„Verfolgung war nie nur religiös motiviert“

Historiker Wolfram Drews über politisch-religiöse Konflikte in Vormoderne und Moderne

Wolfram-drews

Prof. Dr. Wolfram Drews

© WWU/ Anna Overmeyer

Die öffentliche Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ beschäftigt sich im Sommersemester mit der „Verfolgung um Gottes willen“. Die 13 Vorträge gehen der Diskriminierung und Verfolgung Andersgläubiger vom Mittelalter bis heute nach. Mediävist Prof. Dr. Wolfram Drews hat die Reihe des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des neuen Centrums für Mittelalter und Frühneuzeitforschung (CMF) gemeinsam mit der Frühneuzeit-Historikerin Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger organisiert. Im Gespräch mit dem Zentrum für Wissenschaftskommunikation erläutert er, wie es zu religiöser Verfolgung kam und warum sich im Verlauf der Geschichte Vertreter fast jeder Religion an der Diskriminierung Andersgläubiger beteiligten.

Herr Professor Drews, was ist unter religiöser Verfolgung zu verstehen?

Die Verfolgung „um Gottes willen“ kann ganz unterschiedliche Formen und Gründe haben. In manchen Fällen wurde sie mit religiösen Argumenten gerechtfertigt – als sei sie von Gott angeordnet. In anderen Fällen diente sie der Verbreitung einer Religion – auch dann wurde eine göttliche Autorität als Grund für die Verfolgung angeführt. Für jeden historischen Einzelfall ist zu prüfen, ob die Religion nur Vorwand oder tieferer Grund der Verfolgung war. Die Ringvorlesung wird das anhand zahlreicher Bespiele differenziert erörtern. Das Spektrum dessen, was Andersgläubigen zu verschiedenen Zeiten widerfuhr und noch heute widerfährt, reicht von einer rigiden Benachteiligung über soziale Ausgrenzung bis hin zu Hinrichtungen, Vertreibungen und Zwangskonversionen. Im 7. Jahrhundert nach Christus kam es zur ersten dokumentierten Zwangstaufe, als im westgotischen Spanien alle Juden gezwungen wurden, den christlichen Glauben anzunehmen. Solche Zwangskonversionen waren in der Geschichte zwar nicht die Regel, kamen aber immer wieder vor.

Die Folgen religiöser Verfolgung sind bis heute oftmals sichtbar, weil dabei häufig sakrale Stätten zerstört wurden: Im späten Mittelalter wurden in verschiedenen Regionen Deutschlands, aber auch Spaniens, Synagogen in Marienkirchen umgewandelt; die Frauenkirche in Nürnberg etwa wurde anstelle einer zerstörten Synagoge errichtet. In calvinistisch geprägten Regionen der Niederlande oder Deutschlands verloren Kirchen während der sogenannten Bilderstürme ihren gesamten mittelalterlichen Bilderschmuck, wie sich heute noch sehen lässt. In England veränderte die Zerstörung von Klöstern und Kirchen während der englischen Reformation im Grunde die gesamte architektonische Landschaft. Einige Abteien verfielen zu Ruinen, andere wurden zu Landsitzen und Schlössern umgebaut, Kirchenland wurde an Adlige verkauft. Beispiele aus der Moderne: Die Nationalsozialisten ließen Klöster schließen, die DDR-Oberen ließen Kirchen sprengen, unter den Kommunisten in Kambodscha und China wurden Statuen, Tempel und Pagoden zerstört. 

Aus welchen anderen Zeiten zeigt die Ringvorlesung Beispiele?

Die öffentliche Reihe, zu der wieder alle Interessierten eingeladen sind, geht der Diskriminierung und Verfolgung Andersgläubiger anhand zahlreicher Beispiele quer durch die mittelalterliche und neuzeitliche Geschichte nach. Die Themen reichen von der christlichen Häresiebekämpfung im Frühmittelalter und den Konfessionskonflikten der Frühneuzeit über den Kirchenkampf in der DDR bis zur Buddhistenverfolgung im kommunistischen Kambodscha und zur Christenverfolgung im Nahen Osten. Zu Wort kommen Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Fächer, aus Geschichts- und Religionswissenschaft, den Jüdischen Studien, der Soziologie, Theologie, Buchwissenschaft, Romanistik und Byzantinistik.

Hatte die Verfolgung „um Gottes willen“ tatsächlich immer religiöse Gründe?

Nein, es spielten oft politische Motive mit hinein, die Verfolgung Andersgläubiger war selten rein religiös motiviert. Mit der Ringvorlesung wollen wir solche Vorurteile oder Klischees dekonstruieren. Die Vorträge wollen verdeutlichen, dass sich Religionen nicht im luftleeren Raum bewegen, sondern stets in ihrem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Kontext zu sehen sind. Die Gründe für die Verfolgung „um Gottes willen“ sind aus dem jeweiligen historischen Gesamtzusammenhang zu rekonstruieren. Nur so lässt sich für jeden Einzelfall verstehen, ob Religion als Anlass, Vorwand, Zweck oder Rechtfertigung diente.

Zum Beispiel spielten bei der Verfolgung von Juden im Mittelalter zwar auch oft ökonomische Aspekte eine Rolle. Daneben gab es aber, anders als viele Menschen heute meinen, noch andere Gründe: Es ging um Konkurrenz, um Karrieremöglichkeiten oder bestimmte politische Positionen. Das früheste antijüdische Pogrom im europäischen Mittelalter, das übrigens nicht Christen anzettelten, sondern Muslime 1066 im islamischen Granada, hatte das Ziel, einen jüdischen Wesir von seiner Position zu verdrängen. Es ging also um Karrierechancen, Religion diente nur als Vorwand. Dem Aufstand fiel die gesamte Gemeinde zum Opfer. Auch für die Christenverfolgung in der DDR waren nicht unbedingt religiöse Gründe maßgeblich, denn die Kommunisten waren ja selbst nicht religiös. Die Repräsentanten der DDR verfolgten Christen also nicht „um Gottes willen“, sondern sie gingen gegen Menschen vor, die an einen Gott glaubten.

Also waren es nicht immer nur Religionen, die Andersgläubige verfolgten?

Richtig. Oft verfolgten politische Regime Menschen wegen ihrer Religiosität. Beispiele der neueren Geschichte sind die Verfolgung von Buddhisten unter Pol Pot und den Roten Khmer in Kambodscha und die Verfolgung von Christen in der NS-Zeit. Die Nationalsozialisten schlossen Klöster, stellten Priester und Ordensleute vor Gericht und deportierten einige von ihnen in Konzentrationslager. Hier wurden Christen von einem Regime verfolgt, dass sich selbst dezidiert nicht als religiös bezeichnet hätte, obwohl es sich vielleicht auch in seinen äußeren Formen religiös anmutender Riten bediente.

Die DDR und die Herrschaft der Roten Khmer sind noch nicht allzu lange her. Ist religiöse Verfolgung denn inzwischen überwunden?

Die Annahme, dass die säkulare Moderne die Verfolgung Andersgläubiger um ihrer Religion willen überwunden habe, hat sich leider als Irrtum erwiesen. Religiöse Verfolgung ist heute weltweit nicht schwächer geworden als in früheren Zeiten. Dabei können Angehörige ein und derselben Religion einmal die Verfolger und ein anderes Mal die Verfolgten sein, wie sich am Beispiel des Christentums und des Islams zeigen lässt. Die Situation ist komplex: Christen haben früher mitunter Andersgläubige verfolgt. Heute sind sie die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft auf der Welt. Sie werden zum Beispiel im Nahen Osten, ihrem Ursprungsgebiet, also in den Palästinenserregionen, im Libanon, Syrien und im Irak sehr stark bedrängt. Viele haben ihre Heimat verlassen. Bethlehem ist in jüngster Zeit von einer mehrheitlich christlichen zu einer mehrheitlich muslimischen Stadt geworden.

Religiöse Verfolgung zeigt sich auch im Islam: Wir hören fast täglich in den Medien, dass Islamisten ihre Gewaltakte mit dem Willen Gottes begründen. Die meisten Opfer der Attentate im Nahen Osten allerdings sind weder Christen noch westliche Soldaten, die dort stationiert sind, sondern wiederum Angehörige des Islams. Muslime töten andere Muslime „um Gottes willen“, weil diese angeblich vom wahren Glauben abgefallen seien. Aus Sicht bestimmter radikaler Sunniten sind Schiiten vom Glauben abgefallen und umgekehrt. Sie verfolgen sich gegenseitig im Namen Gottes.

Welche Möglichkeiten haben religiös Verfolgte, sich zu schützen?

Das hing oft von der sozialen, politischen und ökonomischen Situation ab: Konnte man entkommen oder in den Untergrund gehen? Ließ sich die eigene Identität verleugnen? In der Geschichte ist die Strategie einer scheinbaren Anpassung immer wieder zu beobachten: In der schiitischen Tradition des Islams gibt es das Phänomen der „Taqiyya“, was so viel wie Verheimlichung oder Verleugnung des Glaubens bedeutet. Man tat nach außen, als beuge man sich dem Willen der Verfolger, doch innerlich blieb man bei seiner bisherigen Überzeugung. Die Menschen wanderten in diesem Fall nicht aus, sondern gingen ins innere Exil. So etwas findet sich in jeder Religion. Auch einige Juden, die im späten Mittelalter zur Taufe gedrängt wurden, blieben ihrer eigentlichen Religion treu. Natürlich lag aus Sicht der Verfolger der Verdacht immer nahe, dass die Verfolgten lediglich aus opportunistischen Gründen nachgaben. Welche Motive tatsächlich zur Annahme eines anderen Glaubens geführt haben, ist für Historiker schwer zu überprüfen. Die Quellen geben darauf kaum Hinweise. In manchen Fällen übrigens traten Religionsvertreter religiöser Verfolgung bewusst entgegen: Bernhard von Clairvaux etwa, der zwar auch zum zweiten Kreuzzug aufgerufen hat, predigte offen gegen die damit in Zusammenhang stehende Judenverfolgung im Rheinland.

Waren bestimmte Religionen gewalttätiger als andere? Besonders östliche Religionen wie der Buddhismus gelten im Westen ja als friedfertig.

Unser Anliegen ist es, gerade solche Vorannahmen zu hinterfragen und ein differenziertes Bild zu zeigen. Der Buddhismus war nicht immer so friedlich, wie viele Menschen im Westen heute glauben. Im Mittelalter führten zum Beispiel auch buddhistische Klöster manchmal Krieg. Hier ist wiederum wichtig, dass Angehörige ein und derselben Religion einmal Verfolger und ein anderes Mal Verfolgte sein können. Die Schiiten, die nur zehn Prozent aller Muslime darstellen, wurden jahrhundertelang verfolgt. Seit der islamischen Revolution 1978 im Iran sind sie dort die führende religiöse Gruppe und üben ihrerseits massiv religiöse Verfolgung aus. Auch Christen waren im Laufe der Geschichte vom Römischen Reich über das Mittelalter bis in die Gegenwart sowohl Verfolgte als auch Verfolger. Sogar die Juden, die über Jahrhunderte immer wieder Verfolgung ausgesetzt waren, sollen einmal Gewalt aus religiösen Gründen ausgeübt haben: Nach Angaben des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus wurde unter dem Herrscher Johannes Hyrkanos I. in vorchristlicher Zeit das Volk der Idumäer zwangsbekehrt. Das ist sehr außergewöhnlich. Es findet sich kein weiterer Beleg dafür, dass Menschen unter Zwang zum Judentum konvertierten. Doch zahlreiche historische Fälle zeigen: Anhänger jeder Religion können auch einmal zu Tätern werden.

Interview: Sarah Batelka