„Zu viele Stereotype über den Orient“

Sinologe Reinhard Emmerich und Arabist Thomas Bauer zum Deutschen Orientalistentag

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Prof. Dr. Reinhard Emmerich und Prof. Dr. Thomas Bauer im Interview zum 32. Deutschen Orientalistentag

© han

Die Deutsche Morgenländische Gesellschaft lädt im September zum bislang größten Deutschen Orientalistentag (DOT) an die Uni Münster ein. Sinologe Prof. Dr. Reinhard Emmerich und Arabist Prof. Dr. Thomas Bauer vom DOT-Komitee schildern im Interview des Zentrums für Wissenschaftskommunikation für die Unizeitung „wissen.leben“, was bei dem Treffen zu erwarten ist und wie sie unser Orientbild zurechtrücken wollen.

Mehr als 1.000 Teilnehmer werden erwartet, die Hälfte aus dem Ausland. Was sind denn Orientalisten?

TB: Als Islamwissenschaftler hört man das Wort seit Edward W. Saids Buch „Orientalism“ nicht gern. Er hat die Debatte über den eurozentrischen Orientbegriff angestoßen. Damit stellte man seit dem 19. Jahrhundert „den“ Orient pauschal „dem“ Westen gegenüber. Man sah China, Japan oder islamische Länder als geschichtslos an, seit Urzeiten gleich. Das ist bis heute verbreitet. Die Orientalistik aber vereint Fächer, die sich differenziert mit verschiedensten Kulturen in Asien, Afrika und arabischen Regionen befassen.

Münster lädt zum DOT mit dem bislang größten Programm ein, 900 Vorträge zum Orient von der Antike bis heute…

RE: Das Spektrum ist groß. Sie finden Gegenwartsthemen wie den Arabischen Frühling, die Türkei heute, islamische Umweltbewegungen oder Chinesen in multinationalen Unternehmen. Hinzu kommt viel Grundlagenforschung – ob indische Buddhisten und ihre Inschriften, das mittelalterliche Indien, koptische Dialekte, Trunksucht in buddhistischen Polemiken. Schließlich nehmen Disziplinen wie Turkologie oder Arabistik Standortbestimmungen des Faches vor.

Welche Regionen und Fächer sind besonders vertreten?

RE: Die meisten Vorträge sind in den Sektionen Indologie, Islamkunde und in der Sektion Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu hören. Die zweitgrößten Sektionen stellen Iranistik, Turkologie und Arabistik, aber auch die Sinologie, die bei früheren DOT nur recht schwach präsent war. Das spiegelt insgesamt wider, wie die Fächer an den Unis vertreten sind. Es sind „kleine“ Fächer mit höchstens drei Professuren. Hochschulpolitisch sind wir nur gemeinsam stark.
Worin besteht für Sie der Reiz, am DOT teilzunehmen?

TB: Vertreter großer Fächer wie der Islamwissenschaft können beim DOT über den Tellerrand ihrer Disziplin blicken. Für kleine Fächer wie die Semitistik ist es eine wichtige Tagung des eigenen Faches. Junge Forscher lassen sich beim DOT vom Austausch mit erfahrenen inspirieren. Viele präsentieren erstmals ihr Thema öffentlich.

RE: Hinzu kommt, dass wir für Münster viele hochkarätige Ehrengäste gewinnen konnten, etwa den Sinologen Wilt Idema und den Osmanisten Cemal Kafadar aus Harvard, Byzantinist Hugh Kennedy aus London, Kunsthistoriker Robert Hillenbrand aus Edinburgh und Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer aus Berlin, die den öffentlichen Vortrag zum zeitgenössischen Islam hält. Auch fanden sich schnell unsere Sektionsleiter. Beides dürfte mit dem guten Ruf der orientalistischen Fächer der Uni Münster zu tun haben.

Plakat

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© WWU/ Marc Lücke und Anna Wassum

Die ersten Orientalisten, oft Missionare oder Kolonialbeamte, erforschten vor allem Sprachen. Wann entstand der kulturwissenschaftliche Ansatz?

RE: Ohne Sprachwissenschaft könnte keins unserer Fächer seine historischen, literarischen und sozialwissenschaftlichen Quellen verstehen. Wer die Verbreitung des Buddhismus in Asien untersucht, braucht etwa Sanskrit, Tibetisch, Pali, Chinesisch. Das verlangt Disziplin und Frustrationstoleranz... Selbst der erfahrenste Wissenschaftler zieht oft das Lexikon zu Rate.

TB: Zum Gegenstand der Orientalistik gehören die ältesten Texte der Menschheit in Keilschrift und Hieroglyphen, oder auch das Aramäische, das über 3.000 Jahre hinweg untersucht wird. Hinzu kommt Feldforschung zu mündlichen Dialekten oder ganz unbekannten Sprachen. Wir wenden auch Methoden der Geschichts-, Rechts-, Politik- und Literaturwissenschaften an, zudem haben wir es mit fast allen Religionen zu tun: Buddhismus, Hinduismus, Shintoismus, Islam, orientalisches Christentum. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist entscheidend.

Warum erforschen europäische Wissenschaftler außereuropäische Kulturen? Ist dort keine freie Forschung möglich?

RE: In China, Japan und Taiwan genießen die Geisteswissenschaften ein sehr hohes Ansehen, wenngleich sie, wie im Westen auch, harter Konkurrenz durch „sciences“ ausgesetzt sind. Dass die Forschung aus politischen Gründen unmöglich wäre, stimmt gewiss nicht. Das Interesse an der eigenen Kultur ist groß, anspruchsvolle wissenschaftliche Literatur ist selbst in kleinen Buchhandlungen verbreitet.

TB: In der arabischen Welt werden die Geisteswissenschaften weniger gefördert als in Europa. Dennoch wird dort geforscht, und wir sind im Austausch. Internationalisierung gehört zu unserem Alltag.

RE: …womit wir der deutschen Gesellschaft weit voraus sind. Wo sind heute Größen
wie Brecht, Döblin, Günter Eich, die sich von China inspirieren ließen, wo ein
universeller Geist wie Friedrich Rückert, der tief vom Orient beeinflusst war?

Warum ist es wichtig, dass wir im Abendland das ferne Morgenland kennen?

TB: Gibt es im 21. Jahrhundert noch ferne Regionen? Die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden verschwimmen. Dennoch beherrschen Stereotype hier das Afrika-, Islam- oder China-Bild. Da heißt es: „In Afrika gibt es nur Elend, eine Geschichte hat es nicht. Der Islam ist intolerant und gewalttätig. China ist konfuzianisch geprägt, heute Feind der Menschenrechte.“ Gegen solche Verallgemeinerungen im Orient-Bild setzen wir ein differenziertes Bild. Der DOT mag beitragen, Missverständnisse aufzuklären. Das Programm steht allen Interessierten gegen eine Tagungsgebühr offen. Das Abendprogramm ist teils öffentlich.

RE: Wenn Europa sich mit China, Japan, Indien oder arabischen Ländern politisch und wirtschaftlich vertragen will, sollte es echten Respekt vor deren Kultur zeigen. Unseren Unis sollte die Erforschung des Orients ein kleiner Teil des Etats wert sein.

Die Öffentlichkeit stellt Experten wie Ihnen oft aktuelle politische Fragen. Ist das Teil Ihrer Fächer?

RE: Schon im Studium ist die Länderkunde genauso wichtig wie der Spracherwerb. Dass sich die Fächer aber wie vor 20 Jahren als Regionalwissenschaften definierten, ist auf dem Rückzug – zugunsten der Philologie. Dennoch ziehen wir aus der Kenntnis der Geschichte und Kulturen Rückschlüsse auf die Gegenwart. Die heutige Politik und Kultur in Asien oder im Nahen und Fernen Osten kann nur verstehen, wer sie durch die Brille dieser Kulturen betrachtet. Das ist dort nicht anders als bei uns.

Interview: Viola van Melis (für „wissen.leben - Die Zeitung der WWU Münster“)