lassen sich in fiktionalen wie auch in nichtfiktionalen Texten finden. Ergänzend dazu benennt Titzmann informatorische Nullpositionen, bei denen es sich um Aussagen handelt, die ein Text geben könnte, sie aber nicht gibt. Diese Informationslücken können unterschiedlich motiviert sein.

Textpropositionen können das kulturelle Wissen bestätigen oder ihm widersprechen, denn nur durch Widerspruch kann sich kulturelles Wissen wandeln. So standen physikalische Theorien über den Lauf der Sonne und der Erde im Widerspruch zum christlichen Weltbild und dem damaligen kulturellen Wissen, dass sich die Sonne um die Erde drehe, was letztlich zu jenem Paradigmenwechsel führte, der unser heutiges Weltbild bestimmt.

Aufgrund seiner historischen Variabilität lohnt sich die kultursemiotisch fundierte Analyse des Mediums Film, um etwas über damalige Kulturen und ihr kulturelles Wissen zu erfahren. Für Titzmann ist der Text zentral. Erweitert man seinen Textbegriff, kann sein Ansatz auch für eine Filmanalyse nutzbar gemacht werden (wie bereits bei Krah/Titzmann 2013 geschehen).

Kulturelles Wissen muss nicht bewusst sein, um angenommen zu werden – oft wird es erst im Vergleich zum kulturellen Wissen anderer Kulturen bewusst. Es kann in allgemeines und gruppenspezifisches Wissen eingeteilt werden, wobei evident ist, dass kein Individuum über das gesamte kulturelle Wissen seiner Kultur verfügen kann. Das Wissen einer Teilgruppe der Gesellschaft kann auch dem Wissen einer anderen Teilgruppe widersprechen, wie es bei religiösen oder wissenschaftlichen Aussagen oft der Fall ist. Trotzdem können beide Gruppen innerhalb einer Gesellschaft koexistieren.

Titzmann zeigt auf, dass es sich bei der Analyse eines Textes um ein reziprokes Verhältnis handelt: Kulturelles Wissen ist eine analytische Grundvoraussetzung, andererseits kann aus der Textanalyse Wissen abgeleitet werden. Dadurch vergrößert sich der rekonstruierte Bestand kulturellen Wissens. Man kann hier von einem Analyseapparat 1 sprechen: die Ausweitung des Textbegriffs auf Filmtexte, eine griffige Definition kulturellen Wissens, der Begriff der Proposition und die Bewusstmachung vom Wechselverhältnis aus Aussagen und Wissensannahmen bilden dabei die Komponenten dieses Apparats. Somit könnte eine strukturale Textanalyse vor dem Hintergrund kulturellen Wissens als eine Art Film-Basisanalyse erfolgen.

Nies arbeitet in seiner Kultursemiotik mit anderen Klassifizierungen. Ihm geht es in erster Linie nicht um kulturelles Wissen, sondern zunächst um Kultur, die er definiert als hierarchisch geordnete Gesamtheit aller Zeichensysteme, die in der Lebenspraxis einer Gemeinschaft verwendet werden. In einer Kultur existieren diverse Teilkulturen nebeneinander, die sich eben wie die Gesamtkultur mit der Zeit wandeln. Aus semiotischer Perspektive kann dieser Wandel als Paradigmenwechsel beschrieben werden, indem sich etwa gesellschaftliche, ästhetische oder wissenschaftliche Diskurse wandeln. Nies legt damit einen anderen Schwerpunkt in der Beschreibung von Wissenswandel. Er definiert Diskurse als System des Denkens und Argumentierens. So wandelt sich das Denken über beispielsweise gesellschaftliche Hierarchien und die Paradigmen, die damit verbunden werden.

Für Nies ist die Unterscheidung in soziale, materielle und mentale Kultur bedeutend. Unter sozialer Kultur werden Verhaltensweisen und Alltagspraktiken sowie Normen und soziale Strukturen gefasst. Diese können sich in die materielle Kultur einschreiben, die die materiellen Artefakte – den kulturellen Speicher – umfasst. Derartige Artefakte können auch Filme sein. Die mentale Kultur hingegen ist nicht materiell, sondern beinhaltet die Codes (Zeichensysteme und ihr Regelsystem) und das kulturelle Wissen. Selbstverständlich interagieren alle drei Kulturteile miteinander und sind nie ganz voneinander getrennt zu betrachten.

Die Semantik eines Textes lässt sich durch verwendete Zeichen, durch semantische Verbindungen zu anderen Zeichen und den kulturellen Kontext, in dem der Text geäußert wurde, herausarbeiten. Die Darstellungsweise eines Textes ermöglicht es, herauszufinden, was in einer Kultur als wünschenswert und was als nicht wünschenswert deklariert wird. Durch die Analyse kann ein Modell von Welt, das durch die Zeichen erschaffen wurde, erfasst werden, wobei diese dann Rückschlüsse auf die Kultur, die dieses Modell von Welt hervorgebracht hat, ziehen lassen. Die Diegese ist somit nicht Abbild der Realität, sondern Ausdruck einer Vorstellung von Realität. Im Rückgriff auf Jurij M. Lotman sind für Nies Literatur, Kunst und Film sekundäre semiotische Systeme, die durch Neukombinationen von Zeichen aus primären Zeichensystemen eigene Semantiken aufbauen und Welten modellieren.

Nies betont, dass vor allem zentrale Diskurse und Themen einer Kultur, und nicht ihre randständigen in ihren Artefakten verhandelt werden. Dem widerspricht nicht, dass auch Teilkulturen (und Subkulturen) Gegenstand filmischer Auseinandersetzung werden können; im Gegenteil sind es in diesen Fällen oft die einenden Aspekte, die mit der Betrachtung von Teilkulturen verhandelt werden. Wie schon von Titzmann konstatiert kann laut Nies durch die Analyse von Artefakten Propositionen und Wissen anderer Kulturen rekonstruiert werden. Der Umgang mit Artefakten geschieht dabei notwendigerweise aus der eigenen (historischen) Perspektive und enthält damit immer auch Aussagen über die eigene Gegenwart. Zur konkreten Analyse eines (jeden) Textes schlägt Nies einen Fragenkatalog vor, der für Erweiterungen offen ist. Er fragt nach den verhandelten Themen und Diskursen, den ästhetischen Vermittlungsstrategien und den (daraus zu schließenden) Normen und Werten, nach dem Verhältnis des Textes zu anderen fiktionalen und nicht fiktionalen Texten und den ideologischen Konstrukten, aus denen sich Wirklichkeitskonstrukte ableiten lassen. Damit wäre der Analyseapparat 2 nach Nies sehr anwendungsorientiert: Er führt in die Kultursemiotik ein; das Kernstück der Methodologie dieser Paradigma-Ausgabe. Sein differenzierter Kulturbegriff, sein konkreter Fragenkatalog zur kultursemiotischen Analyse und sein demokratisches Textverständnis sind gut auf eine kultursemiotische Filmanalyse übertragbar.

Siefkes greift das Modell der drei Kulturteile von Nies auf und erweitert es. Er ergänzt die Diskursanalyse durch einen genaueren und verbindlichen Diskursbegriff und durch ein Vier-Ebenen-Modell, das eine genaue und komplexe Analyse ermöglicht. Diskurse sind in seinem Sinne Zeichenpraktiken, die sich mindestens eines Codes bedienen. Gleichzeitig bestehen sie aus den Texten, die diese Zeichenpraktiken hervorgebracht haben. Sie sind ebenso Produkt wie Produzent von Zeichen und Bedeutungen.

Wie auch bei Titzmanns Feststellung, dass kulturelles Wissen in der Textanalyse reziprok ist, ist bei Siefkes das Text-Kontext-Verhältnis von Zeichenpraktiken wechselseitig: Zeichenpraktiken sind wirklichkeitskonstituierend, denn sie erzeugen Muster, die auf Diskurse in der Gesellschaft einwirken, indem sie dort vorhandene Muster schaffen, verfestigen oder verschleiern. Diese gesellschaftlichen Muster wiederum wirken auf diskurserzeugenden Zeichenpraktiken zurück. Die drei Teilbereiche werden bei ihm leicht abweichend bezeichnet: Der materialen Kultur entspricht die Zivilisation, die mentale Kultur ist die Mentalität und die soziale Kultur die Gesellschaft; alles in allem sind sie deckungsgleich mit den Kategorien bei Nies. Die erste Ebene bei Siefkes bezieht sich auf die raumzeitliche Einordnung und die thematische Begrenzung: Was kann in einer Kultur als Thema gedacht werden? Die daraus entstehenden Diskursmuster schlagen sich in einem Textmuster nieder, das sich auf der zweiten Ebene – und zwar auf der des Textes – befindet. Texte werden als codierte Artefakte verstanden und sind damit Teil der Zivilisation. Auch an dieser Stelle können Filme auf einem Speichermedium als Beispiel genannt werden: Sie beinhalten ein Textmuster, das Diskursmuster ausdrückt, und sind damit als Teil der Zivilisation trotzdem mit den anderen Ebenen verflochten.

Diese Textmuster wirken in mehrfacher Hinsicht auf die dritte Ebene, die der Mentalität mit ihren Codes und ihrem kulturellen Wissen. Zum einen sind die Texte Anzeichen für mentale Muster (wie schon Titzmann feststellte), zum anderen sind die Textmuster Ursachen für die mentalen Muster und andersherum (auch dies findet sich bei Titzmann).

Gleiches gilt für die vierte Ebene, die Individuen und Institutionen umfasst: die Gesellschaft. Sie wird ebenso wechselseitig von den Textmustern beeinflusst. In diesem Bereich, in dem sich die gegenseitigen Einflüsse zwischen materieller und sozialer wie mentaler Kultur manifestieren, setzt Siefkes die Diskursanalyse an. Dieser Analyseapparat 3 führt also einen differenzierten Diskursbegriff ein, der sich auch auf verschiedene Textarten wie beispielsweise Filme anwenden lässt. Auch die Ausdifferenzierung von Diskursmustern in Textmuster, soziale Muster und mentale Muster hilft, das komplexe Zusammenspiel von Diskurs und Text zu erfassen.

Die Etappen: Schlaglichter der deutschen Filmgeschichte
Stellvertretend für die Etappen der deutschen Filmgeschichte wurden im vorliegenden Heft ausgewählte Schlaglichter, wegweisende und nennenswerte Vertreter des deutschsprachigen Films ausgewählt, um mit ihrer Hilfe den Nutzen einer kultursemiotischen Forschung vorzuführen.

Den Anfang macht Lynn Bürgers Analyse des expressionistischen Films DAS CABINET DES DR. CALIGARI (D 1919/20), der 1920 uraufgeführt wurde. Wie auch in anderen expressionistischen Texten wird das Motiv des Irren aufgegriffen, der den populär geworden psychoanalytischen Diskurs aufgreift und die Unbestimmtheit von Wahrnehmung und Wahrheit transportiert. Dies verknüpft der Stummfilm mit der narrativen Struktur, die einander widersprechende Erzählinstanzen einführt. Die unzuverlässige Erzählung des (vermeintlich) psychisch kranken Franzis wirft Fragen über Realität auf, die damit relativiert wird. Auch das Wechselspiel aus zwei- und dreidimensionaler Kulisse im expressionistischen Stil ist damit verbunden. Der Film entstand zum Ende dieser kurzen (vor allem literarischen) Epoche und führt sie mit seinen Mitteln fort – auf gestalterischer wie auf inhaltlicher Ebene. Bürger konzentriert sich in ihrer Analyse auch auf nichtkünstlerische Artefakte wie zeitgenössische Filmkritiken, um die damalige Rezeption des Films erfassen zu können. Die Filmkritiken lassen Rückschlüsse auf die mentale Kultur zu, bei die Frage nach subjektiver Wahrnehmung offensichtlich einen wesentlichen Verhandlungskomplex formiert.

In der zweiten Analyse wird ein weiterer Film der Weimarer Republik untersucht: der frühe Science-Fiction-Klassiker METROPOLIS (D 1927), der 1927 in den deutschen Kinos lief. Auch wenn der Film zunächst ein kommerzieller Misserfolg war, wurde er im Laufe der Zeit zum Klassiker aufgewertet. Die Analyse von Christoph Bosien zeigt, dass zeitgenössische Themen wie Okkultismus und Klassenkampf auf histoire- und discours-Ebene verhandelt werden. Dem Okkultismus gegenüber gestellt werden christliche Motive wie die Jesus-/Erlöserfigur, die sieben Todsünden und die personifizierte Sünde als ,Hure Babylon‘. Die Filmhandlung wird entfaltet anhand der als Gegenstücke gesetzten Paare Okkultismus/Christentum, Oberschicht/Unterschicht, Sünde/Erlösung, die wiederum an die zentralen Figuren Freder, Maria, Rotwang und Robomaria gekoppelt sind. Das Happy End mit Freder als Vermittler zwischen den Klassengesellschaften der Ober- und Unterstadt zeigt ihn als (christliche) Erlöserfigur, die christliche Werte und Traditionen als Lösungsstrategie darstellt, während der okkulte Raum, dem der Erfinder Rotwang mit seinem Androiden Robomaria angehört, getilgt wird.

Der deutsche Nachkriegsfilm wird mit dem Kriminalfilm DER FROSCH MIT DER MASKE (DK 1959) behandelt. Zentral ist dort das Problem der Identität. Eingebettet in das Kriminalgenre, das eine Krise und eine Bedrohung der Ordnung zum Ausgangspunkt der Handlung macht, werden Demaskierung und Stigmatisierung miteinander verschränkt. Die Diegese ist mit einer klaren Einteilung von Figuren in ‚gut‘ und ‚böse‘ unterkomplex, wobei erst im Verlauf der Filmhandlung erkennbar wird, welche Figur dem semantischen Raum ‚Ordnung/Gut‘ und ‚Chaos/Böse‘ zugeteilt ist. Die Analyse von Annika Herrmann und Sina Weiß zeigt, dass die unterkomplexe Diegese, deren Ordnung bedroht ist, teilweise der traumatisierten und mit Schuld belasteten Nachkriegsgesellschaft entspricht, die ebenfalls mit Demaskierung (ehemaliger) NationalsozialistInnen zu kämpfen hat. Der Erfolg dieses Kriminalfilms legt nahe, dass sich die damalige Kultur nach einfachen Antworten und Problemlösungen sehnte, in der Einzelfiguren als Vertreter der Ordnungsinstanz den semantischen Raum des Verbrechens tilgen.

Stephan Brössel bespricht den DEFA-Film DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973): Dabei ist das Verhältnis von Individuum und sozialer Wirklichkeit zentral, ebenso wie die Verhandlung von Liebe als romantischer Mythos. Hier zeigt sich der Einfluss von kulturellem Wissen auf die materielle Kultur; der Film als Artefakt, der das Konzept der romantischen Liebe radikalisiert und damit zugleich gesellschaftskritisch funktionalisiert. Zentral ist für Paul wie für Paula die Grenzüberschreitung vom semantischen Raum des konformistischen, lieblosen Alltags hin zum disjunkten semantischen Raum der Liebe. Dieser ermöglicht eine zeitweise Aufhebung von Realität, die einerseits die Empfindung der ProtagonistInnen intensiviert, andererseits aber auch einen schmerzhaften Realitätsverlust auslöst. Radikalisiert romantische Liebe wird als eine Form der Selbstbefreiung gestaltet und scheint damit ein enormes Identifikationspotenzial zu enfalten, wodurch sich der nachhaltige Erfolg der DEFA-Produktion erklären ließe.

FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD 1974/75) ist ein Beispiel für die Filmetappe des Neuen Deutschen Films in den 1960er- und 70er-Jahren. Der Autorenfilm von Rainer Werner Fassbinder verhandelt männliche Homosexualität und die Grenzziehungen zwischen Proletariat und Bürgertum. Friederike Brinkmann und Juliane Baier zeigen in ihrem Beitrag die Aushandlung von Machtstrukturen anhand der semantischen Räume ‚Privatheit‘ und ‚Öffentlichkeit‘ sowie ‚Bürgertum‘ und ‚Proletariat‘. Der Versuch des jungen Proletariers Franz, die Grenze zwischen den semantischen Räumen ‚Proletariat‘ und ‚Bürgertum‘ zu überwinden, scheitert. Sein Tod am Ende des Films zeigt auf histoire-Ebene die Sanktionierung des versuchten Grenzübertritts und stellt die bestehende gesellschaftliche Ordnung als unveränderbar dar. Als Zeitdokument ist der Film als eine politische Positionierung in den 1970er-Jahren zu verstehen. Wenn auch durch die ‚Normalisierung‘ schwulen Lebens eine Aufwertung stattfindet, wird das Milieu zugleich zwielichtig dargestellt. Außerdem steht der generellen Aufwertung von schwulem Leben eine Abwertung von auf Grenzen beharrenden Bürgerlichen gegenüber, womit der Film die soziale Entwicklung einer vom Aufschwung einer profitierenden Sozialklasse hin zu einer überheblichen, nichtempathischen Schicht kritisiert.

Mit 100 JAHRE ADOLF HITLER (D 1988/89) rückt eine Reaktion auf die Erfolge und Filme des Neuen Deutschen Kinos in den Fokus. Als Drehbuchautor, Regisseur und Finanzier des Films radikalisiert Christoph Schlingensief einige Merkmale des Neuen Deutschen Films und führt ihn damit zwar fort, grenzt sich aber gleichzeitig von ihm ab. Anders als die bisherigen Beispiele verweigert der Film eine gelingende Kommunikation mit dem Publikum. Innerhalb der Diegese verstehen sich die Figuren teilweise untereinander, aus Rezeptionssicht ist ihr Handeln und ihre Sprache unverständlich. Damit stoßen erprobte Mittel der Filmanalyse an ihre Grenzen. Die Szenen folgen keiner Logik und keinem kausalen Zusammenhang. Der Beitrag von Holger Grevenbrock und Julian Kaupmann zeigt, dass das Chaos im Bunker in der filmischen Umsetzung seine Entsprechung hat. Auch grenzt sich 100 JAHRE ADOLF HITLER von historischen Filmen ab, da das Figurenensemble in seiner Zusammenstellung den historisch überlieferten Tatsachen widerspricht. Gleichzeitig streut er popkulturelle Referenzen wie die Filmmusik von HALLOWEEN (USA 1978) ein. So ist eine Kontextualisierung für ein Verständnis unabdingbar. Die Montage zum Abspann, in der die Ehrung von Wim Wenders in Cannes verwendet wird, lässt sich dann als Kommentar auf den Neuen Deutschen Film erfassen.

LOLA RENNT (D 1998) ist im Gegensatz zu 100 JAHRE ADOLF HITLER massenkompatibel. Durch eine Strategie der Doppelcodierung werden unterschiedliche Publikumsgruppen angesprochen: Die einerseits simple Geschichte ist durch ihre Gestaltung gleichzeitig spannend und zerstreuend und dabei philosophisch aufgeladen. Tom Tykwers Film lässt sich als Referenz und damit auch Beispiel für postmodernes Erzählen heranziehen. Sophie Hohmann und Sarah Richter zeigen auf, wie der Film die Vielzahl an Möglichkeiten, die das globalisierte Leben Ende des 20. Jahrhunderts bereithält, und dabei auch das Medium Film selbstreflexiv verhandelt. Die drei Varianten, wie die Geschichte verläuft und ausgeht, sind gleichzeitig zirkulär und linear gestaltet Lola rennt ruft mit seinem Soundtrack, mit seiner Visualisierung, dem Umgang mit Echtzeit und Fast Forward ein (popkulturelles) Archiv an intertextuellen und intermedialen Referenzen auf. Im Verbund mit dem Bewusstsein, kommerziell und damit Teil der Konsumkultur zu sein, bringt LOLA RENNT entscheidende Charakteristika von postmodernem Kino zusammen.

Bei VICTORIA (D 2015) sind die Mittel der Kamera und Ästhetik entscheidend. Mona von Homeyer und Diana Storcks stellen dies in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Dadurch, dass es einen keinen Schnitt gibt, spielt sich die gesamte Handlung in Echtzeit ab: ein Realitätseffekt ist die Folge. Die Kamera ist eine besondere Vermittlungsinstanz und nimmt eine personale Erzählhaltung ein, die an der Perspektive Victorias orientiert ist. Das Spiel mit Realität und Fiktion ist letztlich ein Spiel mit dem Medium Film. Eine kultursemiotische Analyse macht sichtbar, dass nicht nur auf histoire-Ebene Themen wie Einsamkeit und Familiarisierungsstrategien der Generation Y gesellschafts- und sozialkritisch verhandelt werden, sondern auch, dass für den aktuellen Film die Reflexion des Mediums Film eine enorme Bedeutung hat.


Forschungsliteratur

Krah, Hans/Titzmann, Michael (2013): Medien und Kommunikation. Ein interdisziplinäre Einführung. Passau.

Nies, Martin (2011): „Kultursemiotik“. In: Barmeyer, Christoph/Petia Genkova/Jörg Scheffer (Hgg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. 2. Aufl., S. 207–225.

Siefkes, Martin (2013): „Wie wir den Zusammenhang von Texten, Denken und Gesellschaft verstehen. Ein semiotisches 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse“. In: Zeitschrift für Semiotik. Tübingen, Bd. 35, H. 3–4, S. 353–391.

Titzmann, Michael (2017): „Propositionale Analyse und kulturelles Wissen“. In: Krah, Hans/Michael Titzmann (Hgg.) Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau, S. 81–108.