Erkenntnispfade

Laborgespräche über historiographisches Schreiben

Alexander Kraus & Birte Kohtz

Schon seit Humboldts »Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers« aus dem Jahre 1821 ist der kreative Aspekt des historischen Schreibens klar formuliert. Dennoch gewährt die wissenschaftliche Praxis viel zu selten Einblick in den Prozess des Schreibens selbst, in die Art und Weise, wie historisches Wissen entsteht und schriftlich vermittelt wird. Zwar haben im vergangenen Vierteljahrhundert theoretische Neuorientierungen, Wenden und turns in großer Zahl stattgefunden und viel Aufmerksamkeit erfahren, die methodisch-praktische Seite der Geschichtswissenschaften wurde von dieser Konjunktur jedoch nicht erfasst. Der in der Erforschung der Naturwissenschaften durch die Wissenschaftsgeschichte vollzogene practical turn – was tun Wissenschaftler, wenn sie experimentieren, analysieren, ja ganz allgemein Forschung betreiben? – steht für die Historiographiegeschichte noch aus. Dies verblüfft angesichts der tatsächlich existierenden Parallelen:

»Um ein Problem zu analysieren, ist der Biologe gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf einen Ausschnitt der Realität zu richten, auf ein Stück Wirklichkeit, das er willkürlich aussondert, um gewisse Parameter dieser Wirklichkeit zu definieren. In der Biologie beginnt mithin jede Untersuchung mit der Wahl eines ›Systems‹. Von dieser Wahl hängt der Spielraum ab, in dem sich der Experimentierende bewegen kann, der Charakter der Fragen, die er stellen kann, und sehr oft sogar auch die Art der Antworten, die er geben kann.« [1]

Auch der Historiker ist mit der Hürde der Aufmerksamkeitsfokussierung und Auswahl, dem Problem der Vorannahmen und den durch diese bedingten möglichen Antworten konfrontiert. Aus diesen Gründen wollen wir Erkenntnis- und Schreibprozesse in der Geschichtswissenschaft anhand von Interviews mit methodisch innovativen und besonders selbstreflexiven Historikerinnen und Historikern in den Blick nehmen, die beispielsweise Archivierungs- und Sammlungspraktiken hinterfragen, oder sich mit Visualisierungsmechanismen und der Etablierung von Objektivität als Grundpfeiler der Geschichtswissenschaft auseinandersetzen. Die Grundlage der Interviews soll folgende erkenntnisleitende Trias bilden: 1. »Sprache« – sowohl unser Denken als auch unser Schreiben wird durch Sprache strukturiert, Metaphern und Tropen ziehen die Grenzen des Sag- wie des Denkbaren; 2. die »Rolle des Forschungsobjekts« – Auswahl und Zuschnitt des zu Untersuchenden bestimmen das zu Erzählende; 3. »Notationsformen und Narrative« – die Form, in der Wissen gesammelt und transportiert wird, bestimmt seine endgültige Gestalt.

Unsere anvisierten Interviewpartner sind alle mehr oder weniger dem weiteren Feld der Wissenschaftsgeschichte zuzurechnen. Wissenschaftsgeschichte erscheint uns als besonders brauchbare Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, da hier die Beziehung zwischen den untersuchten Ordnungs- und Klassifizierungssystemen und dem Narrativ besonders deutlich werden kann: Die Untersuchungsobjekte, auf die Wissenschaftsgeschichte mit den oben skizzierten Konsequenzen fokussiert, sind schon von vorne herein erst durch die Implementierung von Sinn seitens der Naturwissenschaft zu epistemischen Objekten geworden. Da Wissenschaft darüber hinaus ihre Autorität auch daher gewinnt, dass sie sich mehr und mehr vom Alltagsverständnis entfernt, ist es wiederum grundlegende Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte, diese zunehmende Distanz zu überbrücken, die Wissenschaften lebensweltlich anzubinden – und dies über die Repräsentationsform des Textes. Das wiederum bedeutet, dass ein Narrativ gewählt werden muss, das gestattet, Wissen und Wissenschaft als Ganzes zu präsentieren und zugleich linear zu erzählen. Die von uns ausgewählten neun bzw. zehn Interviewpartner repräsentieren vielfältige Positionen innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, erscheinen aber insofern als vergleichbar, als sie sich in ihren jeweiligen Wissensfeldern um die Strukturierung von Wissen bemühen – sei es über den Diskurs, das Sammeln oder die Struktur.

[1] François Jacob, zitiert nach Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/M. 2006, S. 21.