DITIB Nord distanziert sich von den Vorwürfen gegen Prof. Khorchide    

In einem an Prof. Dr. Mouhanad Khorchide gerichteten öffentlichen Schreiben distanzierte sich  Dr. Zekeriya Altuğ, Vorsitzender DITIB Nord, von den Vorwürfen gegen Prof. Khorchide, dass sein Verhalten unislamisch sei. Er distanzierte sich auch vor dem Aufruf, Prof. Khorchide solle Reue ablegen und betont die guten islamischen Absichten von Prof. Khorchide. In der Erwiderung von Prof. Khorchide, die nachfolgend zu lesen ist, bedankt sich Prof. Khorchide bei Dr. Altuğ und DITIB Nord für das entgegengebrachte Vertrauen und betont die konstruktive Zusammenarbeit.    

Sehr geehrter Herr Dr. Altuğ,

ich danke Ihnen für Ihre klaren Worte! Durch Ihre öffentliche Distanzierung vom Aufruf zur Reue und von den Vorwürfen, meine Positionen wären unislamisch, bekräftigen Sie einmal mehr das aufrichtige Interesse von DITIB an einem sachlichen Diskurs jenseits von Polemik und persönlichen Angriffen. Sie zeigen auch, dass DITIB den Prozess der Etablierung der islamischen Theologie in Deutschland vorbildlich und gewissenhaft begleitet. Das Vertrauensverhältnis zwischen DITIB und dem Zentrum für Islamische Theologie in Münster ist vorbildlich und sehr fruchtbar und wir freuen uns auf die weitere konstruktive Zusammenarbeit, die DITIB immer bekräftigt und unterstützt hat.    

Leider werden die muslimischen Verbände undifferenziert in den Medien als konservativ abgestempelt. Abgesehen davon, dass die Kategorie „konservativ“ sehr irreführend ist und ich sie deshalb in einer theologischen Arbeit nicht verwende, sind die Verbände in Deutschland sehr vielfältig. Sogar innerhalb dieser Verbände ist die Vielfalt an Meinungen und Positionen sichtbar. Vielleicht sollten die Verbände dies stärker in der Öffentlichkeit kommunizieren. Ihre theologischen Ausführungen zeigen, dass Sie ein weltoffenes Islambild vertreten, was sich auch mit meinem Islamverständnis deckt. Ihre Betonung der Freiheit des Menschen, seinen ontologischen Zustand, sein Leben auf Gott hin auszurichten (Fitra), die Erschaffung des Menschen aus der bedingungslosen Liebe Gottes, die Gott-Mensch-Beziehung als solche, die auf Vertrauen und Verantwortung basiert, die Ablehnung der Reduzierung des Islam auf bloße Werkgerechtigkeit, die Ablehnung modernistischer Ansätze, die den Islam relativieren bzw. dekonstruieren wollen, die Ablehnung exklusivistischer Haltung, wonach der Islam der einzige Weg zu Gott wäre, die Ablehnung, den Islam als juristisches Regelwerk oder als unverbindliche „Wohlfühl-Esoterik“ zu sehen, die sechs Glaubenssätze und die fünf Säulen des Islam als für den Islam konstituierend anzusehen usw. sind theologische Positionen, die ich mit Ihnen völlig teile und die ich in meinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ genauso beschreibe.        

Ich erlaube mir auf einige kritische Anmerkungen Ihrerseits einzugehen, um mich gegenüber dem Vorwurf der Relativierung des Islam zu wehren:    

Sie schreiben: „Gleichzeitig vermisse ich bei Ihren Ausführungen die Differenzierung der allumfassenden Barmherzigkeit (Rahman) und der spezifischen Barmherzigkeit (Rahim).“ Über diesen Satz habe ich mich sehr gewundert, denn auf Seite 32 meines Buchs schreibe ich: „Der Koran verwendet zwei Begriffe, um die Barmherzigkeit Gottes auszudrücken: ar-Rahman (…) und ar-Rahim (…) Es besteht ein wichtiger qualitativer Unterschied zwischen beiden Begriffen:…“ und gehe dann auf den Unterschied ausführlich ein. Und so kommt es klarerweise zu Missverständnissen, wenn der Autor kritisiert wird, ohne vorher das Buch aufmerksam gelesen zu haben.     

Sie schreiben: „Barmherzigkeit ist ein wesentliches Attribut Gottes, aber es ist nicht das Einzige“, und sehen dies als Kritikpunkt. Dabei teile ich diese koranische Feststellung doch  mit Ihnen und mir ist kein einziger muslimischer Theologe bekannt, der etwas anderes behauptet hätte. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis des Buches verrät schon, dass dieses Thema ausführlich behandelt wird (Kap. 2.3), siehe auch Seite 30 und 36.     

Sie schreiben über die Hinwendung zu Gott: „Sie ist Grundvoraussetzung, um Muslim zu sein. Sie kann nicht ersetzt werden durch eine bloße innere Haltung zur Liebe und Barmherzigkeit.“ Dies suggeriert, ich würde etwas anderes behaupten. Dabei schreibe ich unmissverständlich auf S. 125: „Der Koran nennt diese Hinwendung zu Gott, die sich in der Annahme seiner Liebe und Barmherzigkeit verwirklicht und im Handeln gegenüber den Mitmenschen und Gottes Schöpfung zum Ausdruck kommt, »Islam«: »Die Religion bei Gott ist der Islam.« (Koran 3:19)“ Wenn ich also von Liebe und Barmherzigkeit spreche, dann keineswegs als bloße innere Haltung, und gerade dieser Aspekt wiederholt sich mehrfach im Buch. Auch auf S. 85 steht: „Das ist der Grund, warum der Koran nicht zwischen Glaube und Handeln trennt und an insgesamt 49 Stellen vom Glauben und aufrichtigen Handeln als Bedingung für die ewige Glückseligkeit spricht.“  Auf Seite 210 steht: „Die šaha¯da auszusprechen ist ein äußeres Kennzeichen des Glaubens, daher gilt sie in der Praxis als Kriterium des Glaubens. Nur wer sich explizit gegen einen oder mehrere Glaubensgrundsätze bekennt, gilt nicht als Muslim, auch wenn er sich zur šaha¯da bekennt.“ Und davor auf Seite 209 zitiere ich die Glaubensgrundsätze: »…Damit sind die Glaubensgrundlagen gemeint (im sunnitischen Islam als die sechs Glaubensgrundsätze bekannt: Glaube an Gott, Engel, Propheten, die heiligen Bücher, die Wiederauferstehung am Tage des Gerichts und an die Vorherbestimmung), auf denen der Islam als Glaube beruht“. Auf Seite 88 und 89 schreibe ich: „Seine Identität bekommt dieser Islam durch spezifische Elemente, die nur für Muslime gelten, wie das fünfmalige Pflichtgebet am Tag in Richtung Mekka, das Fasten im Monat Ramadan, die Pilgerfahrt nach Mekka usw. Man kann also sagen, dass die fünf Säulen des Islam (…) die identitätsstiftenden Merkmale für den Islam…“    

Sie schreiben, dass Sie nicht nachvollziehen können, „wie Sie zu dem Ergebnis kommen können, die schöpfungsbedingte Möglichkeit zur Gottergebenheit reiche in ihrer durch liebevolles und barmherziges Handeln dokumentierten Manifestation aus, um Muslim zu sein, auch wenn der Mensch nicht an Gott glaubt.“ Der Koran in Sure 30, Vers 30 beschreibt die Religion bei Gott als „Fitra“, ob die Fitra  mit Ihrer Übersetzung „schöpfungsbedingte Möglichkeit zur Gottergebenheit“ zu beschreiben ist, ist eine Debatte für sich, aber sehen Sie zum Beispiel den Tafsir von Ibn Kathir an, was die Gelehrten zu diesem Vers alles gesagt haben, vor allem im Zusammenhang mit dem Hadith, wonach jeder Mensch entsprechend der Fitra geboren wird und dann womöglich zu einer anderen Religion wegkonvertiert. Damit will ich aber keineswegs sagen, dass jeder, der nicht an Gott glaubt, aber liebevoll handelt, als Muslim zu bezeichnen ist. Dazu sehen Sie bitte meine Klarstellung zur Debatte.    

Sie schreiben: „Als Muslime müssen wir vielmehr immer wieder und auch deutlich herausstellen, dass die Liebe Gottes eben nicht bedingungslos ist – auch hier unterscheiden wir uns ganz wesentlich“. Wieso unterscheiden wir uns hier, wo ich selbst im Buch auf S. 84 aus dem Koran zitiere: „…Denn Gott liebt nicht „diejenigen, die Unheil stiften“, „die Ungerechten“, „die Hochmütigen“, „die Unaufrichtigen“, „die Verschwender““ (dabei verweise ich in den Fußnoten auf die entsprechenden Stellen im Koran)? Ich unterstreiche im Buch jedoch, dass Gottes Barmherzigkeit bedingungslos ist. Und dies ist koranisch mehrfach belegt.    

Den Vorwurf „Sie bieten jungen Muslimen und angehenden Religionslehrern eine theologische Erklärung an, die geeignet  sein kann, den Blick für die Rechtleitung des Islam zu verstellen“ weise ich mit aller Entschiedenheit zurück. Sie betonen selbst in Ihrem Schreiben, dass Sie nichts Unislamisches an meinem Verhalten sehen, nun unterstellen Sie mir mögliche Verstellung des Islam. Ich habe Ihnen oben gezeigt, dass ich fast alle Ihrer theologischen Überlegungen teile. Viele Ihrer kritischen Anmerkungen hätten sich erübrigt, hätten Sie sich mit dem Buch ausführlich auseinandergesetzt und nicht nur mit den Sätzen, die Sie kritisieren, und die ich übrigens genauso kritisieren würde, würde ich sie aus ihrem Zusammenhang gerissen lesen, so wie es leider einige Muslime getan haben. Selbstverständlich basiert die Lehre, die ich persönlich vertrete, aber auch meine Kollegen und Mitarbeiter in Münster, auf den sechs Glaubensgrundsätzen und den fünf Säulen des Islam. Das sind die konstituierenden Elemente des Islam, ohne die der Islam kein Islam ist.   Damit sich ein islamischer theologischer Diskurs etabliert, brauchen wir sachliche Debatten. Sachliche Debatten müssen wissenschaftlich geführt werden. Ein Grundsatz in der Wissenschaft lautet, dass ein Autor so wiedergegeben werden muss, wie er sich selbst verstanden wissen will. Einen Autor zu verstehen, bedeutet, sich ausführlich mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen und nicht mit einigen wenigen Seiten seines Buches. Und damit der wissenschaftlich theologische Diskurs blüht und vorankommt, darf nicht jede andere Meinung als „Verstellung“ des Glaubens gedeutet werden. Die größte Inquisition in der islamischen Geschichte fand wegen der Frage nach der Erschaffenheit des Korans statt. Statt die andere Meinung zu respektieren und sie als Bereicherung des Glaubens zu sehen, wurde sie eben als „Verstellung“ des Glaubens gesehen. Irgendwann ging dies soweit, dass einige unserer Gelehrten entweder in Gefängnissen gefoltert wurden oder mit ihrem Leben für ihre Meinungen zahlen mussten. Wir müssen aus unseren Fehlern in der Geschichte lernen. Unsere Gelehrten hatten die wunderschöne Tradition gehabt, am Ende eines Aufsatzes oder eines Vortrages zu sagen: „Und Gott weiß es besser“. Heute haben wir leider die Mentalität zu denken: „Ich weiß es besser“. Damit meine ich keine bestimmte Person, sondern alle Akteure, die ernsthaft an der islamischen Theologie in Deutschland beteiligt sind und sein wollen. Wir brauchen Debatte, wir brauchen Meinungen und Gegenmeinungen, wir brauchen Kontroversen. Denn nur so kann sich die islamische Theologie als Wissenschaft behaupten. Was wir sicher nicht brauchen, ist Inquisition, in irgendeiner Art. Wir brauchen keine Verurteilung einer jeder neuen Idee als Verstellung des Glaubens. Die unverrückbaren Grundsätze des Islam sind die sechs Glaubenssätze und die fünf Säulen, es gibt klare Aussagen, aber auch viel Raum für Debatte und Bereicherung. Wer für sich beansprucht, der wahre Muslim zu sein, weil er sich als Reformer, als Modernist, sieht, trägt ebenso zur Unterdrückung der islamischen Vielfalt bei, wie derjenige, der behauptet, konservativ, im Sinne der wahre Muslim, zu sein. Die Betonung unseres Propheten, dass auch Lohn für denjenigen gibt, der sich bemüht, theologische Positionen auszuarbeiten, auch wenn er sich dabei irrt, unterstreicht, dass die Auseinandersetzung selbst, der Diskurs, das Ziel ist.       

Unterschiede zeugen von der innerislamischen Vielfalt, die den Islam immer bereichert hat. Wir müssen uns nicht auf jedes Detail einigen, denn der Islam war in seiner Tradition immer vielfältig und flexibel ohne an Grundsätze zu rütteln und das ist das Schöne am Islam. Die Ablehnung der Vielfalt im Islam ist übrigens ein Verstoß gegen den koranischen Grundsatz, dass Vielfalt von Gott gewollt ist.     

Ihr Angebot, lieber Herr Dr. Altuğ, einen theologisch sachlichen Diskurs in Form von gemeinsamen öffentlichen Veranstaltungen fortzuführen, nehme ich sehr gerne an und werde mich demnächst an Sie wenden, um dies zu konkretisieren.       

Herzliche Grüße    
Ihr  Mouhanad Khorchide