„Die Aufgeschlossenheit ist größer geworden“

Religionssoziologin Gärtner über den deutschen Esoterikmarkt

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Dr. Christel Gärtner

© Julia Holtkötter

Ist Esoterik in Deutschland auf dem Vormarsch? Das legt zumindest die Titelgeschichte der „Zeit“ (Donnerstag) nahe. Die Wochenzeitung stützt sich auf aktuelle Zahlen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus). Demnach herrscht bundesweit eine wachsende Aufgeschlossenheit gegenüber Wunder- und Geistheilern. Die Umsätze der Esoterikbranche konnten sich zwischen 2000 und 2010 von 9 Milliarden auf 20 Milliarden Euro mehr als verdoppeln. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) ordnet Christel Gärtner, Sprecherin der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die Zahlen ein. Und warnt vor vorschnellen Schlüssen.

Frau Gärtner, bundesweit zeigt sich inzwischen jeder Vierte aufgeschlossen gegenüber Wunder- und Geistheilern, fast jeder Zweite hegt Sympathien für Astrologie oder New Age. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Zunächst einmal würde ich zu Vorsicht gegenüber allgemeinen Rückschlüssen raten. Nehmen wir zum Beispiel die Astrologie. Da wissen wir, dass sich mit diesem Bereich in etwa fünf Prozent ernsthaft auseinandersetzen. Dieser Wert hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Das gleiche gilt etwa auch für okkultistische Strömungen bei Jugendlichen.

Wieso ist in der Allbus-Studie dann von 40 Prozent der Bevölkerung die Rede, die sich offen für Astrologie zeigen?
Das heißt meiner Ansicht nach lediglich, dass dieser Teil der Befragten hin und wieder darauf zurückgreift, ohne deswegen dauerhaft in diesem Milieu verwurzelt zu sein. Wir dürfen nicht in Modellen von Kirchenmitgliedschaft denken. Im Bereich der Esoterik sind langfristige und exklusive Bindungen nicht die Regel. Die ganze Szene lebt eher davon, dass sie auf Individualität setzt und einen geradezu anti-institutionellen Charakter hat.

Das bedeutet: Ein Trend zur Esoterik lässt sich gar nicht nachweisen?
Es gibt einen boomenden Markt, vor allem bei Büchern zu dem Thema. Zusammen mit Berichten in den Medien über esoterische Angebote und Praktiken kommen tatsächlich viel mehr Menschen damit in Berührung als früher. Und so holt sich jemand, der nicht schlafen kann, einen Wünschelrutengänger ins Haus, der nach verborgenen Wasseradern fahndet. Eine grundsätzliche Hinwendung zur Esoterik muss das aber noch lange nicht bedeuten. Lediglich die Aufgeschlossenheit ist heutzutage größer geworden.

Bieten aber nicht doch Krisenerfahrungen wie aktuell die wirtschaftlichen Turbulenzen, die Globalisierung oder der Klimawandel einen neuen Nährboden für esoterische Strömungen?
Natürlich begeben sich in solchen Zeiten mehr Menschen auf Sinnsuche. So ist es sicher kein Zufall, dass die New Age-Bewegungen in den 1960er Jahren entstanden sind, als die Baby-Boomer erwachsen wurden. Diese Generation war zwar gut ausgebildet, aber zahlenmäßig so stark, dass es nicht genügend entsprechende Arbeitsplätze für sie gab. Eine andere These ist, dass die 68er sich der Esoterik zugewandt haben, als sie merkten, dass sich ihre politische Ideale nicht realisieren ließen. Begünstigt wurde dies alles durch einen Säkularisierungsschub, den die westlichen Gesellschaften damals durchlebten. Die klassischen Religionen hatten ihre Funktion als alleinige Sinnstifter verloren.

Müssen die Kirchen künftig stärkere Konkurrenz fürchten?
Nein. Erstens bemühen sie ja schon seit geraumer Zeit mit einem gewissen Erfolg, Traditionen aus anderen Religions- oder Kulturkreisen zu integrieren, etwa über interreligiöse Dialoge oder Angebote wie Zen-Meditationen. Zweitens sind viele Menschen, die sich für Esoterik interessieren, auch für Religion empfänglich. Daran können die Kirchen also durchaus anknüpfen.

(Joachim Heinz, KNA)

Mit freundlicher Genehmigung der KNA