Wirkungsweisen

  • Zeitraffung/-dehnung in rezeptionsästhetischer Sicht

    Es gibt Fälle von Echtzeit im Film, die im Zuschauer den Eindruck einer zeitlichen Dehnung oder Raffung hervorrufen, ohne hierfür die technischen Mittel der Zeitlupe oder des Zeitraffers zu benutzen. In der Regel sind diese Eindrücke nicht willkürlich und vom subjektiven Empfinden des individuellen Zuschauers abhängig, sondern lassen sich durch den Bezug der Einzelszene zum Gesamtfilm erklären und objektivieren.

    Im Normalfall wird im Rahmen einer Sequenz (wenn es sich nicht um eine sog. Montagesequenz handelt), zeitdeckend beziehungsweise szenisch erzählt; zeitdehnendes Erzählen ist der Ausnahmefall. Bei bestimmten Filmszenen stellt sich jedoch der Eindruck von narrativer Langsamkeit ein, obwohl objektiv eine Plansequenz vorliegt. Die Wirkung einer zeitdeckend erzählenden Szene hängt entscheidend ab 1. von den erzählten Inhalten und 2. von der Einordnung der Szene in die erzählerische Komposition des Gesamtfilms. Tendenziell scheint sich in einer zeitdeckend erzählten Szene vor allem dann ein Eindruck gedehnter Zeit einzustellen, wenn die Länge der Plansequenzen nicht mit der Menge erzählenswerter Geschehnisse korreliert.

    Die Bewegung der Figuren ist beispielsweise in einer Szene von Michael Hanekes Funny Games (1997) so inszeniert, dass es wirkt, als würde die Zeit angehalten, um jede Möglichkeit der Rettung für sie auszuschließen. Die Plansequenz, in der fast nichts geschieht, nachdem zuvor ein Massaker geschehen ist, wirkt wie unerträglich gedehnte Zeit, obwohl sie im technischen und narrato­logischen Sinne in Echtzeit gedreht/erzählt wird. Auch in Gus Van Sants Elephant (2003), der sich auf den Amoklauf an einer Schule in Columbine bezieht, wird in Plansequenzen die Zeitlichkeit von Handlungen gedehnt. Die Schule wird als ein Ort inszeniert, der den Gesetzen der Zeit enthoben scheint, um auf diese vermeintliche Idylle mit umso heftigerer Wirkung das unerwartete Massaker folgen zu lassen.

    Plansequenzen können jedoch auch dazu dienen, auf rasante Weise zu erzählen, wie etwa in Alfonso Cuaróns Gravity (2013) oder Children of Men (2006). Mit Blick auf Actionfilme lässt sich beobachten, dass in Echtzeitsequenzen analog zum Eindruck der gedehnten Zeit auch der Eindruck beschleunigter Zeit entstehen kann, weil in dem durch die Plansequenz festgelegten Zeitraum eine hohe Aktionsdichte entsteht und sich die Wirkung so wiederum kontrastiv zum Echtzeit-Verständnis im medientechnischen und erzähltheoretischen Sinne verhält.

  • Realitätseffekt und Dokumentarästhetik

    Echtzeit im Film ruft zumeist einen Realitätseffekt hervor. Das kann entweder bedeuten, dass Immersion verstärkt wird oder im Gegenteil der Eindruck eines Dokumentarfilms entsteht; mit Echtzeit rückt die filmische Darstellung dann in Richtung Simulation.

    Das ist etwa bei Filmen wie Timecode (2000) und Russian Ark (2002) der Fall. Da Echtzeit im Film als Authentifizierungsstrategie dienen kann, ist ein Vergleich zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Formaten lohnend: Während der Spielfilm Echtzeit mitunter einsetzt, um ‚realistisch zu wirken‘, geht mit dem Dokumentarfilm traditionell der Anspruch einher, Sachverhalte authentisch und wahrheitsgemäß darzulegen. Echtzeit wird im Feld des Dokumentarischen mit unterschiedlichen Funktionen eingesetzt: So ist etwa für die Live-Übertragungen das Versprechen an den Zuschauer entscheidend, ‚nichts zu verpassen‘ und ‚unmittelbar an der Zeit‘ zu sein. Stilmittel, die eine Live-Übertragung suggerieren, können wiederum für fiktionale Filme funktionalisiert werden wie etwa in den Fernsehfilmen Das Millionenspiel (1970) oder Private Life Show (1995), die jeweils eine fiktionale Fernsehshow repräsentieren und durch das Live-Konzept Echtzeit implizieren.

    Eine große Anzahl der Dokumentarfilme etwa über Tschernobyl und Fukushima nutzen extrem lange Einstellungen, um einen physisch-zeitlichen Bezug zum Ort der Katastrophe zu evozieren. Beispiele für das Echt­­zeitverfahren in diesem ‚Subgenre‘ sind: Nuclear Nation (2012), Mujin chitai (2012), Into Eternity (2009), Unter Kontrolle (2011), Pripyat (1999), Metamorphosen (2012). Die Ästhetik dieser Filme ähnelt der fiktionaler Filme wie etwa Andrei Tarkovskijs Stalker (1979) und Offret (1986). Es wäre herauszuarbeiten, warum solche Filme auf eine Strategie der Monotonie, der Vereinfachung setzen und wie ihre Wirkung im Einzelnen zeitlich moduliert wird. Doch kann eine Authentizität versprechende Wirkung von Echtzeit auch ins Gegenteil umschlagen. Ein eindrückliches Beispiel dafür sind Andy Warhols Experimentalfilme Sleep (1963) und Empire (1964). Hier stehen nicht Authentizität und Dokumentation im Vordergrund, vielmehr entfaltet Echtzeit in diesem Fall eine meditative, abstrahierende Wirkung und physische Präsenz.

  • Immersion und Simulation

    Einen zentralen Aspekt der Echtzeitforschung stellen Immersion und Simulation dar. Begriffsgeschichtlich an denselben informatischen Ursprung wie ‚Echtzeit‘ gebunden, sind die Konzepte vor allem in den Game Studies etabliert. ‚Immersion‘ bezeichnet dabei im etwas unscharfen Verbund mit den Komplementärbegriffen ‚Presence‘ und ‚Engagement‘ das Eintauchen in medial vermittelte Vorgänge (vgl. McMahan 2003; zur Immersion im Speziellen Kühn 2011). Als kognitionswissenschaftlicher Blick auf den Fiktionalitätspakt sind mit immersiven Effekten 1. die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das mediale Geschehen unter Ausblendung der außermedialen Wirklichkeit, 2. das Aussetzen der bewussten Reflexion von dessen Medialität sowie daraus resultierend 3. unmittelbare psychische oder physische Reaktionen gemeint – ein klassisches Beispiel stellt das Erschrecken beim Betrachten eines Horrorfilms dar.
    Simulation wiederum lässt sich aus medientheoretischer Sicht nicht vom Hintergrund der Ludology-Narratology-Debatte lösen (vgl. Simons 2007; Aarseth 2012). Die in den 90ern aufgeworfene Frage, ob virtuelle Welten (‚ergodic literature‘, Aarseth 1997) als (immerhin spezielle) narrative Texte oder als Simulation zu analysieren sind, prägt seitdem grundsätzlich die meisten Simulationsdefinitionen.

    Da Echtzeit als Nullzeitrückkopplung zwischen Steuerndem und Gerät, Spieler und Spielwelt, den entscheidenden Faktor immersiver Effekte von Simulation darstellt, wäre zu fragen, inwiefern im narrativen Filmtext via Immersion ihrerseits Simulation als Effekt aufgerufen beziehungsweise fingiert wird. Echtzeit im Film wird damit zum intertextuellen und intermedialen Verfahren, das Film in Verbindung zu Hypertext respektive Gaming Situation setzt.

     

    Aarseth, Espen: ‚‚A Narrative Theory of Games‘‘. In: Foundations of Digital Games Conference Proceedings, 2012 (o. Jg.-Nr.), S. 129-133.
    Aarseth, Espen: Cybertext – Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997.
    Kühn, Anja: ‚‚Computerspiel und Immersion. Eckpunkte eines Verständnisrahmens‘‘. In: Jahrbuch immersiver Medien, 2011 (o. Jg.-Nr.), S. 50-62.
    McMahan, Alison: ‚‚Immersion, Engagement, and Presence: A Method for Analyzing 3-D Video Games‘‘. In: The Video Game Theory Reader. Hg. v. Mark J.P. Wolf und Bernard Perron. New York/London: Routledge 2003, S. 67-86.
    Simons, Jan: ‚‚Narrative, Games, and Theory‘‘. In: Game Studies 7.1, 2007.
    [Online abrufbar unter: http://gamestudies.org/07010701/articles/simons, 22.02.17]