Der Giallo als ambivalentes Genre zwischen Gothic-Horror und Slasherfilm

Christoph Bosien

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Der Giallo in den 60er- und 70er-Jahren

Der italienische Giallo (dt. ‚gelb‘) hat seinen Namen durch die gelbe Farbe der Buchrücken alter italienischer Kriminalromane bekommen. Diese Romane gab es schon seit 1929, doch erst in den 1960er-Jahren erlangte der Giallo durch Mario Bava einen Bekanntheitsgrad mit den Filmen La ragazza che sapeva troppo (IT 1963) und Sei donne per l'assassino (Blutige Seide, IT 1964). Dario Argento verhalf ihm durch L'uccello dalle piume di cristallo (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, IT 1970) zu internationaler Bekanntheit (vgl. Lowenstein 2016: 127 f.). Zwar waren diese Filme nicht die ersten oder gar die einzigen aus diesem Bereich, aber „Sei donne per l'assassino (1964) und L'uccello dalle piume di cristallo (1970) gelten als die beiden Formelfilme, die als Initiationsmomente zweier verschiedener Zyklen des Genres Giallo diskursiviert wurden“ (Scheinpflug 2014: 133). Peter Scheinpflug benennt die jeweiligen Formeln, die die Gialli der 60er- und der 70er-Jahre unterscheiden, wie folgt:

Es kann beim Giallo zwischen den Filmen der 60er Jahre unterschieden werden, die sich stärker am krimi der Zeit orientieren und in denen die Taten zumeist monetär motiviert sind – daher: Krimi-Formel –, und den Filmen der 70er Jahre, in denen die Morde auf Traumata und auf psychische Störungen zurückgeführt werden, wie es als Narrativ insbesondere Alfred Hitchcocks Psycho als Muster popularisierte – daher: Psycho-Formel. (Ebd.: 140)

Der Begriff Giallo selbst ist nicht ganz unproblematisch, unterscheidet er sich doch in seiner Definition innerhalb und außerhalb Italiens (vgl. Hutchings 2016: 83 f). Der Giallo wird außerhalb Italiens als Genre oft mit dem Argument einer übertriebenen Darstellung von Gewalt in der Nähe des Exploitationfilms oder des brutalen Thrillers eingeordnet, da mehr Wert auf die gezeigten Morde gelegt werde als auf die Detektivarbeit. Dies lässt vor allem darauf schließen, dass bei dieser Stereotypen-Bildung Vertreter des Giallo der 70er-Jahre im Fokus stehen, der vor allem durch die Filme Argentos und dessen Status als Meister des italienischen Horrorfilms seinen Bekanntheitsgrad erreichte (vgl. Scheinpflug 2014: 140 ff.).

Die Nähe zum Gothic-Horror

Zwei Subgenren des Horrorfilms steht der Giallo besonders nah: dem Gothic-Horror und dem Slasher. Warum er allerdings nur in deren Nähe anzusiedeln ist, hängt mit der Beschaffenheit des Horror-Genres zusammen. Das zentrale Element des Horrors ist die Bedrohung der eigenen für normal gehaltenen Realität durch etwas Anormales, was mit ihr nicht vereinbart werden kann. Das ‚Monster‘, von dem die Bedrohung grundsätzlich ausgeht, besitzt also „ein phantastisches Merkmal“ (Pabst 1995: 6f). Dieses phantastische Element fehlt im Giallo.

Nichtsdestotrotz kann er alle anderen stilistischen Elemente enthalten. Als Beispiel für seine Nähe zum Gothic-Horror sei der Giallo pseudofantastico genannt, der „ein spezielles Narrativ im Giallo [bezeichnet]: Der Hauptfigur wird darin vorgespielt, dass phantastische Ereignisse stattfänden und Totgeglaubte am Leben wären“ (Scheinpflug 2014: 118). Der Film folgt dabei dem Muster des Gothic-Horror, bis er am Ende in der Auflösung das phantastische Element wieder negiert (vgl. ebd.).

Auch im herkömmlichen Giallo sind Elemente des Gothic-Horrors zu finden. Vor allem in Filmen von Mario Bava, der schon zuvor Filme in diesem Bereich gedreht hat. Hier sei wieder Sei donne per l'assassino genannt, der „auf Basis des Krimi-Genres die Horrorkonventionen“ (ebd.: 146) für nachkommende Gialli verstärkt ins Spiel gebracht hat. Zudem wird die Ästhetik des Films durch Elemente des Gothic-Horrors bestimmt, wie etwa das Setting und der Umgang mit Licht und Schatten. Bava legte außerdem großen Wert auf die Farbinszenierung und hob dadurch einzelne Gegenstände im Bildraum hervor (vgl. Stiglegger 2008: 425). Dies geschieht auch in Sei Donne per L'Assassino, wo durch die Farbe Rot in fast jeder Einstellung bestimmte Dinge hervorgehoben werden.

Auch in Argentos Gialli spielt die Farbgebung eine Rolle, doch treibt er es in einem seiner erfolgreichsten Filme, mit dem er sich kurzzeitig vollständig in den Gothic-Horror begab, auf die Spitze und gibt ihr hier eine essentielle Rolle, indem er das für den Horrorfilm unverzichtbare phantastische Element mit ihr in Verbindung bringt.

Argentos Ausflug in den Gothic-Horror

Mit Suspiria (Suspiria – In den Krallen des Bösen, IT 1977) wagte sich Dario Argento 1977 weg vom Giallo und betrat mit dem ersten Teil seiner ‚Muttertrilogie‘ den okkulten Gothic-Horror. Es folgten 1980 Inferno (Feuertanz – Horror Infernal, IT) und 2007 La Terza Madre (The Mother of Tears, IT). Die Filme dieser Trilogie handeln jeweils von einer mächtigen Hexe, die anstrebt, die Welt zu beherrschen.

Das Übernatürliche, das vom Hexenbund in der Tanzschule ausgeht, wird von ihm durch den bewussten Einsatz einer Mixtur der Primärfarben Rot, Blau und Gelb nicht nur hervorgehoben, sondern verstärkt, wobei die Farben nicht nur als Effekt dienen, sondern als Verkörperung der Hexen selbst bzw. als Bedrohung durch die Hexen verstanden werden können (Vgl. Gulio 2017: 156). Suspiria koppelt also das phantastische Element ausgehend von den Hexen an die Farben und lädt diese somit semiotisch auf.

Indem der Film den Einsatz der Farben auf den Wirkungsbereich der Hexen begrenzt, sprich die Tanzakademie und das Wohngebäude, schafft er zudem eine Abgrenzung von ‚Surrealem’ und Übernatürlichem und Realem. Bereits in der Anfangssequenz wird dies deutlich, wenn Suzy Benyon am Flughafen in Freiburg ankommt und ein Taxi ruft. Innerhalb des Flughafens besteht eine realistische Farbgebung, doch sobald sie das Gebäude verlässt, wird sie nicht nur von Dunkelheit und stürmischem Regen begrüßt, der ebenso wie die kurze Einstellung auf die elektrische Schiebetür eine dunkle Vorahnung aufkommen lässt, sondern auch von den Farben Rot, Blau und Gelb, die sie bis vor die Tür der Tanzakademie begleiten.

Nachdem Suzy am Abend zuvor abgewiesen wurde und am darauffolgenden Tag abermals vor der Akademie steht, erwartet sie auf der roten Fassade ein Schattenwurf, der Ähnlichkeit mit dem Profil einer Hexe hat (vgl. ebd.).1

Als sie im Anschluss das Gebäude betritt, wird ersichtlich, dass die Tanzakademie, wie schon durch den Schattenwurf angedeutet, der Sitz des Hexenbundes ist, denn von jetzt an sind die drei Farben immer Teil der Bildgestaltung. Einzig bei Suzys Treffen am Kongressgebäude trifft dies nicht zu, da sie für kurze Zeit den Einflussbereich der Hexen verlassen hat.

Eine weitere Farbe, die in Suspiria eine Rolle spielt, ist die Farbe Weiß, die als Gegenstück zu den Primärfarben der Hexen mit Suzy assoziiert werden kann, die sich letztendlich gegen die Hexen zur Wehr setzt und die Oberhexe tötet. Alle Farben (Blau, Rot, Gelb und Weiß) lassen sich in Form der Schwertlilienabbildungen an der Wand im Büro von Madame Blanc wiederfinden, wodurch sie zuletzt auch eine dramaturgische Rolle bekommen, indem Suzy durch das Entschlüsseln der Botschaft vom Filmbeginn die Geheimtür öffnen und das Geheimnis der Tanzakademie lüften kann (vgl. Stiglegger 2004: 239).

Weitere Mittel, die in Suspiria das konstante Gefühl der Bedrohung noch erhöhen, sind Architektur und Gestaltung der Innenräume der Akademie. Nicht nur sind die Farben der Hexen beinahe omnipräsent, sondern viele der Räume sind auch so gestaltet, dass Suzy klein und verloren wirkt. Die hohen Decken und Türbögen oder auch die Türklinken auf Augenhöhe der Protagonistin heben das befremdliche Umfeld nur noch weiter hervor (vgl. Giulio 2017: 159).

Der Giallo als Vorreiter vom Slasher

Gialli können sich je nach Regisseur*in und Jahrzehnt in ihrer Struktur unterscheiden, jedoch haben sie gemeinsam, dass die verschiedenen gezeigten Morde effektvoll in Szene gesetzt sind und der Mörder oft eine Maske mitsamt schwarzen Lederhandschuhen, Mantel und Hut trägt, um seine Identität zu verschleiern. Zum Opfer fallen ihm Vertreter*innen beider Geschlechter, doch den weiblichen Opfern wird meist mehr Beachtung geschenkt (vgl. Lowenstein 2016: 128).

Vor allem Gialli aus den 70ern mit ihrem stärkeren Fokus auf die gewalttätigen Morde, haben eine starke Ähnlichkeit mit dem jüngeren Genre des Slasherfilms, das gegen Ende des Jahrzehnts mit Halloween (Halloween – Die Nacht des Grauens, USA 1978) seinen prototypischen Vertreter erhalten sollte. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt hinüber in das Subgenre des Slashers, denn der Unterschied liegt im Wesentlichen nur noch beim Antagonisten selbst, da sich Thriller und Horrorfilm mitunter ähnlicher Stilmittel bedienen und eine ähnliche narrative Struktur aufweisen. Noch näher scheinen sich beide noch zu kommen, wenn man Pabsts Aussage in Betracht zieht, dass

der Horrorfilm [...] die phantastische Dimension des Monsters auf ein Minimum zu reduzieren [vermag]. Als ein solches Minimum erscheint zunächst jede Form von Wahnsinn oder psychischer Defekte. (Pabst 1995: 8 f.)

Da nach Scheinpflugs Psycho-Formel die Täter in den Gialli der 70er- Jahre ebenso ein Trauma oder eine psychische Störung aufweisen (vgl. Scheinpflug 2014: 140), ist eine Verbindung nicht von der Hand zu weisen und legt den Gedanken nah, dass der Giallo auf die Entstehung des Slashers einen gewissen Einfluss hatte und neben Hitchcocks Psycho eine Vorbildfunktion eingenommen haben könnte. Auf der anderen Seite wirft dies allerdings auch das Problem enger Genre-Grenzen auf, die hierbei leicht zu verschwimmen scheinen.

Der Giallo ist ein vielseitiges Genre, dessen Einfluss auf benachbarte Genres, wie den Horrorfilm, bis hin zur Stimulation der Ausbildung von Subgenres, hier gezeigt werden konnte. Allerdings scheint der Genrebegriff hier ohne explizitere Ausdifferenzierung bei der Vielzahl an Überschneidungen zu anderen (Sub)Genres und die große Anzahl an z. T. sehr unterschiedlichen Gialli an seine Grenzen zu stoßen.

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1   Der Schattenwurf wird von Suzy nicht wahrgenommen, sondern ist innerhalb der Bildgestaltung nur von den Rezipient*innen zu sehen.


Filme

Halloween (Halloween – Die Nacht des Grauens, USA 1978, John Carpenter).

Inferno (Feuertanz – Horror Infernal, IT 1980, Dario Argento).

Psycho (USA 1960, Alfred Hitchcock).

La ragazza che sapeva troppo (IT 1963, Mario Bava).

Sei donne per l'assassino (Blutige Seide, IT 1964, Mario Bava).

Suspiria (Suspiria – In den Krallen des Bösen, IT 1977, Dario Argento).

La Terza Madre (The Mother of Tears, IT 2007, Dario Argento).

L'uccello dalle piume di cristallo (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, IT 1970, Dario Argento).

Forschungsliteratur

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Giulio L. Giusti (2017): „Expressionist Use of Colour Palette and Set Design in Dario Argento’s Suspiria (1977)“. In: Cinergie. il cinema e le alter arti 4, S. 154-165. https://cinergie.unibo.it/article/view/7375 (28.02.2018).

Humphries, Reynold (2001): „Just another fashion victim. Mario Bava's Sei donne per l'assassino (Blood and Black Lace, 1964)“ In: Kinoeye – New perspectives on European film Vol. 1, Issue 7. http://www.kinoeye.org/01/07/humphries07.php (28.02.2018).

Hutchings, Peter (2016): „Bavaesque: the making of Mario Bava as Italian horror auteur.“ In: Stefano Baschiera u. Russ Hunter (Hg.): Italien Horror Cinema. Edinburgh, S. 79–92.

Lowenstein, Adam (2016): „The giallo/slasher landscape: Ecologia del delitto, Friday the 13th and subtractive spectatorship.“ In: Stefano Baschiera u. Russ Hunter (Hg.): Italien Horror Cinema. Edinburgh, S. 127–144.

Needham, Gary (2008): „Playing with genre: An introduction to Italien giallo“. In: Ernest Mathijs u. Xavier Mendik (Hg.): The Cult Film Reader. Berkshire/New York, S. 294–300.

Pabst, Eckhard (1995): „Das Monster als die genrekonstituierende Größe im Horrorfilm“. In: Enzyklopädie des phantastischen Films. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/19867 (28.02.2018)

Powell, Anna (2012): „A Touch of Terror: Dario Argento and Deleuze's Cinematic Sensorium“. In: Patricia Allmer, Emily Brick u. David Huxley (Hg.): European Nightmares. Horror Cinema in Europe Since 1945. New York, S.167–180.

Scheinpflug, Peter (2014): Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo. Bielefeld.

Schulte-Sasse, Linda (2002): „The ‘mother’ of all horror movies. Dario Argento's Suspiria (1977)“. In: Kinoeye – New perspectives on European film Vol. 2, Issue 11. http://www.kinoeye.org/02/11/schultesasse11.php (28.02.2018)

Stiglegger, Marcus (2008): „In den Farben der Nacht. Mario Bavas Stil zwischen Gothic-Horror und Giallo-Thriller“. In: Thomas Koebner u. Irmbert Schenk (Hg.): Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre. München, S. 412–426.

Stiglegger, Marcus (2004): „Suspiria“. In: Ursula Vossen (Hg.): Filmgenres: Horrorfilm. Stuttgart 2004, S. 237–240.