KEN PARK - Die Leiden des jungen Werdens

Larissa Berlin

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„In Galerien kann man alles zeigen, nicht im Kino…“

Larry Clark

Zwischen Milieustudie und Teensploitation

Schon als Fotograf hat Larry Clark mit seinen Bildbänden Tulsa (1971) und Teenage Lust (1982) für Furore gesorgt. Seine polarisierenden Bilder zeigen das von Drogen, Sex, Gewalt und (Klein-)Kriminalität geprägte Leben der Teens und Twens seiner Heimatstadt Tulsa in Oklahoma. Clark hat nie dementiert, in seiner Jugend selbst Teil dieser Subkultur gewesen zu sein – im Gegenteil. Aufnahmen wie die der hochschwangeren jungen Frau, die sich einen Schuss setzt, oder die des jungen Mannes, der selbstvergessen mit einem Baby im Arm eine Zigarette raucht, dokumentieren Szenen seines Alltags. Damit widerspricht Clark Susan Sontags Charakterisierung eines*einer Fotograf*in als jemandem, der*die außerhalb des Geschehens steht und die Kamera als eine Art Pass interpretiert, welcher moralische Grenzen und gesellschaftliche Hemmungen aufzuheben vermag:

Der springende Punkt beim Fotografieren von Menschen ist, dass man sich nicht in ihr Leben einmischt, sondern es besichtigt. Der Fotograf ist ein Supertourist – eine übersteigerte Spielart des Anthropologen –, der Eingeborene besucht und Nachrichten von ihrem exotischen Treiben und ihrer sonderbaren Aufmachung mit nach Hause bringt. (Sontag 1978: 46)

Clarks Bilder sind nicht nur eingefrorene, authentische Momentaufnahmen, sondern (auto-)biografische Dokumente, die zu einem zentralen künstlerischen Ausdrucksmittel avancieren. Es herrscht keine künstlerische Distanz zwischen dem Fotografen und seinen Motiven. Als Mann hinter der Kamera ist Clark eben kein Supertourist, sondern Eingeborener, der die Impressionen aus dem Inneren der Subkultur nach außen trägt, um mit dieser Form der Milieustudie sensibilisieren zu wollen.

Die rezeptionsästhetische Ebene in Clarks Arbeiten bleibt jedoch ein subjektives Feld: Während Kritiker*innen Bedenken über Ausbeutung äußern und Clark voyeuristische Tendenzen vorwerfen, sind Verfechter*innen der Meinung, dass man durch seine Perspektivierung zu nah am Geschehen sei, um überhaupt als Voyeur*in agieren zu können.

Obgleich Clark um seine polarisierende Arbeit weiß – oder aus genau diesem Grund –, wagt er Anfang der 1990er-Jahre den Schritt von der Fotografie zum Film. Eine Entwicklung, die als logische Schlussfolgerung gedeutet werden kann. Denn bereits die Einzelaufnahmen seiner Bildbände zeigen einen internen Konsens, der sich letztlich zu einer Geschichte zusammenfügen lässt.

Durch die Skandale und Kontroversen, die Clark bereits mit seinem Regiedebüt Kids (USA 1995, Larry Clark) auslöst, manifestiert sich relativ schnell, dass sein nonkonformistischer Blick auf das Leben amerikanischer Teenager nicht den konventionellen Werten und Normen der Gesellschaft entspricht. Sowohl seine ungeschönte Ästhetik als auch seine Attitüde und Ideen, stoßen in der Welt des kommerzialisierten Kinos zumeist auf Unverständnis. Doch Clark bleibt sich auch mit filmischen Nachfolgern wie Bully (Bully – Diese Kids schockten Amerika, USA 2001, Larry Clark) und Ken Park (USA 2002, Larry Clark) treu.

Ken Park ist hierbei als Höhepunkt einer Trilogie über die zeitgenössische Jugend zu betrachten. Ein Projekt, das eigentlich Clarks Wechsel von der Fotografie zum Film markieren sollte. In Kameramann und Co-Regisseur Ed Lachman und Co-Drehbuchautor Harmony Korine hatte er bereits 1994 den Großteil des Stab-Teams gefunden. Aufgrund der Radikalität des Projekts und seinem festen Entschluss, auch im Kino alles zeigen zu wollen, fehlten jedoch finanzielle Förderer. Nach dem Debüt Kids folgten noch drei weitere Filme, ehe Clark 2002 sein Traumprojekt in die Tat umsetzen konnte (vgl. Westphal 2005: 18).

Doch wo lässt sich das Coming-of-Age-Drama Ken Park einordnen mit all seiner psychischen und physischen Gewalt, den Drogen und der expliziten Darstellung vom Sex Heranwachsender? Handelt es sich hierbei um ein Paradebeispiel des Exploitationfilms? Rekurrierend auf Clarks (auto-)biografische Fotografien, lässt sich der Versuch wagen, auch sein filmisches Werk als Milieustudie zu kategorisieren. Dafür spricht, dass es sich bei den Teenagern ausschließlich um Laiendarsteller*innen handelt, die teils selbst dem gezeigten Milieu entstammen. Die fokussierte Subkultur ist die der Skateszene, was bereits in der Anfangssequenz durch die Figur des Ken Park eingeführt und auch später anhand von Shawn und insbesondere Claude fortgeführt wird. Zudem stehen die sozialen Beziehungen der Protagonist*innen inner- und außerhalb dieser Subkultur im Fokus. Identifizierend für eine Milieustudie ist auch der Originalschauplatz an dem gedreht wird – die Kleinstadt Visalia in Kalifornien, die letztendlich repräsentativ für jede vermeintlich idyllische Kleinstadt Amerikas ist. Clark hat sich vom Tatort New York aus Kids in das Vorstadtleben gewagt, um aufzuzeigen, dass sich solche Schicksale eben nicht nur in anonymen Metropolen abspielen, sondern auch vor der eigenen Haustür. Dass sich Milieustudien per Definition weniger auf die psychologische Darstellung von Individuen und deren Konflikte einlassen, kollidiert jedoch mit dem, was die Zuschauenden in Ken Park zu sehen bekommen. Sei es Peaches, die Fesselsex mit dem Freund aus der Bibelstunde als Eskapismus aus der religiösen Unterdrückung ihres Vaters wählt, oder Tate, der seine eigene Psychografie und zugleich sein Mordgeständnis mit einem Diktiergerät für die Nachwelt festhält – dem Publikum wird stets vermittelt, wie in etwa es in den Köpfen der Teenager aussieht.

Der realistische Stil des Films, der fernab des gewöhnlichen Mainstream-Kinos liegt, zeigt ungeschönt Auszüge aus dem Leben der vier Teenager und bleibt dabei stets einer ganz bestimmten Ästhetik treu: Über all der Tristesse liegt ein Sepiaton, der kräftige, strahlende Farben nahezu verschluckt, und den Rezipierenden dadurch ein Gefühl von Monotonie suggeriert. Ein Gefühl der Monotonie, das in Visalia an der Tagesordnung ist. Ken Park lässt in die Abgründe der menschlichen Psyche blicken und inszeniert nicht nur sprachliche Jargons, sondern auch eine sehr spezifische Atmosphäre, womit Clarks provokantestes Werk vielleicht zu einer Milieustudie zweiter Ordnung wird (vgl. Brunner 2012).

Um den von Kritiker*innen häufig verwendeten Begriff der Ausbeutung bzw. Exploitation nicht zu ignorieren, soll Ken Park auch im Kontext des sogenannten Teensploitation betrachtet werden, dessen signifikanteste Merkmale sich im gesamten Filmprojekt manifestieren lassen. Zum einen sind die filmischen Darsteller*innen jugendlichen Alters und stehen zeitgleich im Fokus der Handlung. Als Zuschauer*innen sind Jugendliche jedoch nicht intendiert, da der Film in den USA und in den meisten englischsprachigen Ländern zensuriert wurde und sonst unter die Kategorie FSK 18 fällt. Identifizierend für eine Zuordnung zum Teensploitation sind hingegen der jugendkulturelle Habitus, Systeme von Werten und Normen, Interessensgebiete sowie bestimmte sportlich-modische Betätigungen der Jugend – in diesem Fall das Skaten –, die zum Zweck kurzfristiger und intensiver wirtschaftlicher Ausbeutung in dramatisierte Form gebracht wurden. Die Skateszene in Ken Park fungiert hinsichtlich der Definition des Teensploitation als eine Art Parallelwelt, in der die Kids ihren Schutzraum suchen und finden. Dies gilt insbesondere für Claude, der sogar in Erwägung zieht mit einigen befreundeten Skatern zusammenzuleben, um der Situation zu Hause gänzlich zu entfliehen. Zwar werden einige der jugendlichen Protagonist*innen durch Erwachsene fremdkontrolliert, beispielsweise Shawn durch die Mutter seiner Freundin und Peaches durch ihren Vater, was einer engen Definition von Teensploitation widerspricht. Aber den jüngeren Figuren wird durchaus mehr Kompetenz zugesprochen als den älteren. So muss zum Beispiel Claude seine hochschwangere Mutter daran erinnern, dass sie mit dem Rauchen aufhören sollte. Durch die authentische Darstellung dieser Problematiken zwischen Teenagern und Erwachsenen, wird das Abbild einer möglichen Realität entworfen, das repräsentativ für Konflikte zwischen den Generationen ist (vgl. Kaczmarek 2012).

Die explizite Einordnung von Ken Park in ein filmisches Subgenre des Coming-of-Age-Dramas erweist sich als komplex, da die obige Analyse des Films hinsichtlich der Kategorisierung sowohl Charakteristika der Milieustudie als auch des Teensploitation ergeben hat. Ken Park erscheint als filmischer Hybrid, dessen Form und Inhalt ebenso unkonventionell sind wie seine nicht eindeutige Kategorisierung.

(S)Exzess als Eskapismus und Erlösung

Kristin Thompson etabliert in den 70er-Jahren den Begriff des cinematic excess innerhalb der neoformalistischen Filmtheorie, der sich filmischen Verfahren verschrieben hat, die die Qualität der Perzeption über ihrer funktionale Ebene hinaus – im dramaturgischen oder symbolischen Kontext – betont in den Fokus stellen. In Ken Park sind es insbesondere die Sexszenen, in denen sich ebenjener Exzess manifestiert. Clark lässt durch die jeweiligen Einstellungen die Materialität des Filmischen hervortreten, wodurch für den Moment das Narrativ als perpetuierende Struktur des Films stagniert und nach Thompson als counternarrative bzw. counterunity erfahrbar wird (vgl. Thompson 1977: 56).

Eine der signifikantesten Szenen dieses (S)Exzesses in Ken Park ist die, in der Tate zu der Übertragung eines Tennisspiels masturbiert, während er sich mit dem Gürtel eines Bademantels stranguliert. Die gut zweieinhalbminütige Szene (0:54:25–0:56:44) tritt aufgrund ihrer exzessartigen Funktion partiell aus dem narrativen Kontext heraus und endet nach der Ejakulation mit einer Nahaufnahme des Penis. Als Zuschauer*in ist diese explizite Szene durch seine enorme und absurde Form der Intimität nur schwer zu ertragen. Zudem vermag diese Intimität zu schockieren, da das Publikum eine solch explizite Darstellung von Sex bzw. Masturbation im ‚Mainstream-Kino‘ nicht gewohnt ist. Obgleich die Masturbationsszene die exzessivste Szene des Films ist, ist bereits die erste Sexszene in Ken Park (0:14:57–0:19:44) als cinematic excess zu werten. Es wird gezeigt, wie Shawn die Mutter seiner Freundin sexuell befriedigt. Dabei werden verschiedene und durchaus ungewöhnliche Kameraeinstellungen eingenommen, wie zum Beispiel der over the shoulder shot durch die Beine der Mutter hindurch nachdem Shawn sie oral zum Orgasmus gebracht hat. Diese Szene unterbricht den narrativen Kontext des Films insbesondere durch ihre Länge von fast fünf Minuten. Zwar werden die beiden genannten Szenen in Hinblick auf den Exzess funktionalisiert, aber sie zeichnen sich auch durch eine besondere Form der Authentizität auf der Darstellungsebene aus, denn die Handlungen – sowohl die Masturbation als auch die orale Befriedigung – nehmen genau so viel Zeit in Anspruch, wie es in der (abgefilmten) Realität der Fall ist. Keine der Szenen ist geschnitten beziehungsweise gekürzt.

Bezeichnend für Ken Park ist vor allem, dass sich sogar sein Ende in einem Exzess manifestiert. Es ist das einzige Mal im Film, dass die Protagonist*innen aufeinandertreffen. Zuvor sieht man sie nur einmal zusammen – auf einem Foto zu Beginn des Films, das die Teenager in fast infantil wirkender Gelassenheit zeigt. Bis zumindest Shawn, Peaches und Claude am Ende vereint sind, verlaufen ihre Leben eher parallel nebeneinander. Die Schicksale der Heranwachsenden werden in verschiedenen Handlungssträngen immer wieder abwechselnd gezeigt. Das alltägliche Elend, das die Teenager durchleben müssen, wird während des gesamten Films in expliziter Art und Weise dargestellt, sodass die Zuschauer*innen um die scheinbar ausweglose Situation wissen. Erst die ménage à trois zwischen Shawn, Claude und Peaches suggeriert eine Unbeschwertheit, an die in den vorangegangenen 84 Minuten nicht zu denken war. Sie haben Sex miteinander und tauschen dabei nicht nur Zärtlichkeiten aus, sondern teilen auch ihre Wünsche und Gedanken.

Es lässt sich konstatieren, dass die Teenager in Ken Park Sex sowohl als Form des Eskapismus als auch der Erlösung ansehen. Sie alle befinden sich in einem Alter der (sexuellen) Selbstfindung und Experimentierfreudigkeit. Peaches ist es, die eine sexuelle Beziehung mit einem Freund aus der Bibelstunde hat, um der Strenge ihres religiös-fanatischen Vaters zu entfliehen. Shawn hat nicht nur ein sexuelles Verhältnis mit der Mutter seiner Freundin, sondern hegt auch Gefühle für sie. Eine Liebe, die unerfüllt bleiben wird, in die er jedoch alles investiert, da ihn die sexuelle Befriedigung einer älteren Frau bestätigt. Tate nutzt Masturbation als Eskapismus vor seinen überfürsorglichen Großeltern, die ihn wie ein Kind behandeln und Claude kann die häusliche Gewalt und den versuchten Missbrauch durch seinen Vater durch den Sex mit Peaches und Shawn zumindest kurzzeitig vergessen.

Dennoch gibt es auch ungezeigte Sexszenen, die nicht positiv konnotiert sind. Zum einen der Versuch des sexuellen Missbrauchs Claudes durch seinen Vater sowie der implizierte Sex zwischen Peaches und ihrem Vater nach der gemeinsamen Hochzeitszeremonie. Auch der Namensgeber Ken Park hatte Sex, dessen Konsequenzen ihn letztlich sogar in den Selbstmord treiben. Die Eröffnungssequenz endet damit, dass er sich inmitten des Skateparks auf der Plattform einer Halfpipe mit einer Pistole in den Kopf schießt. Die Motivation wird jedoch erst am Ende des Films deutlich: Ken Park hatte seine Freundin geschwängert. Er sieht sich gezwungen, erwachsen zu werden und jobbt in einem Fast Food-Restaurant, um Geld zu verdienen. Ein eigenes Kind bedeutet die widerwillige Transgression vom Teenie zum verantwortungsvollen Erwachsenen. Ken glaubt jedoch, dieser Verantwortung nicht gewachsen zu sein, will der tristen Endlosschleife des vorprogrammierten Lebens in Visalia entkommen und sieht seine individuelle Lösung im Suizid.

Des einen Leid ist des anderen Freud

Ist die explizite Darstellung von Sex notwendig ist, um die Geschichten zu transportieren oder wäre dem Publikum nicht auch impliziteres Bildmaterial zuzutrauen gewesen? Ist es dem Thema immanent, dass Clark auch vor Masturbations- und Blowjobszenen nicht zurückschreckt oder wird diese sexuelle Freizügigkeit lediglich als Mittel der Provokation genutzt? Doch es ist in Ken Park nicht nur die Darstellung von Sex im Besonderen, die berechtigte Fragen aufwirft, sondern die Zurschaustellung vom Elend der Figuren im Allgemeinen. Clark vermag als ehemaliger Teil jener Subkultur vielleicht zu nah am Geschehen zu sein, um als Voyeur zu agieren, aber sind die Rezipierenden seiner Arbeiten es auch? Oder werden sie durch Clarks Blick automatisch gezwungen in genau diese voyeuristische Rolle zu schlüpfen? Sich am Elend anderer zu erfreuen ist heute wohl so populär wie nie zuvor. Lässt sich in diesem Kontext ein Vergleich zwischen Formaten wie scripted reality und fiktiven Erzählungen wie Ken Park ziehen oder sollte hier aufgrund der unterschiedlichen Medienformate differenziert werden? Oder ist ein Vergleich möglich, da es immer um die Perzeption der Rezipierenden geht?

Es fällt schwer die Grenze zwischen dem Respekt gegenüber gesellschaftlichen Außenseitern oder ‚Verlierern‘ und deren Ausbeutung zu ziehen. Ebenso ist es fragwürdig, wann es sich um die Anklage unerträglicher Zustände oder um die Zurschaustellung von Elend handelt (vgl. Konopka 2012).


Filme

Bully (Bully – Diese Kids schockten Amerika, USA/F 2001, Larry Clark).

Ken Park (USA/NL/F 2002, Larry Clark).

Kids (USA 1995, Larry Clark).

Forschungsliteratur

Brunner, Philipp (2012): „Milieustudie“. In: Lexikon der Filmbegriffe. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=274  (12.12.2017).

Kaczmarek, Ludger (2012): „Teensploitation“. In: Lexikon der Filmbegriffe. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=6284  (06.12.2017).

Konopka, Hart (2012): „Die Lust am Elend der Anderen“. In: Hinterland Magazin Nr. 21. München, S. 20-24.

Sontag, Susan (1978): Über Fotografie. Essays. Frankfurt a. M.

Thompson, Kristin (1977): „The Concept of Cinematic Excess“. In: Cine-Tracts 1, H. 2, S. 54–63.

Westphal, Sascha (2005): „Teenager, traumlos“. In: Begleitheft zu Ken Park. Köln.