Konzeptualisierung

  • Medientechnisch

    Echtzeit im Film lässt sich also sowohl narratologisch als auch technisch-medial definieren. Im letzteren Fall gilt die Plansequenz als Ausgangspunkt: eine Einstellung ohne Schnitt und Beschleunigungs- und Retardierungsverfahren (fast motion oder slow motion). Narratologisch ist Echtzeit hingegen als zeitdeckendes oder szenisches Erzählen definiert, als ein Erzählverfahren, bei dem die Zeit der narrativen Wiedergabe (Erzählzeit) kongruent zur Zeit des Erzählten (erzählte Zeit) ist.

    Die technische Umsetzung von Echtzeit durch die Plansequenz stellt jedoch nur eine unter mehreren Umsetzungsmöglichkeiten dar, denn zeitdeckend kann auch erzählt werden, wenn Schnitte vorliegen, bei denen sich etwa nur die Einstellungsperspektive verändert, ohne dass von der Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit abgewichen wird.

    Und zeitliche Kontinuität kann nicht nur auf der Bildebene, sondern ebenso durch das Sounddesign evoziert werden. Auf der Tonebene handelt es sich zumeist um Kontinuitäten der gesprochenen Sprache, der Geräuschkulisse (Atmo) und/oder der diegetischen Musik, während nichtdiegetische Filmmusik oder Erzählerkommentare zwar Sequenzen verklammern können, dadurch aber keine Echtzeit hervorbringen.

    Narratologische und medientheoretische Begriffsbestimmungen sind demnach voneinander zu trennen. Zu fragen wäre aber, inwiefern beide möglicherweise fundamentale Definitionsansätze liefern und sich gegenseitig ergänzen (könnten).

  • Erzähltheoretisch

    Zumeist orientiert sich das Zeitkonzept filmisch-fiktionaler Weltentwürfe am modernen lebensweltlichen Verständnis einer exogenen Zeit bestehend aus Naturzeit (Rhythmen der Natur) und sozialer Zeit (kollektive Zeitvorstellung und Zeitgestaltung), welche in westlichen Kulturkreisen in der Auffassung einer „dynamischen linearen Zeitgestaltung“ aufgeht. Ein narratologisch fundiertes und theoretisch differenziertes Konzept hat indessen die in der Forschung bisher noch offene Frage zu klären, welche Rolle die Festlegung von ‚Zeit‘ als Referenzwert (= erzählte Zeit) durch filmisch-diegetische Universen spielt: Was passiert, wenn das filmische Universum Zeit anders definiert als im Alltagsverständnis angenommen? In Fällen solcher Abweichungen kann bspw. eine technisch verlangsamte Darstellungsweise durchaus Echtzeit repräsentieren, sofern Zeit innerhalb der fiktiven Welt langsamer abläuft als in der außerfilmischen Wirklichkeit.

    Zeit im Film wird also letztlich durch das im jeweiligen Film präsentierte diegetische Universum determiniert. Der narratologische Echtzeit-Begriff basiert demnach auf der Basis einer festgelegten Relation zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit (Kongruenz) und ist theoretisch als variabler Wert aufzufassen, dessen Variabilität abhängig ist von der zeitlichen Situierung erzählter Welten. Mit zeitlicher Situierung ist die zeitliche Datierung von Geschehnissen innerhalb der dargestellten Welt sowie die Determinierung von ‚Zeitgesetzen‘ gemeint (etwa zyklische Abläufe wie Tages- und Jahreszeiten, lineare Vorgänge wie Alterungsprozesse von Lebewesen, der Status von Zeit als Konstante oder manipulierbare Größe, mögliche und unmögliche Formen der subjektiven Zeitwahrnehmung).

    Es lassen sich diverse Beispiele ausmachen, die unterschiedliche, von der realen Echtzeit abweichende Zeitformen darstellen. Solche Konzepte sind in den meisten Fällen eingebettet in einen Gesamtzusammenhang, in dem diese als Abweichung von einem ebenfalls gesetzten ‚Normalkonzept‘ markiert werden. Zu finden sind zyklisch fundierte Zeitkonzepte (Groundhog Day, 1993), retardierende (Inception, 2010), paradoxale (Stay, 2006), mystische (Picnic at Hanging Rock, 1975) und manipulative (Enter the Void, 2009).

    Diese narrativ erzeugte Pluralität von Zeitkonzepten ist stets bedeutungstragend, ihre Divergenz führt zu hierarchiehohen Ereignissen: Figuren erleben Abweichungen vom ‚Normalkonzept‘ üblicherweise als Störung; Handlungen, die sich an beiden Zeitdimensionen zu orientieren haben, werden dadurch hochgradig ereignishaft. Echtzeit als Vermittlungsmodus ist folglich stets vor dem Hintergrund des diegetischen Zeitkonzeptes zu analysieren; es müssten daher auf systematischem Wege Parameter und Funktionszusammenhänge erarbeitet werden, um 1. Echtzeit als Analyseinstrument zu präzisieren und um mit seiner Hilfe 2. dem Phänomen der Zeit in narrativen Spielfilmen eingehender als bisher geschehen nachgehen zu können.

  • Phänomenologie der Echtzeit

    Echtzeit im Film kann in Anlehnung an die phänomenologische Zeitphilosophie (Edmund Husserl) als ein synthetischer Konstitutionsprozess beschrieben werden, der den Zuschauer glauben macht, das filmische Geschehen laufe synchron zu seiner eigenen Zeit ab. Husserls Begriffsinstrumentarium (Retention, Protention, Zeitperspektive, Bildbewusstsein) kann dazu beitragen, auch die filmisch-narrative Form der Zeit konkret zu analysieren. Der Zuschauer komplettiert das filmische Geschehen kopräsent in seiner Phantasie. Wir erleben Echtzeit als Intensität, da die filmische Dramaturgie das Zeiterleben doppelt. Ein zeitliches Einheitsbewusstsein im Film ist ein narratives Konstrukt, das ein ästhetisches Analogon zur ursprünglichen Zeiterfahrung darstellt.

    Die narrative Konfiguration von Zeit durch Erzählungen ist das große Thema Paul Ricœurs, demzufolge Zeit innerhalb der Phänomenologie nicht sagbar ist, weil sie die objektive Zeit nicht erfasst. Die objektive Zeit ist das Nacheinander der Jetztfolge, das sich im wandernden Zeiger der Uhr zeigt − nach Aristoteles das Gezählte an der Bewegung. Martin Heidegger unterscheidet diese Zeitauffassung von der „eigentlichen“ Zeit, die philosophiegeschichtlich als subjektive Zeitvorstellung auf Augustinus’ Konzept der ‚distentio animi‘ zurückzuführen ist, d.h. dass sich das Subjekt zeitlich auf sein Gewesensein und seine Zukunft erstreckt. Ricœur zufolge besteht zwischen diesen Zeitauffassungen eine Kluft, die erst durch die Narration überbrückt werden kann. Dabei fokussiert er nicht das Medium Film, sondern konzentriert sich auf die literarische Erzählung. Ein Ansatzpunkt, Ricœurs Überlegungen auf den Film zu übertragen, findet sich bei Türschmann/Aichinger (2009), allerdings ohne eine Analyse der Echtzeit.

    Die Darstellung von Echtzeit im Film − so könnte man meinen − erfasst die objektive, die messbar fließende Zeit. Dies hängt jedoch vom Filmkontext ab, denn sie kann auch eine quälend langsam verlaufende Zeit repräsentieren (etwa wenn unmittelbar zuvor ein rasantes Schnitttempo und ‚actionreiche‘ Handlungsabläufe vorherrschten) und damit dem subjektiven Zeitempfinden einer Figur entsprechen. Hier schließt sich die Frage an, inwiefern Echtzeit bereits in der narrativen Konfiguration einer Filmgeschichte objektiv vorliegt oder erst durch die Zuschauerrezeption konstituiert bzw. „rekonfiguriert“ (Ricœur) wird.

     

    Türschmann, Jörg/ Aichinger, Wolfram (Hgg.): Das Ricœur-Experiment. Mimesis der Zeit in Literatur und Film. Tübingen: Günter Narr 2009.
  • Semiotik der Echtzeit

    Zeit im Film tritt zeichenhaft in Erscheinung. Zu differenzieren sind grundlegend repräsentierte und repräsentierende Zeit. Echtzeit ist in diesem Rahmen als relationale Größe aufzufassen, die bestimmte Verhältnisse zum Ausdruck bringt mit Blick auf die Relation 1. zwischen repräsentierter und repräsentierender Zeit und 2. zwischen Produzent und Adressat bzgl. ihrer Zeichenverwendung. Repräsentierte, dargestellte Zeit ist gebunden an filmische Inhalte (Uhren, Kalender, Tageszeiten, Figuren usw.), während repräsentierende Zeit als suprasegmentales Zeichen „allein in Verbindung mit dem, was in seiner [des Zeichens] Zeitdimension variiert (Sprache, Film, Gestik)[,] zeichenhaft werden kann“ (Nöth 2000, 287). Letztere Zeitebene ist somit abhängig von filmischen Mitteln der Bedeutungsgenerierung (Kamera, Montage, Musik, Sprache), mittels derer sie u.a. in Formen der Zeitlupe, dem Zeitraffer, dem freeze frame manifest wird.

    Ein Filmtext kann genau dann eine echtzeitliche Darstellung evozieren, wenn Zeichenträger der repräsentierenden Zeit äquivalent sind zu denjenigen der repräsentierten Zeit und Produzent und Rezipient über denselben Code verfügen, d.h. dasselbe Verständnis von Echtzeit aufweisen ­– wobei auch aus semiotischer Perspektive zu beachten ist, dass „[d]as Empfinden der Geschwindigkeit des Zeitflusses […] vom aktuellen psychischen Zustand einer Person bestimmt wird“ (Groh 2010, 98). Das Verständnis von Echtzeit basiert auf einer physisch und mental (aufgrund natürlicher Vorgänge wie Schlafrhythmus und Alterungsprozess) erfahrenen, kulturell unterschiedlich verhandelten, physikalischen Größe, die eine Zeitdauer als ‚real‘ ausweist; i.d.R. gemessen an zyklischen Abläufen der Welt (Tages- und Jahreszeiten, Sonnenständen) und/oder an metrisch gleichmäßig bewegten Objekten (Uhrzeiger, Pendel, Sanduhr), die den Verlauf von Zeit erfahrbar machen.

    Im Film liegt eine Äquivalenz zwischen repräsentierter und repräsentierender Zeit − und damit Echtzeit − wiederum dann vor, wenn − wie im Fall von High Noon (1952) − die ikonische Präsentation einer Uhr in Bild und Ton (vor dem Hintergrund des Modells von Welt und ihrer physikalischen Gesetzmäßigkeiten) übereinstimmt mit der im Rahmen dieser Welt verfließenden, ‚realen‘ Zeit. Da Zeit aber letztlich selbst kein Zeichen ist und andere semiotische Träger zeitlich semantisiert werden, sie allerdings als Konstante der filmischen Textualität jedem Film inhärent ist, wäre zu problematisieren, wann bestimmte Strukturen als Echtzeitdarstellungen gelten können und wie sie funktionalisiert werden, d.h. 1. inwiefern semiotische Anordnungen eine jeweilige Äquivalenz konkret auf Mikro- und Makroebene eines Films realisieren; 2. welche Funktion diese im paradigmatischen Gesamtgefüge der filmischen Bedeutungskonstitution und für die Rezeption einnehmen; und 3. welche Konstellationen die Rezeption von Echtzeit möglicherweise prä­determinieren.

    Bemerkenswert ist dabei nicht der Umstand, dass jede ungeschnittene Filmsequenz als Darstellung in Echtzeit (im weiten Sinne) gelten darf, sondern dass Zeichenträger beider Zeitebenen aktualisiert und in Relation gesetzt und dadurch Zeit über ihren Status als strukturierende Größe hinaus ebenfalls selbst strukturiert und Echtzeit (im engeren Sinne) damit bedeutungstragend wird.

     

    Nöth,  Winfried: Handbuch  der  Semiotik. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000.
    Groh,  Arnold:  „Überlegungen  zum  Zeichencharakter  von  Zeit“.  In: Zeitschrift  für  Semiotik 32,  1-2 (2010).