„Münster war im Grunde die solidere, angenehmere Universität“

IfPol-Gründungsdirektor Dieter Grosser erinnert sich
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Prof. Dr. Dieter Grosser war 1970 der Gründungsdirektor des Instituts für Politikwissenschaft. Heute lebt der emeritierte Professor in Spandau. Im Interview mit dem IfPol Förderverein erzählt er von den Gründungsjahren und reflektiert, wie sich das Institut seit den 1970er Jahren verändert hat.

Herr Grosser, was war der Anlass, dass 1970 in Münster ein Institut für Politikwissenschaft gegründet wurde?
Der Anlass war politisch bedingt. Um das zu verstehen müssen wir uns an die politische Entwicklung zwischen 1967 und 1970 erinnern. Das Mittel, das der Bundesregierung und auch den meisten Landesregierungen gegen eine Zunahme der extremistischen Strömungen, links und rechts, zu finden, war Bildung. Erste Aufgabe also: den Politikunterricht an Gymnasien schleunigst verbindlich einzuführen. Und wenn die Gymnasien in der ganzen Bonner Republik und in Westberlin Politik unterrichten mussten, Politik als Fach, nicht als Anhängsel von Geschichte oder einem sonstigen Fach, brauchte man dazu eine akademische Ausbildung speziell für die Gymnasiallehrer. Also kam es zu dem Beschluss, quasi aus dem akademischen Nichts eine Professur für Politikwissenschaft mit ordentlicher Ausstattung zu gründen.

Wie war das Institut zu Anfang in die Universität integriert? Wie war es aufgestellt?
Wichtig war natürlich das Personal, das ich mitbrachte. Das waren Uwe Andersen, Wichard Woyke, den ich als Kollegen in Berlin schon kannte, und Rüdiger Robert, der sich für Kommunalpolitik interessierte. Zu Anfang konzentrierten wir uns auf die Lehrerweiterbildung, zugleich kamen Studenten. Im ersten Semester waren das so an die 100, im zweiten bereits Hunderte, das ging steil in die Höhe. Allein dieses hätte jeden Lehrstuhl bis an seine Grenzen überfordert. Aber wir haben’s geschafft, auch mit Hilfe des Kultusministeriums.
Auch im Äußerlichen funktionierte es wegen der vorzüglichen Münsteraner Verwaltung gut. Die Hauptverwaltung der Universität und das Rektorat saßen bereits im Schloss. Die Verwaltung hat es fertiggebracht uns eine Fertigbaracke direkt vor den Haupteingang zu stellen. Die Seminarräume, Übungsräume und Vorlesungsräume stellte die Verwaltung aus dem Schloss zur Verfügung. Das klappte hervorragend, obwohl die arme Verwaltung früher oder später tatsächlich erhebliche Raumprobleme bekam. Die große Aula musste bald her, weil wir an die 1000 Hörer, dann auch Erwachsene und Gasthörer hatten. Wir schienen einfach in dieser hochpolitisierten Zeit für die Öffentlichkeit interessant zu sein und sie kamen. Und abweisen wollten wir sie nicht.

Was war die erste politikwissenschaftliche Lehrveranstaltung in Münster, was waren die Schwerpunkte der politikwissenschaftlichen Ausbildung 1970?
Ich las, das war die grundlegende Vorlesung, das politische System der Bundesrepublik. Ich beschrieb die Bundesrepublik als freiheitliche Konkurrenzdemokratie. Die Terminologie hatte ich natürlich von Ernst Fraenkel, bei dem hatte ich studiert. Dahinter stand seine Pluralismustheorie. Dabei nahm die Zahl der Studenten zu, die Zahl der Lehrer nicht ab. Bereits 1971 war ich an der Grenze des noch Machbaren. Die vielen Zwischenprüfungen, die die Studenten wünschten und auch die Prüfungen für die Gymnasiallehrer hielten uns voll beschäftigt.
Dann kam Michael Woslenski, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion, und damit wurde ein zweiter Lehrschwerpunkt neben meinem eingeführt. Er hielt eine Vorlesung zur Geschichte der KPDSU. Die war so konzipiert, dass er damit eine Einführung in das Staatsverständnis und Herrschaftssystem der Sowjetunion gab. Das führte dann zu der ungewöhnlichen, nirgendwo sonst zu findenden Situation, dass an einem Tag in der Woche die Aula angemietet und freigehalten wurde für eine Vorlesung von mir, über das politische System der Bundesrepublik, und am anderen Tag für eine Vorlesung von Michael Woslenski, praktisch über das politische System der Sowjetunion. Wo konnte man das sonst in Deutschland oder überhaupt in Europa finden? Nur in Münster!

Und was waren die ersten Forschungsprojekte, die in Münster durchgeführt wurden?
Erik Böttcher arbeitete mit Vergnügen mit mir zusammen, und zwar an einem Forschungsprojekt, das auch heute noch hochaktuell ist: Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, dadurch, dass ein Teil des Lohnes als Vermögensanlage steuerbegünstigt zugunsten des Arbeitnehmers in Aktien des Unternehmens, in dem er beschäftigt ist, fließt, mit einer staatlichen Sicherheitsgarantie. Ich bin heute noch stolz darauf. Ein Schritt in die Richtung, die dann später mit Riester-Rente usw. unzureichend gegangen wurde und heute wieder aktuell ist.
Außerdem habe ich zusammen mit Andersen die erste politikwissenschaftliche Analyse zur Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung der sechs Gründungsstaaten (politische Vor- und Nachteile, ökonomische Vor- und Nachteile) vorgelegt und veröffentlicht. Und darin steht eine klare Warnung: Lasst die Finger davon! Schwankende Wechselkurse zwischen selbstständig bleibenden Währungen (DM, Francs, Lire) sind besser als starre Wechselkurse. Die könnten die EG bis an die Zerreißprobe bringen. Ich riet also ab.
Der Aufsatz ist heute noch einschlägig bekannt und führte dazu, dass ich natürlich in jüngster Zeit Avancen aus dem Bereich der Alternative für Deutschland hatte. „Raus aus dem Euro? Sie haben’s doch mal selbst gefordert.“ Ich hab’s natürlich nicht gemacht, inzwischen ist die Lage eine ganz andere.

Wissen Sie wo einige Ihrer Absolventinnen und Absolventen gelandet sind?
Ruprecht Polenz, CDU, war Sicherheitsexperte, gerade was die Beziehungen zwischen den USA und Russland anging, und hatte jahrzehntelang eine bedeutende Position als Ausschussvorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. In Münster war er RCDS-Chef. Und für das Klima in Münster bezeichnend war, dass die Mehrheit der Studenten, die sich an den studentischen Wahlen beteiligte, tatsächlich den RCDS und damit Polenz als Sprecher wählten. SPD und Linke waren an der Universität in der Minderheit – bei uns am Institut nicht unbedingt.
Bei mir in Münster studiert und dann Karriere gemacht hat auch Beate Neuss. Die kam als 19jährige Studentin nach Münster, wollte ursprünglich Geschichte studieren, hörte sich dann meine und Woslenskis Vorlesungen an und blieb bei uns. Für eine Weile ging sie aus persönlichen Gründen nach München. Eines Tages kam sie zu mir und fragte, ob ich eine Hilfskraftstelle für sie hätte, studierte dann bei mir weiter. Sie wurde promoviert, habilitiert und wurde dann Professorin für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Inzwischen ist sie emeritiert, aber immerhin Vizepräsidentin der Konrad Adenauer Stiftung und damit dicht an der Politik dran.

Sie waren lediglich vier Jahre in Münster, bevor Sie nach München weitergezogen sind. Hatte München einfach das bessere Angebot oder haben Sie es in Münster nicht mehr ausgehalten?
Münster war im Grunde die solidere, angenehmere Universität als München. Das hängt damit zusammen, dass Professoren, insbesondere Professoren alten Stils (und ich war so ein Ordinarius alten Stils) natürlich felsenfest davon überzeugt sind, dass sie immer alles wissen und unbedingt Recht haben. Das heißt, sie sind von einer Selbstüberschätzung, haben Primadonnen-Allüren. Bei den Münsteranern hielt sich das aber in mitmenschlich angenehmen Grenzen. Primadonnen waren wir alle auch in Münster. Aber wir waren Primadonnen, die kooperationswillig waren.
Also ich habe Münster in mancher Beziehung nachgeweint. Und hatte auch ein gewisses schlechtes Gewissen – habe ich da nicht eine unerträgliche Situation hinterlassen? Aber ich hatte Glück mit meinem Nachfolger, Gerhard Wittkämper. Wittkämper kam von der PH Rheinland, Abteilung Köln; hatte hervorragende Kontakte zur Verwaltung, zur Bürokratie; brachte Projekte, Aufträge, Gutachten ins Institut und die Kapazitätsprobleme wurden dadurch gelöst, dass die von NRW-Bildungsminister Johannes Rau zugesagte Personalaufstockung bald kam. Als ich mir die Entwicklung des Instituts ansah, war ich einigermaßen beruhigt. Wichard Woyke und Rüdiger Robert promovierten und habilitierten in Münster und wurden Professoren am Institut. Ich hatte ganz offensichtlich Münster in guten Händen hinterlassen.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der deutschen Politikwissenschaft in den vergangenen 50 Jahren ein?
Politikwissenschaft heute sieht anders aus, als vor 50 Jahren. Das Fach ist notwendigerweise und unvermeidbarerweise hochdifferenziert. Sie haben Lehrstühle für Government, sie haben Lehrstühle für afrikanische Entwicklungshilfe, sie haben Lehrstühle für die USA, sie haben Lehrstühle für Südafrika. Sie haben Spezialisten.
Was ein bisschen schade ist und vielleicht im Augenblick sogar ein bisschen korrigiert wird, ist: was die Ökonomen und Politikwissenschaftler bei dieser Ausdifferenzierung ihrer Fächer vergessen haben, ist, dass man das, was politisch oder ökonomisch abläuft, in vielen Fällen besser erklären kann, wenn man auf vergleichbare Probleme in der Geschichte zurückgreift. Also verstehen, warum Weimar kaputt ging, ist schon wichtig, weil es tatsächlich doch Parallelen zur Gegenwart gibt. Verstehen, was in der Wirtschaftskrise 1929-34 passierte, ist wichtig, wenn man verstehen will, was denn seit 2008 bei uns nach dem ersten schweren Rückschlag passiert.
Was geblieben ist, was man natürlich Gott sei Dank auch in anderen Fächern findet, und was ich in Münster das erste Mal wirklich gelernt habe ist Folgendes: Was unbedingt notwendig ist, ist die Achtung vor politischen Meinungen, sofern sich diese politische Meinung auf Fakten, und zwar auf sorgfältig nachgeprüfte Fakten, und die entsprechenden Interpretationen gründet. Und sofern derjenige, der jetzt Gegner in der Auseinandersetzung ist, bereit ist, auch meine Argumente als gleichrangig zu akzeptieren und zu prüfen. Was weltweit bedrohlich geworden ist: Man verspottet die Fakten. Die Wünsche werden zu den entscheidenden Kriterien für Meinungen. Die konkreten Sonderinteressen, aber nicht die Realität, die man nur durch Fakten erschließen kann. Und der Gegner in diesem Meinungs- und Interessenstreit muss eben nur dann wirklich ernst genommen werden, wenn er umgekehrt uns selber ebenso aufmerksam zuhört und meine Argumente prüft, wie ich die seinen geprüft habe.
Also was wir brauchen, insofern greife ich eine Formel von Jürgen Habermas auf, ist einen möglichst herrschaftsarmen Diskurs, ein Gespräch zwischen Personen, die ihre eigenen Rechte genauso hoch achten, wie die Rechte des anderen.