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Zwischen Philologie und Theologie: Angelika Neuwirths Impulse für die Islamische Theologie

19. Juni 2024 ab 18:00 Uhr

Ehrengast mit einem Impulsvortrag: Prof. Dr. Dr. hc. mult. Angelika Neuwirth

Weitere Details zum Programm und Veranstaltungsort werden in Kürze veröffentlicht.

Angelika Neuwirth zählt zu den profiliertesten Geisteswissenschaftlerinnen Deutschlands, und sie ist gleichzeitig die mit Abstand renommierteste Koranforscherin weltweit. Ihre Arbeiten zum Koran, die einerseits der um die Philologie bemühten Bergsträßer-Schule als auch der »Wissenschaft des Judentums« verpflichtet ist, gebündelt in dem wohl am bekanntesten gewordenen Buch Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang (2010), aber auch der von ihr begründete chronologisch-literaturwissenschaftlicher Korankommentar (Der Koran, Bd.1: Frühmekkanische Suren [2011], Der Koran, Bd. 2/1: Frühmittelmekkanische Suren [2017] und [gemeinsam mit Dirk Hartwig] Der Koran, Bd. 2/2: Spätmittelmekkanische Suren [2021]) haben weltweit Beachtung gefunden. Vor allem aber ist sie für die Islamische Theologie in Deutschland eine wichtige Gesprächspartnerin.

Durch höchste Sprachkompetenz und einem Sinn für das Religiöse erschließt sie nicht nur den Koran, Kernstück des islamischen Glaubens, sondern gleichzeitig auch die Textwelten der monotheistischen Nachbartraditionen, Judentum und Christentum. Ihrer Lesung nach ist der Koran, nicht wie noch im 19. und 20. Jahrhundert üblich Plagiat jüdischer und christlicher Überlieferungen, sondern eine neue eigenwillige und herausfordernde Stimme im polyphonen Konzert spätantiker Debatten, in denen auch die theologischen Grundlagen der jüdischen und christlichen Religion gelegt worden sind. Die im Koran immer wieder aufscheinende Tendenz zur Abmilderung von Extremen bei den Nachbarreligionen bildet auch das Kernanliegen ab: Der Koran ist keine »neue Religion«, sondern eine zwischen die Parteien tretende, mildernde Partei, eine »vermittelnde Religion« (umma wasaṭ, Q 2:143). Durch das Sichtbarmachen der intellektuellen Größe des koranischen Diskurses, erweist sich Angelika Neuwirth nicht nur als innovative Denkerin, sondern auch als geschickte Brückenbauerin, die die „theologische Herausforderung“ des Koran wertschätzt, die aber gleichzeitig den Koran in eine gemeinsame Vergangenheit einsenkt. Angelika Neuwirth versteht den Koran diskursiv als das Resultat von Dialog, Debatte, Argumentation, Anziehung und Abstoßung. Sie erkennt, dass »Ost« und »West« auf einen gemeinsamen Entstehungsraum »Spätantike« zurückverweisen, eine Tatsache, die erst durch spätere historische Entwicklungen verunklärt worden ist: »Insofern der Koran aus der Auseinandersetzung mit spätantiken Diskurses hervorgegangen ist und sich eben jene vorgefundenen christlichen und jüdischen Traditionen eingeschrieben hat, die gemeinhin als europäisches Erbe reklamiert werden, ist es auch selbst Teil des historischen Vermächtnisses der Spätantike an Europa.« Für Angelika Neuwirth ist der Koran keineswegs ein »Erbe« der Muslime allein, sondern ein Text, der – intelligent gelesen – auch Juden und Christen neue Denkanstöße geben kann: Eine Neulektüre des Koran »kann und sollte dem europäischen, in der westlich-christlichen Tradition stehenden Leser eine neue Sicht auf seine eigene Theologie- und Geistesgeschichte eröffnen und ihn ermutigen, den Koran als Teil der Rezeptionsgeschichte seiner eigenen vertrauten Teste zu begreifen«.

Seit 2007 verantwortet Angelika Neuwirth das Forschungsprojekt »Corpus Coranicum. Textdokumentation und historisch-kritischer Kommentar zu Koram«, das als Langzeitprojekt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist. Ziel dieses »spannendsten Projekts der westlichen Islamwissenschaft« (Martin Spiewak, 2008) ist eine Textdokumentation und ein chronologisch-literaturwissenschaftlicher Kommentar zum Koran, der der Entwicklung der Gemeinde, verstanden als Interaktion zwischen dem Verkünder und seinen ersten Hörern, Rechnung trägt. Erstmals wird dabei auch systematisch den „Echos“ älterer Traditionen – biblische und nachbiblische – im Koran nachgegangen, in dem theologische, poetische und epigraphische Zeugnisse der Umweltkulturen in ihrer jeweiligen Originalsprache (z.B. Hebräisch, Jüdisch-Aramäisch, Griechisch, Syrisch-Aramäisch usw.) zugänglich gemacht werden. Aufbauend auf der historisch-kritischen Erschließung der Textgeschichte erstellt das Vorhaben einen chronologisch-literaturwissenschaftlichen Kommentar. Der Korankommentar verfolgt in erster Linie das Ziel, den Text des Korans »dynamisch«, d.h. der relativen chronologischen Nachzeichnung seiner Entwicklung verständlich zu machen.

Wenn man Angelika Neuwirth wirklich würdigen will, dann nicht alleine durch Worte, sondern und vor allem dadurch, dass man ihr Anliegen als Brückenbauerin ernst nimmt. Für die islamische Theologie bedeutet dies, sich Traditionen zu öffnen, denen man sich in der Regel gerade deshalb verschließt, weil man in ihnen das »Andere« wahrnimmt. Auch Muslime / Musliminnern sollten erkennen, dass nicht-islamische Traditionen nicht immer das ontologisch »Andere« repräsentieren, sondern gerade den eigenen theologischen Standpunkt verbürgen.

Angelika Neuwirths Arbeit ist ein Ruf zu einer Haltung des »Sich-Öffnens« und der »Anerkennung der Positionen des Anderen«, zwei Positionen, die es ermöglichen, sich neu zu (er)finden.   

Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster – Forschungsstelle »Vertikale und Horizontale Kommunikation: Interdisziplinäre Zugänge zum Koran«