Interview mit Prof. Dr. Florian Busch
Zur Linkon sind auch Personen eingeladen, die nicht vom Fach sind – wie würden Sie ihnen Ihr Vortragsthema in wenigen Sätzen erklären?
In meinem Vortrag beschäftige ich mich mit den Rhythmen, in denen digitale Kommunikation das Alltagsleben unserer Gesellschaft durchzieht. Dabei interessiert mich besonders, wie sich durch die Mobilisierung des Internets (im Zuge der Verbreitung von Smartphones) neue Zeitlichkeitsmuster digitaler Kommunikation einstellen. So zeichnet sich der kommunikative Alltag von Individuen dadurch aus, dass gewissermaßen rund um die Uhr das Potenzial zu digitaler Kommunikation mit verschiedenen Kommunikationspartner:innen besteht. Mich interessiert nun, wie Menschen von diesem Potenzial unterschiedlich Gebrauch machen, in welchen neuen temporalen Strukturen in dieser Weise verschiedene sprachliche Ressourcen genutzt werden und welche Normvorstellungen Akteur:innen über einen angemessenen Umgang mit Zeit im kommunikativen Alltag entwickeln.
Wie genau lässt sich Zeitlichkeit analytisch fassen und untersuchen?
Zeitlichkeit als Dimensionen digitaler Kommunikation lässt sich auf verschiedenen empirischen Ebenen beschreiben. Ich fokussiere dabei vornehmlich zwei Erscheinungsformen: Einerseits interessiere ich mich für den Rhythmus, in dem Akteur:innen mittels ihres Smartphones Nachrichten empfangen, rezipieren, produzieren und versenden. Mittels Bildschirmaufzeichnungen lässt sich rekonstruieren, wie sich dieser kommunikative Rhythmus entfaltet – auf Mikroebene einzelner interaktionaler Momente sowie auf Makroebene ganzer Tage oder Wochen. Andererseits fasse ich Zeitlichkeit auch als metapragmatisches Konzept. In dieser Perspektive geht es auf einer Metaebene um die Vorstellungen und Ideologien, mit der Akteur:innen zeitlichen Phänomenen in ihrer digitalen Kommunikation Bedeutung zuweisen und Zeit damit zu einem relevanten Zeichen werden lassen. Analytisch lässt sich diese Ebene durch ethnographische Methoden erfassen – beispielsweise durch Interviews, aber auch durch die diskursanalytische Untersuchung von öffentlichen Metadiskursen über Zeit und digitale Kommunikation.
Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? Ist das ein spezifisches Forschungsprojekt oder ist der Vortrag ein Einblick in Ihre bisherige Forschungsarbeit?
Der Vortrag gibt Einblick in das Forschungsprojekt „Texting in Time“, das derzeit an der Universität Bern formiert wird. Der Vortrag wird erste Daten und exemplarische Analysen präsentieren und die zugrundeliegenden Forschungsfragen diskutieren.
Von welchen Hypothesen oder Erwartungen sind Sie dabei ausgegangen?
Grundsätzlich ist die Prämisse des Vortrages, dass es sich bei zeitlichen Gestalten in Kommunikationsprozessen um potenziell kommunikativ und sozial bedeutsame Zeichen handelt, die von den Beteiligten als Kontextualisierungshinweise interpretiert werden können. Die Analyse verfolgt dementsprechend die Hypothese, dass durch temporale Muster in digitalen Interaktionen Handlungstypen und soziale Beziehungen relevant gemacht werden können.
Wie setzt sich dabei Ihre Datengrundlage zusammen? Welche Plattformen bzw. Messenger-Dienste untersuchen Sie und warum?
Bei der zentralen Datengrundlage handelt es sich um Bildschirmaufzeichnungen, die unsere Proband:innen in einem Zeitraum von zwei Wochen auf ihren eigenen Smartphones angefertigt haben. Momentan liegen Daten von vier ersten Proband:innen vor. In diesen Videoaufzeichnungen sind annähernd alle kommunikativen Ereignisse abgebildet, die im Erhebungszeitraum über das jeweilige Mobiltelefon abgelaufen sind. Kommunikationsplattformen, die in den bisher erhobenen Daten abgebildet sind, umfassen WhatsApp, Instagram, TikTok, iMessage, Signal, Hinge, SMS, Facebook, Snapchat, YouTube und verschiedene E-Mail-Clients.
Sie untersuchen unter anderem Dating-Plattformen. Wir können uns vorstellen, dass es schwierig war, hierfür Proband*innen zu finden, da Bildschirmaufzeichnungen von solchen Plattformen eher privater Natur sind. Wie sind Sie da vorgegangen?
Die Nutzung von Dating-Apps ist am Rande in den Bildschirmaufzeichnungen enthalten. Im Umfang sind diese Momente allerdings gegenüber der Nutzung anderer Messenger-Dienste zu vernachlässigen. Online-Dating spielt für den Vortrag stattdessen auf Ebene des öffentlichen Metadiskurses über Zeitlichkeit und digitale Kommunikation eine Rolle: In diesem Themenbereich lässt sich besonders deutlich beobachten, welche metapragmatischen Normen in Gemeinschaften konstruiert werden, wirken und damit der Produktion und Interpretation von temporalen Kontextualisierungshinweisen zugrunde liegen.
Wie wurde methodisch mit Unterschieden umgegangen (Alter, Geschlecht, etc.)? Wurde eine spezifische Gruppe untersucht oder durch Alters-/Milieugruppen hindurch?
Bisher befindet sich das Projekt in einer Pre-Test-Phase, der Großteil der Daten wurde also noch nicht erhoben. Ziel ist aber in der Tat, ein möglichst breites gesellschaftliche Spektrum in der deutschsprachigen Schweiz und Deutschland abzubilden. Das Projekt orientiert sich hierfür an dem soziologischen Konzept der Lebensführung. In der Lebensführungstypologieforschung wird die Lebensführung von Personen als Bündel situationsübergreifender Grundorientierungen und Alltagspraktiken verstanden, die als analytisch vermittelnde Größe zwischen der sozialen Lage (z.B. Bildung, Beruf, Einkommen, Position im Lebensverlauf, Wohnort) und lebensbereichsspezifischen Einstellungen sowie Verhaltensweisen dienen kann.
Und wenn wir schon bei methodischen Fragen sind: Spielt die Geschwindigkeit des Tippens selbst auch eine Rolle? Und wie wird dieser Faktor kontrolliert, wenn man die Zeitlichkeit in digitaler Interaktion untersuchen möchte?
Wir gehen davon aus, dass die Geschwindigkeit des Tippens Teil der rhythmischen Struktur von digitalen Interaktionen ist. Mittels unserer Bildschirmaufzeichnungen können wir dies untersuchen, indem wir verschiedene Interaktionstypen miteinander vergleichen. Mit Chatprotokollen wäre dies nicht möglich – hier zeigt sich der große Vorteil unseres Datentyps: Wir haben nicht bloß Zugriff auf die kommunikativen Produkte, sondern auch auf die zugehörigen Prozesse.
Wie verorten Sie das Thema Zeitlichkeit im Kontext der zunehmenden digitalen Kommunikation? Was ist der größte Unterschied zur Face-to-face-Interaktion?
Das ist eine sehr grundsätzliche Frage, die sich in diesem Rahmen kaum beantworten lässt. Grundsätzlich unterliegen digitale Interaktionen aufgrund ihrer Medialität anderen Zeitlichkeitsbedingungen als face-to-face-Interaktionen. Dem sind Beteiligte aber nicht „ausgeliefert“, sondern die Zeitlichkeitspotenziale digitaler Interaktionen können als kommunikative Ressource funktionalisiert werden. Zudem verändert sich im Zuge der Mobilisierung des Internets der Rhythmus, mit dem sich digitale Kommunikation im Alltag von Individuen manifestiert. Neuere Untersuchungen zeigen dabei, dass Vorstellungen eines „always online“ jedoch zu kurz greifen und stattdessen – je nach individuellen Sprach- und Medieneinstellungen – bestimmte Strategien und Routinen der temporalen Strukturierung von digitaler Kommunikation ausgebildet werden.
Verändert sich bei den Interagierenden durch die Möglichkeiten/Bedingungen in der digitalen Kommunikation womöglich das Empfinden für Zeitlichkeit in der analogen Face-to-face-Kommunikation? Wenn ja, wie?
Dazu liegen uns noch keine Erkenntnisse vor und auf Grundlage unserer Daten ist dies auch schwer zu bestimmen.
Was reizt Sie besonders an der Schnittstelle von Medien-, Sozio- und Interaktionaler Linguistik? Und welche Herausforderungen gibt es hier?
Die Integration von medien- sozio- und interaktional-linguistischer Ansätze zielt darauf ab, sprachliche Alltagspraktiken, die Menschen in ihrem routinehaften Gebrauch von Medientechnologie entwickeln, im Detail zu beschreiben. Mir scheint diese Perspektive vor allem deswegen fruchtbar, weil sie einem Mediendeterminismus entgegentritt, der sich möglicherweise besonders dann im Denken von Forschenden einstellt, wenn der analytische Fokus zu einseitig auf den technischen Möglichkeiten und Beschränkungen von Medienplattformen liegt. Hier droht dann die Agentivität von Mediennutzer:innen aus dem Blick zu fallen, die meines Erachtens aber zentral ist, wenn wir uns für die kommunikativen und sozialen Bedeutungen interessieren, die mittels Medienkommunikation hergestellt werden. Forschung an den Schnittstellen von Disziplinen kann solchen Einseitigkeiten entgegenwirken. Gleichzeitig geht eine solche Perspektivierung mit der Herausforderung der Theorie- und Methoden-Integration einher. Beispielsweise bedarf es einiger methodologischer Reflexion, in welcher Weise sich die ethnographischen Erkenntnisse einer metapragmatischen Mediendiskursanalyse auf die interaktional-linguistischen Befunde, die in der Beschäftigung mit Interaktionsdaten herausgearbeitet wurden, beziehen lassen, um so dann idealerweise zu einer möglichst breiten analytischen Rekonstruktion des Gegenstands „Zeitlichkeit und digitale Interaktion“ zu gelangen.
Hat sich Ihr eigenes Textverhalten durch die Beschäftigung mit diesem Phänomen geändert?
Ich würde sagen: nein, da hat sich nicht viel geändert. Aber natürlich bin ich für jegliche Metapragmatik der Zeitlichkeit besonders aufmerksam, die sich in meiner eigenen, privaten Kommunikation beobachten lässt.