Interrelationen

  • Kulturell

    Sowohl Bedingungen der Rezeption als auch Darstellungskonventionen von zeitlichen Relationen sind kulturell bedingt und variieren stark. Der japanische Regisseur Yasujiro Ozu beispielsweise arbeitet einerseits mit langen Einstellungen, die eine Echtzeit-Atmosphäre evozieren. Andererseits wirken die Szenenwechsel selbst, auch die Anschlussmontagen, abrupt und lassen sich in vielen Fällen nur durch Dechiffrierung der Temporalzeichen (etwa Uhren, Kalendarien usf.) erkennen. Diese Unterschiede sind keineswegs bloße ‚Individualstile‘, sondern lassen sich allgemeiner auf unterschiedliche kulturelle Prämissen zurückführen, die letztlich den narrativen Rahmen bilden. Eine Kultur wie etwa die japanische verfügt über zwei Kalendarien, den westlich-christlichen, gregorianischen Kalender und den japanischen Kalender, der das Jahr nach kaiserlicher Inthronisierung zählt. Auch wurde vielfach darauf hingewiesen, dass eine Subjektvorstellung wie die des Westens nicht generalisiert werden kann bzw. revidiert werden muss. Auch damit gehen massive ästhetische Variationen einher.

  • Historisch

    In historischer Hinsicht und im Kontext medialer Historiographien variieren die Bedingungen von Echtzeit und Synchronzeit ebenso wie die Ansprüche, die an sie gestellt werden. Jede technisch-mediale Neuerung erweitert nicht nur die Möglichkeiten der Echtzeit-Kommunikation; technologische Medien werden überhaupt erst „in der temporalen Dimension“, d.h. „im Zeitvollzug […] operativ“ (Ernst 2012, 15).

    Die Frage ist daher, in welchem Verhältnis die Historizität des filmischen Mediums zur medialen, filminternen Konzeption von Echtzeit als filmspezifischer Eigenzeit zu sehen ist. Medieninnovationen wie das Zeitungswesen, die Nachrichtenübermittlung und die TV-Übertragung haben uns in dieser Hinsicht an eine Echtzeit im chronometrischen Sinne einer Korrelation zweier an sich differenter Zeit- und Raumhorizonte gewöhnt. Die Filmgeschichte selbst bildet dabei diesen Prozess des Umgangs mit Echtzeit ästhetisch ab.

    Die Minutenfilme der frühen Filmgeschichte, fast ausnahmslos in Echtzeit gefilmt, insofern nur eine Einstellung benutzt wird, gehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Montagefilm über. Der Tonfilm der späten 1920er Jahre wiederum bindet die visuellen Vorgänge in Echtzeit an die Synchronzeit der Sprache und der Geräusche. Seit den 1960er Jahren lässt sich dann einerseits im Erzählkino eine Tendenz beobachten, vermehrt Effekte wie die der Zeitdehnungs- und Zeitraffungsverfahren zu nutzen, die Montagedauer zu verkürzen usf. Andererseits aber setzen viele Filmemacher gerade wieder auf eine Vereinfachung der ästhetischen Darstellung und eine radikale Rückkehr zu den Grundprinzipien des Films – und damit auch zu einer Echtzeit-Ästhetik, die sich etwa in langen, ungeschnittenen Plansequenzen äußert. Insbesondere mit dem Schritt vom analogen zum digitalen Film wurde dabei die technisch-materiell erstmalige Möglichkeit von Aufnahmen in Echtzeit postuliert (und z.B. in Timecode, 2000, reflektiert). Auf ähnliche Weise hat diese „euphorische Diskursfigur ‚in Echtzeit‘“ (Friedrich/Stollfuß 2011, 5) sogar Eingang in TV-Serien wie Tatort gefunden: Die Folge Außer Gefecht (2006) spielt in Echtzeit zwischen 20:15 Uhr und 21:45 Uhr. Das Bedürfnis nach ‚authentischer‘ Echtzeit zeigt sich ebenso in dem jüngsten aufwändigen Film-Projekt Boyhood (2014), das über 12 Jahre gedreht wurde, um das Erwachsenwerden eines Jungen so ‚lebensnah‘ wie möglich zu erzählen. Echtzeit ist hier kein zeitdeckendes Erzählen, sondern ein semantisches Verfahren zur Darstellung des Alterns eines realen Schauspielers; Echtzeit suggeriert hier die Echtheit des dargestellten zeitlichen Prozesses. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Mensch-Maschine-Komplexionen innerhalb der gegenwärtigen Medienkultur (etwa im Fall von Computerspielen u.ä.) ist das Phänomen filmischer Echtzeit auch vor dem Hintergrund einer ‚Horizontverschmelzung’ medialer Eigenzeit und rezipientenbezogener Zeiterfahrung zu analysieren.

    Die historische Betrachtung filmischer Echtzeit nimmt daher das Verhältnis von Echt- und Synchronzeit im Zusammenspiel von Kamerahandlung und Handlung vor der Kamera ebenso wie im Zusammenspiel von Aufnahmezeit und Rezeptionszeit in den Blick, um die historische Spezifik einer filmisch-medialen Zeitkonzeptionierung zu ermitteln. Damit stehen gerade mit Echtzeit operierende zeitbasierende und zeitkonstituierende Prozesse im Fokus dessen, was Ernst als die zentrale „theoretisch-epistemologische und technisch-praktische Herausforderung der gegenwärtigen Medienkultur“ beschrieben hat.

     

    Ernst, Wolfgang: Chronopoetik. Zeitweisen und Zeitgaben technischer Medien. Berlin: Kadmos 2012.
    Friedrich, Kathrin/Stollfuß, Sven (Hgg.): Blickwechsel. Bildpraxen zwischen Populär- und Wissenschaftskulturen (= Augenblick. Sonderheft der Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, 50). Marburg: Schüren 2011.
  • Genrespezifisch

    Filmgattungen und -genres legen den Umgang mit Zeit fest. So sind Dokumentarfilme prinzipiell am extrafilmisch-lebensweltlichen Zeitverständnis orientiert, während fiktionale Filme angesichts ihrer Konzeption und Gestaltung von Zeit einen imaginären ‚Freiraum‘ schaffen können. Generische Subformen des Spielfilms füllen den ‚Freiraum‘ der Zeitgestaltung in unterschiedlicher Weise aus und rufen infolgedessen divergierende Formen der Echtzeitdarstellung hervor. Unterschiede lassen sich zwischen phantastischen und realistischen Filmen ausmachen. Üblicherweise funktionalisieren realistisch konzipierte Filme die außerfilmische, moderne Zeitauffassung, phantastische können diese durch ein abweichendes Konzept substituieren. Für beide gilt aber − und dies setzt einen wesentlichen Gegenstandsbereich des Netzwerks fest −, dass Echtzeit als Modus der narrativen Vermittlung markiert sein muss, um ihr dadurch eine besondere Funktion zuzuordnen.

    In der Serie 24 etwa ist Echtzeit Dreh- und Angelpunkt: Die Zeit der gezeigten Handlung und die Darstellung dieser Handlung sind annähernd deckungsgleich; die Ebene der filmischen Präsentation impliziert dabei die Proposition, dass Zeit nicht manipulierbar erscheint und führt ihre unaufhaltsame Linearität und Kontinuität als Konstante vor Augen. In [Rec] (2007) evoziert die Kamera eines Fernsehteams einen Effekt, der veranschaulicht, dass 1. Echtzeit am deutlichsten durch Live-Cam- oder Documentary-Cam-Dispositive markiert wird (vgl. auch The Blair Witch Project, 1999) − ein Phänomen, auf das ebenfalls Paul Virilio hingewiesen hat −; 2. das Phantastische aufgrund von Echtzeit als Authentisches ausgegeben wird; und 3. die Rezeption des Zuschauers nicht nur als Befriedigung von Sensationslust konzipiert ist, sondern als Teilhabe am Geschehen und augenscheinlich als Modus virtueller Operationalisierung von Handlung.

    Generische Funktionalisierungen von Echtzeit sind gebunden an semantische und syntaktische Genreregeln. Die Stummfilmkomödie Modern Times (1936) thematisiert die Dominanz des industriellen Systems und die Übermacht der Maschine gegenüber dem Menschen. Wie die Maschine Zeitlichkeit neu bestimmt, wird etwa in einer Szene deutlich, in der die Hauptfigur einen Essensapparat vorführt: Die Fütterung des Menschen durch die Maschine referiert auf die höher frequentierte Taktung von Handlungsabläufen, die Beschleunigung des Lebensrhythmus und damit auf die Neukonzeption von Zeit, der der Mensch nicht gewachsen ist. Ähnlich ist dies im Western-Genre zu beobachten. Hier korreliert der Kultivierungsprozess des wilden Naturraums im Westen, insbesondere in der Nutzung der Eisenbahn, mit einer Veränderung der raumzeitlichen Wahrnehmung. Bemerkenswert dabei ist, dass Duellierungsszenen im Spätwestern (wie bspw. in C’era una volta il West, 1968) Echtzeit insinuieren, tatsächlich aber zeitdehnendes Erzählen repräsentieren − und aufgrund dessen als Zäsur des Zeitflusses fungieren, in der bezeichnenderweise über die Zukunft der dargestellten Welt entschieden wird. Im Action- wie auch im Horrorfilm werden Echtzeitsequenzen als Attraktionsmomente verwendet − im Fall des Actionfilms wird Echtzeit jedoch verkürzt/be­schleunigt, im Horrorfilm retardiert wahrgenommen. Denn in Ersterem sind feuergewaltige Explosionen von Fahrzeugen oftmals an eine rasche Handlungsfolge gekoppelt, die zum Abschluss hin ausgerichtet ist (vgl. etwa Die Hard: With a Vengeance, 1995), während im Horrorfilm, wie z.B. in der Halloween-Reihe, Verfolgungsszenen immer wieder verlängert werden oder unaufgelöst bleiben.

    Echtzeit ist also kein Kriterium zur Genrebestimmung. Aber Genres gehen mit Echtzeiteffekten unterschiedlich um, so dass für unser Vorhaben die dezidierte Auseinandersetzung mit Genrefilmen und ihren schematisiert-stereotypischen Handlungsstrukturen, Figurenkonstellationen, Mise-en-scène-Anordnungen, filmstilistischen Effekten usf. zentral erscheint.