„Ein unglaublicher Bruch mit Autoritäten“

Interview mit Islamwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Bauer im Tagesspiegel

Thomas-Bauer

Prof. Dr. Thomas Bauer

© Julia Holtkötter

Ein Jahr nach dem Beginn des „Arabischen Frühlings“ hat Islamwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Bauer mit dem Tagesspiegel über die Revolutionen in der arabischen Welt gesprochen.

Herr Bauer, im Arabischen Frühling hat sich ein neues Bewusstsein für die historischen und religiösen Wurzeln gebildet. In welche Richtung geht die Identitätssuche?

Mit dem Arabischen Frühling geht eine lange Periode der Erstarrung zu Ende, in der es immer wieder Versuche gab, mithilfe von Ideologien zu einer neuen Identität zu kommen. Der Panarabismus hat wenige sofort wieder gescheiterte Vereinigungsversuche hinterlassen, der Sozialismus hat nicht zu allgemeinem Wohlstand geführt, der Kapitalismus nur zu einem weiteren Auseinanderdriften von Arm und Reich. Und auch dort, wo man islamistische Ideologien ausprobiert hat, wie im Iran, ist die Vorbildfunktion sehr rasch wieder verschwunden.

Der Islamismus ist letztlich der Versuch, nach den westlichen Ideologien, von denen etwa die Diktaturen in Ägypten und Tunesien geleitet waren, eine eigene Ideologie zu schaffen. Das ist dann aber kein Rückgriff auf die tatsächliche eigene Geschichte, sondern auf ein vermeintliches „goldenes Zeitalter“.

Und welche Orientierungsangebote werden da gemacht?

Die Salafiten wollen zurück in die Zeit des Propheten Mohammed und der folgenden Generationen, in denen angeblich der wahre islamische Staat verwirklicht war. Für mich ist das ein Disney-Land-Islam, denn wir wissen zu wenig darüber, um daraus Anweisungen für die Gegenwart ziehen zu können. Die Nationalisten beten andererseits die Argumente des Westens nach, nach denen das goldene Zeitalter im 8./9. Jahrhundert zu suchen ist, als die griechische Philosophie ins Arabische übersetzt wurde und eine rationalistische Theologenschule Staatsdoktrin war.

Sie haben diesen Konzepten mit einem viel beachteten Buch über die „Die Kultur der Ambiguität“ im vergangenen Jahr „Eine andere Geschichte des Islam“ entgegengestellt. Was bedeutet die Akzeptanz von Mehr- oder Vieldeutigkeit, die Sie im klassischen Islam des Mittelalters erkennen?

Über Jahrhunderte war der Islam gegenüber einer Vielfalt von Wertvorstellungen und Lebensentwürfen sehr viel toleranter, als es heute erscheint. Dieses Wissen über die klassische Zeit, die gut 1000 Jahre lang die islamisch-arabische Kulturgeschichte prägte, ist im 19. und 20. Jahrhundert weitgehend verloren gegangen – im Westen und im Nahen Osten. Ambiguitätstoleranz bedeutet, Phänomene der Mehrdeutigkeit oder Vagheit zu akzeptieren, sie sogar gut zu finden. Und das war in der klassischen arabischen Welt in allen gesellschaftlichen Sphären der Fall.

Das ganze Interview: „Ein unglaublicher Bruch mit Autoritäten“ (Prof. Dr. Thomas Bauer, in: Tagesspiegel vom 10. Januar 2012)