Antidemokratische Jäger kompetent als Wilderer enttarnen

Interview mit Gerhard Wittkämper
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Gerhard Wittkämper war von 1975 bis 1998 Direktor des Instituts für Politikwissenschaft in Münster. Im Interview erinnert er sich an die Fusion des IfPol mit der Politikwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, berichtet aus der Forschung seiner langen Amtszeit und benennt die Herausforderungen, vor die er die Politikwissenschaft heute gestellt sieht.

  • Das Institut für Politikwissenschaft in Münster war zu Beginn sehr klein, wenn man es mit anderen Instituten in dieser Zeit vergleicht, und ist erst gewachsen, als Sie es 1975 als Direktor übernahmen. Mit 13 Professuren gehört das IfPol heute zu den größeren Instituten in Deutschland. Wie kam es zu diesem Wachstum?

    Die wichtigste Grundlage für das Wachstum war der von Anfang an bestehende Konsens, ungeachtet der landesweit bekannten Mehrfachbelastung der Kollegen, in Richtung eines in Forschung und Lehre anspruchsvollen Instituts mit europäischer und internationaler Orientierung zu wachsen. Erste umfassende Entlastungen brachten die Berufungen der Kollegen Konegen (Politische Ökonomie) und Meyers (Außen- und Internationale Politik). Aber die sehr großen Entwicklungsschritte waren die Fach-zu-Fachintegration der Politikwissenschaft der Pädagogischen Akademie und das Anlaufen der Drittmittelforschung, und zwar noch 1975.

  • 1980 ist die politikwissenschaftliche Abteilung der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe mit dem Institut für Politikwissenschaft der Universität fusioniert worden. Was war da die Herausforderung? Wie kann man sich die Integration der neuen Kolleginnen und Kollegen vorstellen?

    Es gab eine intensive Diskussion in den aufnehmenden Fachbereichen und Fakultäten, ob der Prozess als Fach-zu-Fachintegration oder als Integration als Fachdidaktik ablaufen sollte. Wir waren mit der Mathematik die Ersten, für die Konsens auf der Institutsebene bestand: etwas anderes als die Fach-zu-Fachintegration kommt für uns nicht infrage. Vorbereitend hatten wir dies schon vor dem formellen Inkrafttreten mit der damals geschäftsführenden Kollegin Gräfin von Bethusy-Huc und Herrn Kollegen Kevenhörster besprochen.

    So bestand bei uns Einigkeit darüber, dass durch diese Integration der uns schon vorher mit ihren Schwerpunkten ausgewiesenen Kolleg/innen das IfPol einen wichtigen weiteren Entwicklungsschritt machen würde, was auch zu 100% eintrat. Entwicklungspolitik, Japanstudien, Verwaltungslehre und -politik, Migrationspolitik, um nur diese Beispiele zu nennen, waren die Profilergänzungen in Forschung und Lehre.

  • Das IfPol ist ein Institut, das seit Langem auf den Ausbau von Forschung, sowohl am Institut selbst als auch vor allem in der Drittmittelforschung setzt. Was waren die ersten großen Projekte, die am Institut betrieben worden sind? Was waren Ihre eigenen?

    Unter den Forschungsprojekten war eine wichtige, eher atypische Kooperation mit den Kollegen der Universität in Twente, in der Sonderform eines gemeinnützigen Vereins EZK e.V.(= Europäisches Zentrum für Kriminalpolitik). Diese Kooperation führte zu einem von mir geleiteten Forschungsschwerpunkt Kriminalpolitik, auch verbunden mit enger Zusammenarbeit mit der damaligen Polizeiführungsakademie. Es herrschte ein sehr nettes persönliches Verhältnis auch der studentischen Mitarbeiter zu den Forschungseinheiten des BKA. Ein unvergessliches Erlebnis war, dass uns der Präsident des BKA zum Mittagsimbiss einlud und darauf bestand, dass neben ihm die Studentinnen und Studenten saßen.

    Großprojekte mit der späteren Föderativen Universität in Rjasan (SPUR) waren der Aufbau eines politikwissenschaftlichen Studiengangs unter der Mitleitung von Herrn Kollegen Robert und eines Forschungszentrums für Europäisches Recht und Europäische Politik, das von den Kollegen Ehlers und Robert mitgeleitet wurde.

    Praktisch haben wir neben diesen Projekten die erfolgreiche Beratung bei der Entwicklung der Föderativen Pädagogischen Hochschule zur Föderativen Universität Rjasan mitgeleistet, und zwar bis zur endgültigen Zertifizierung.

    Es gab auch eine Forschungszusammenarbeit mit der sibirischen Tyumener Staatlichen Universität und der Tyumener Staatlichen Landwirtschaftsakademie. Auf der Basis meines Besuchs in Tyumen, zu dem ich vom Rektorat entsandt worden war, um die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu prüfen und auf Grund eines Gegenbesuchs des Rektorats aus Tyumen kam es im Bereich Landschaftsökologie zu der Bewilligung eines Großforschungsprojekts, gefördert mit mehreren Millionen Mark durch das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie.

    Vielleicht darf ich sagen, dass natürlich bei diesen Forschungsprojekten sehr viele studentische und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt wurden.

    Darüber hinaus ergaben sich auch viele Möglichkeiten für Praktika, sowie Lehrveranstaltungen durch russische Kollegen die zu Gegenbesuchen kamen bis hin zu der Tatsache, dass mehrere Kolleginnen, die schon in Russland ein fertiges Lehramtsstudium absolviert hatten, dann nach Münster kamen.

  • Was waren die Erwartungen der Studentinnen und Studenten, wozu hat man in den 70er und 80er Jahren Politikwissenschaft studiert?

    Mit der Etablierung neuer Berufsfelder, deren Erkundung und Verantwortung ein Auftrag der Studienreformkommissionen war, verbreiterten sich die Wahlmöglichkeiten, auch unterstützt durch ein eigenes Praktikumsprogramm des IfPol. Es standen nicht mehr nur Medien und Lehramt zur Wahl, sondern Tätigkeitsfelder in öffentlicher Verwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände, der Landesregierung und ebenso auf der Bundesebene. Aber vor allem auch Tätigkeitsfelder in Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft. Es sprach sich bei den Studierenden herum, dass wir uns um diese Tätigkeitsfelder kümmerten, auch weil alle Hochschullehrer, darin einig waren, dass wir die Berufsorientierung nicht vergessen durften bei der Anlage und Durchführung des Studiums.

    Wenn man jetzt nach der Entwicklung der Studentinnen und Studenten fragt, dann wuchsen unter ihnen die Interessen an Methoden und Theorien, aber auch die Erwartungen an praktisch verwertbare Lehrveranstaltungen. Als Thema der Studienberatung spielte zunächst die Angst vor der Konkurrenz durch Historiker oder Wirtschaftswissenschaftler eine große Rolle. Wenn die Stellen für Historiker oder Wirtschaftswissenschaftler ausgeschrieben waren, trauten sich viele Studierende nicht, sich auch zu bewerben. Aber diese Angst nahm dann ab, als eine Reihe von ihnen mit ihren Bewerbungen erfolgreich waren.

  • Wenn man sich Ihre Amtszeit anschaut, dann ist eines sehr offenkundig: Sie haben das Institut konsequent internationalisiert. Es gab eine ganze Reihe von internationalen Kooperationen, Rjasan haben Sie schon angesprochen, aber eben auch die Universität in Enschede, später auch in Frankreich. Wie hat sich diese Internationalisierung vollzogen, was war der Anlass dafür?

    Die Internationalisierung des Instituts hatte schon mit dem Seminar begonnen, also mit der Zeit von Herrn Grosser und auch der Zeit der Vakanz danach. Sowohl Herr Woyke (Frankreich, EWG, Europäisches Parlament) als auch Herr Robert (Naher und mittlerer Osten) waren ohne Zurückstellung der deutschen Innenpolitik von Anfang an international orientiert und hatten auch zu dieser Zeit schon Beziehungen.

    Ein Teil der Kooperationen entstand aus Wünschen von Partnerstädten Münsters. Ein Beispiel dafür ist Rjasan, die Partnerstadt Münsters in Russland. Der Vorsitzende des Rates in Rjasan schrieb eines Tages an den Oberbürgermeister, ob wir ihm helfen könnten, bei einzelnen Studiengängen aber auch beim Übergang von der Pädagogi-schen Hochschule zur staatlichen Universität.

    Wieder andere Anstöße kamen aus Wünschen der Landesregierung. Polen war eine besonders dramatische Sache: Mich rief um 6 Uhr morgens der Innenminister Nord-rhein-Westfalens an und berichtete, ein guter Freund von Nordrhein-Westfalen, ein berühmter polnischer Strafrechtler, stehe wegen Unterstützung der neugegründeten polnischen Gewerkschaft unter großem russischen Druck. Die Frage sei, ob er als Ho-norarprofessor zu uns kommen könne. Die Mittel wurden zur Verfügung gestellt und ich habe ihn dann wenige Tage später im Schloss Wilkinghege zum Frühstück begrüßt.

    Aus der Zusammenarbeit mit dem Universitäts-Seminar der deutschen Wirtschaft in Schloss Gracht bei Köln ergaben sich dann Kooperationen mit dem Ashridge Manage-ment College bei London und mit der Industrie- und Handelskammer Paris. Das führte dann auch dazu, dass wir für die Industrie- und Handelskammer Paris in Franken Ma-nagement-Kurse mit dem Inhalt „Kennenlernen der deutschen Verwaltung“ durchführ-ten oder des deutschen politischen Systems überhaupt.

  • Betrachtet man die Personalstruktur des Instituts, dann war es über lange Zeit fast vollständig ein Männerverein, zumindest auf der Professorenebene, wenn man mal von Frau Bethusy-Huc absieht, die dann ja sehr bald schon in den Ruhestand ging. Wie hat sich das Institut über die Jahre dahingehend verändert?

    Das Institut wurde aus meiner Beobachtung durch die Kolleginnen auf genderbezogene theorie- und methodenfragen fruchtbar aufmerksam gemacht und zugleich in der Ein-werbung von Drittmitteln und in der Internationalisierung „angereichert“. Ich möchte den Bereich der Einwerbung von Drittmitteln, also den Bereich von Frau Zimmer, be-sonders hervorheben, auf die ich auch eine Reihe von Netzwerkbeziehungen übertra-gen konnte. Darunter war die damalige Bewegung zu den Bürgerstipendien und Bür-gerstiftungen, die damals von den Raiffeisenbanken und Volksbanken besonders un-terstützt wurden, da war ich im Vorstand dieses Entwicklungsausschusses. Diese Posi-tion habe ich dann, weil ich im Institut überlastet war, auf Frau Zimmer übertragen, die das Ganze gewaltig ausgebaut hat.

    Gerade im Hinblick auf das, was mit der Entwicklung der Politikwissenschaft, über die wir eingangs sprachen, ohnehin nötig war und ohnehin als Komplexitätssteigerung auf uns zukam, auch in der Entwicklung der Theorien und Methoden im Bereich der übri-gen Sozialwissenschaft, habe ich insbesondere die methodische und theoretische Dis-ziplin in meiner Zusammenarbeit mit den Kolleginnen immer sehr bewundert.

  • Sie haben die Politikwissenschaft in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren verfolgen können. Wie schätzen Sie die Entwicklung der Disziplin ein?

    Gemessen an den Medienauftritten und der Selbstverständlichkeit, mit der Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler auch bei früher eher als rein makroökonomisch oder soziologisch angesehenen Fragen hinzugezogen werden, kann man von einer positiven Entwicklung sprechen. Das würde ich so unterstreichen. Mich treiben allerdings drei Fragen um:

    1. Wird es gelingen, von der Consultingwirtschaft weitgehend besetzte, aber originär politikwissenschaftliche Beratungsfelder für die Politikwissenschaft der Hochschulen im Bereich Beratung stärker zu besetzen? Es ist doch ein Witz, dass ein Teil der Aufgaben der Consultingwirtschaft, die Regierungs- und Verwaltungslehre auch in theoretischer Hinsicht betrifft, auch Fragen der vergleichenden Verwaltungslehre und vergleichenden Institutionen, von Mitarbeitern wahrgenommen werden, die eine gute andere Ausbildung hatten, aber wichtige Theorie- und Methodenfragen schon von ihrer Ausbildung her nicht kennen können.
    2. Die Steigerung der Komplexität, Kompliziertheit und Dynamik gesellschaftlicher, ökonomischer, ökologischer, finanzpolitischer und ethischer Problemfelder und Lagebilder erfordert national, überregional und international interdisziplinäre Forschungs- und Lehrearbeit. Wir sind sehr stark vor interdisziplinäre Fragen gestellt, etwa im Bereich der Umweltpolitik oder der Finanzpolitik.
      Wird die Politikwissenschaft sich in diese Arbeit einbringen? Wird sie überhaupt die Möglichkeit und auch die Mittel haben? Das ist die zweite Herausforderung, die über die zukünftige Stellung der Politikwissenschaft entscheiden wird.
    3. Aus meiner bisher theoretischen wie praktischen Befassung mit Fragen der Digitalisierung halte ich das im Jahrbuch 2017 der WWU von Herrn Kollegen Keup vorgestellte Center for digital Humanities für eine wichtige Innovation. Zugleich zweifle ich, ob dies ein „Center for Digital Political Science“ entbehrlich macht. Gemessen an den einzelnen Herausforderungen unseres Faches durch Digitalisierung, geschweige denn morgen durch KI, ist dies vordringlich. Eine Projektgruppe, auch interdisziplinär durchsetzt, hätte, wie ich meine, schon gestern mit der Arbeit beginnen sollen!
      Natürlich können diese Kooperationen, diese Umgänge mit der Digitalisierung nur erfolgen, wenn entsprechende Weiterbildungen stattfinden und überregional die spezifischen Fragen der Digitalisierung, die auf die Politikwissenschaft und den Bereich Regierung/Verwaltung zukommen, dann auch bearbeitet werden.
      Deshalb meine ich, dass diese Frage nach einem „Center for Digital Political Science“ ganz wichtig ist.
  • Was ist der gesellschaftliche Beitrag, den die Politikwissenschaft heute und in Zukunft zu leisten hat?

    Wir stehen gesellschaftlich vor einem großen Bedarf an „neuer“ Demokratiewissenschaft, der nur interdisziplinär zu bewältigen ist. Wird es gelingen, die neuen Instrumente der gesellschaftlichen Steuerung freiheitlich und demokratisch auch und gerade in den Bereichen Information und Kommunikation zu erfinden und praktisch zu gestalten? Und wird es möglich sein, die antidemokratischen Jäger kompetent als Wilderer zu enttarnen? Das ist meine große Hoffnung. Aber alle Studentinnen und Studenten, alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler muss man dazu ermutigen, diesen Bedarf an „neuer“ Demokratiewissenschaft, die sich auch aus technologischen Entwicklungen ergibt, als motivationalen Faktor zu sehen und dafür Beispiele zu finden.