Theologisch-Ethische Genderforschung

Als Ordnungskategorie des Sozialen ist Geschlecht/Gender eine wichtige Referenzgröße für Christliche Sozialethik. Gesellschaftliche Ordnungen bestimmen den Ort von Menschen im sozialen Gefüge anhand bestimmter Eigenschaften, u. a. Geschlecht (gender), sexuelle Orientierung, ethnische (race; ethnicity) und soziale (class) Zugehörigkeit. Sie beeinflussen damit Maßstäbe, Regeln und Verwirklichungschancen von Inklusion, Anerkennung, Beteiligung (Partizipation) und autonomer Lebensführung. Die Würde jeder Person zu achten, umfasst auch die geschlechtliche Identität und bildet den Maßstab für eine diskriminierungsfreie und gerechte Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder. Diesen grundlegenden sozialethischen Anspruch einzulösen, verlangt, die geltenden Geschlechterordnungen im Recht, in sozial-kulturellen sowie religiösen Regeln, Praktiken und Erwartungen kritisch zu befragen.

Geschlecht als Analysekategorie ermöglicht es, Hierarchisierungen, diskriminierende und exkludierende Wirkungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit als Gerechtigkeitsprobleme aufzudecken und zu untersuchen, wie sich verschiedene Diskriminierungsfaktoren gegenseitig verstärken (Intersektionalität) oder auch aufheben. Wie jede gesellschaftliche Ordnung ist eine Geschlechterordnung ethisch danach zu beurteilen, ob sie gleiche Freiheit und Sicherheit für alle sowie Schutz für die Schwachen bzw. Marginalisierten gewährleistet und Bedingungen schafft, unter denen Menschen jeden Geschlechts ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können.

Dieser Forschungsschwerpunkt steht in enger Kooperation mit der Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät. Theologische Genderforschung ist eine Querschnittsdisziplin durch alle theologischen Disziplinen, weswegen auch die Christliche Sozialwissenschaft hierzu intensiv forscht.

Außerdem haben Fragen nach Geschlechterverhältnissen in nahezu allen anderen Forschungsschwerpunkten des ICS auch eine Bedeutung, die es ebenfalls zu reflektieren gilt. Insbesondere sei hier auf die Projekte im Bereich der Sozialethischen Ekklesiologie verwiesen.

Untenstehend finden Sie nähere Informationen zu dem laufenden Projekt zur prekären Anerkennung sowie zu dem abgeschlossenen Projekt unter dem Titel Gender – Religion – Nation.

  • Prekäre Anerkennung: Das 'dritte Geschlecht' in sozialethischer Perspektive

    DFG
    © DFG

    Das Projekt setzt sich aus christlich sozialethischer und philosophischer Perspektive mit den gesellschaftlichen Folgen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten "dritten Geschlecht" vom Oktober 2017 (1 BvR 2019/16) und der daraufhin veränderten und weiterhin umstrittenen Rechtslage im Personenstandsrecht auseinander. Es untersucht die aktuelle politische und soziale Debatte unter der Leitfrage, welche neuen sozialen Konflikte die rechtliche Anerkennung produziert und wie theologische Ethik zur Bearbeitung dieser Konflikte produktiv beitragen kann. Dabei richtet sie als kritische Reflexionsinstanz ein besonderes Augenmerk auf die katholische Kirche, insofern diese als gesellschaftlicher Akteur an den Anerkennungskonflikten um das dritte Geschlecht beteiligt ist. Der gesetzgeberische Prozess, der Ende 2018 zu einem ersten Abschluss gekommen ist, wird dabei explizit nicht als Endpunkt (gelungener oder verfehlter) Anerkennung, sondern als Ausgangspunkt notwendiger Reflexion auf fortlaufende und neu angestoßene soziale Prozesse verstanden.

    Die vom Bundesverfassungsgericht verlangte und inzwischen erfolgte Anpassung des Personenstandsrechts schreibt eine Entwicklung fort, die sich schon in der Schaffung der "eingetragenen Lebenspartnerschaft" und der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, in der verfassungsrechtlichen Beschäftigung mit dem Transsexuellengesetz (TSG) sowie in der ersten, zaghaften Reform des Personenstandsrechts im Jahr 2013 abgezeichnet hatte. Es handelt sich, allgemein gesprochen, um eine Öffnung und Liberalisierung des rechtlichen Umgangs mit Kategorien von Geschlecht, Identität, Sexualität, Partnerschaft und Familie.

    Aus den genannten rechtlichen Veränderungen ergeben sich neue weltanschauliche Konflikte, die nicht durch das Rechtssystem zu klären sind. Sie betreffen auch die Kirche als gesellschaftliche Akteurin in ihrem Selbstverständnis, wie gegenwärtig in den Debatten und Entscheidungsprozessen des Synodalen Weges überaus deutlich wird. Deshalb soll untersucht werden, wie die katholische Kirche angesichts ihrer ethischen und metaphysischen Tradition, die von der Binarität und Komplementarität der Geschlechter ausgeht, mit den Veränderungen umgehen und am gesellschaftlichen Dialog teilnehmen kann, wie sie den laufenden sozialen Anerkennungsprozess aneignen und darauf konstruktiv einwirken kann und welche Auswirkungen der gesellschaftlichen Prozesse auf die Kirche zu erwarten sind. Besonders interessiert uns dabei die Frage, wie die entsprechenden Anerkennungskonflikte innerhalb der Kirche ausgetragen werden. Die Anerkennungskonflikte werden auf der Grundlage von Judith Butlers anerkennungstheoretischem Werk als offener Prozess ohne festes Telos gelingender Anerkennung analysiert. Die zugrunde liegenden weltanschaulichen Differenzen zum Begriff Geschlecht werden mit Hilfe von Ludwik Flecks Denkstilanalyse untersucht.

    Zur Begleitung und zum vertieften wissenschaftlichen Austausch wurde eine Kontaktgruppe mit Expert*innen aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen und Kontexten eingerichtet. Als Mitwirkende konnten Ass. Prof.'in Dr. Maren Behrensen (Universiteit Twente/NL), Prof.'in Dr. Judith Hahn (Univ. Bonn), Prof. Dr. Walter Lesch (Univ. Leuven/B), Katharina Mairinger-Immisch (Univ. Bochum), JP Dr. Anna Maria Riedl (Univ. Bonn) und Prof. Dr. Mathias Wirth (Univ. Bern) gewonnen werden.

    Dem Arbeitsschwerpunkt Genderforschung ist das Dissertationsprojekt von Lea Quaing zugeordnet.

    Verantwortlich:

    • Prof.'in Dr. Marianne Heimbach-Steins (ICS, Münster)

    Mitarbeit:

    • Lea Quaing, Mag. Theol., wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Mara Klein, MEd., wissenschaftliche*n Mitarbeiter*in

    Kooperation:

    •  Arbeitsstelle Theologische Genderforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät (seit WS 2018/19) zur Homepage

    Kontakt:

    Finanzierung:

    • Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (2022-2025)
  • Gender – Religion – Nation

    Exzellenzclusters "Religion und Politik"
    © Exzellenzclusters "Religion und Politik"

    Auf der Grundlage der im Juni 2017 durchgeführten Tagung der Arbeitsplattform "Religion, Politik und Geschlechterordnung" im Exzellenzcluster Religion und Politik zum Thema "Gender – Religion – Nation" wurde ein Buchprojekt unter dem gleichen Titel entwickelt, das von Maren Behrensen gemeinsam mit Marianne Heimbach-Steins und der Soziologin Linda Hennig (CRM – Centrum für Religion und Moderne) herausgegeben wird. Der Band fokussiert in international vergleichender Perspektive (mit Beispielen aus Deutschland, Russland, Südosteuropa und den USA) gesellschaftliche Debatten über den Wert von Ehe und Familie, die Frage der Abtreibung, Rechte sexueller Minderheiten, Sexualkundeunterricht oder Gleichstellungspolitiken, die insbesondere aus (rechts-)populistischen und religiös-fundamentalistischen Quellen gespeist werden und so nationalistische Motive mit der Ablehnung der sogenannten "Gender-Ideologie" verknüpfen. Die Publikation ist im Frühjahr 2019 erschienen in der Reihe "Religion und Moderne" im Campus-Verlag, Frankfurt.

    Zwischen diesem Vorhaben und der Analyse der Programmatik der Partei "Alternative für Deutschland" (familien- und geschlechterpolitische Aspekte), die wir im Frühsommer 2017 vorlegten, bestehen thematische breite Schnittstellen. Die beide Projekte verbindende Auseinandersetzung mit Genderfragen im Horizont rechtspopulistischer Anti-Gender-Diskurse führte im akademischen Jahr 2017/18 zu einer Reihe von Einladungen und Veranstaltungensbeteiligungen verschiedener gesellschaftlicher und kirchlicher Institutionen.

    Verantwortlich:

    • Prof.'in Dr. Marianne Heimbach-Steins
    • Dr. Maren Behrensen

    Mitarbeit:

    • Josef Becker, Mag.Theol.

    Kooperation:

    • Arbeitsstelle Theologische Genderforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät

    Finanzierung:

    • Exzellenzcluster Religion und Politik (2018)
    • Programm Geschlechtergerechte Hochschule des Landes NRW (bis 12/2019)
    • Eigenmittel (2019/2020)

    Laufzeit: 2016 bis 2019