Entkörperlichung – Zum Verhältnis von Geist und Körper in den Weltreligionen
Themenfeld der Ausstellung „Körper. Kult. Religion.“

Körper und Seele bzw. Geist werden als Einheit verstanden, können jedoch auch getrennt werden. Die Seele bzw. der Geist kann den Körper verlassen, spätestens beim Tod. Doch auch zu Lebzeiten kann sich der Mensch durch religiöse Praktiken entkörperlichen und zu einem anderen Bewusstsein kommen. Eine Form der Entkörperlichung erlebt jeder Mensch: Das Träumen. Er erlebt also eine Differenz zwischen seiner körperlichen Existenz und seinem phänomenalen Bewusstsein.
Praktiken wie Askese (Nahrungsverzicht), Meditation, Ekstase oder auch die Nutzung von Rauschmitteln können nicht nur dazu beitragen, die Bedürfnisse des Körpers auf ein Minimum zu reduzieren, um sich voll und ganz auf den Geist zu konzentrieren, sondern führen häufig auch zu einem tranceähnlichen Zustand. Dieser Zustand wird häufig genutzt, um mit Gottheiten oder übermenschlichen Wesen in Kontakt zu treten. Der menschliche Körper wird in vielen Fällen als Hindernis und Einschränkung für die Seele angesehen. Daher können die Rituale auch in Extremformen bis zum Tod führen (z.B. bei komplettem Nahrungsverzicht im indischen Jainismus).
Der Tod wird häufig als Befreiung der Seele angesehen. In vielen Kulturen und Religionen ist der Glaube an ein Weiterleben der Seele außerhalb des menschlichen Körpers stark, weshalb Grabbeigaben häufig dazu dienen, der Seele nach dem Tod ein möglichst komfortables (Übergangs-)Leben zu ermöglichen. Nach dem Tode führte man im traditionellen China die sog. Zeremonie des Zurückrufens der Seele durch, erst danach begannen die eigentlichen Bestattungszeremonien. Während ein Teil der Seele beim Körper und damit im Grab verblieb, stellte man sich vor, dass ein anderer Teil die Reise in eine jenseitige Welt antrete.
Ausgewählte Ausstellungsstücke
Die folgenden Texte basieren auf dem Katalog zur Ausstellung:
Erhardt, S.; Graefe, J.; Lichtenberger, A.; Lohwasser, A.; Nieswandt, H.-H.; Strutwolf, H. (Hgg.): Körper. Kult. Religion. Perspektiven von der Antike bis zur Gegenwart. Münster 2024.
Bemalte Holzfigur eines altägyptischen Ba-Vogels mit Menschenkopf (Kat.-Nr. 175)
© Gustav-Lübcke-Museum Der ägyptische Ba-Vogel ist die Visualisierung eines eigentlich unsichtbaren und körperlosen Konzepts – der sogenannten Ba-Seele. In der Vorstellung der Alten Ägypter war diese ein Teil des Körpers und der Persönlichkeit eines jeden Menschen. Auch nach dem Tod konnte sich die Ba-Seele frei bewegen und sogar in den toten Körper zurückkehren.
Dargestellt wurde der Ba als ein Vogel mit Menschenkopf. Die hier präsentierte Stauette eines solchen Ba-Vogels ist aus Holz gearbeitet und mit bunten Farben bemalt. Es handelt sich um eine Aufsatzfigur, die ursprünglich vermutlich auf einem Sarg angebracht war. (exc/fbu)
© President and Fellows of Harvard College Ensemble von Mevlevi-Derwischen (Kat.-Nr. 190)
Die zeitgenössische Gips-Figurengruppe aus der Türkei zeigt im Ausstellungsbereich „Entkörperlichung“ Mitglieder des islamischen Mevlevi-Ordens, der im 14. Jh. in Anatolien entstand. Sie vollführen ein sema, eine mystische Zeremonie, die Musik und Tanz verbindet. Einer von ihnen spielt die Rohrflöte ney und einer die Doppeltrommel kudüm. Der Mann ohne Instrument ist der Zeremonienmeister, der das Ritual leitet, möglicherweise der Ordensobere (pir). Der vierte Mann tanzt nach der Art, die die Mevlevi unter der Bezeichnung tanzende Derwische berühmt (UNESCO Immaterielles Kulturerbe) und zu einer bekannten touristischen Attraktion gemacht hat. Eine Hand weist nach oben, um den Segen Gottes zu empfangen, die andere nach unten, um ihn an die Welt weiterzugeben. Die Tanzenden rotieren beim sema um ihre eigene Achse und umkreisen zugleich das Zentrum des Tanzraumes wie Planeten die Sonne. (exc/pie)
Pietà (Kat.-Nr. 188)
© Yannick Oberhaus Eine Pietà („domina nostra de pietate“ – „unsere Herrin vom Mitleid“) ist eine Darstellung Marias als „Mater Dolorosa“, da sie sitzend und weinend den Leichnam Jesu im Schoß hält. Diese Szene ist nicht in den Evangelien beschrieben, wird aber zwischen die Geschehnisse der Kreuzabnahme und der Grablegung datiert. Früher wurden Pietà oder auch Vesperbilder in den Kontext von privaten Andachten gestellt, die jüngere Forschung schlägt auch eine Verwendung als Kultbild auf dem Altar vor. Das plastisch ausgearbeitete Motiv taucht seit dem 14. Jh. auf, es entstand im deutschsprachigen Raum und verbreitete sich schnell im französischen Gebiet. Eine der bekanntesten Darstellungen einer Pietà stammt von Michelangelo aus dem Jahr 1499 im Petersdom. (exc/tst)
Altägyptische Mumienbinde (Kat.-Nr. 176)
© KHM-Museumsverband Der Schutz verstorbener Personen in ihrer jenseitigen Gestalt sowie der Schutz ihrer toten Körper spielt in der altägyptischen Vorstellung eine wichtige Rolle. Um diesen Schutz zu garantieren, werden verschiedene Maßnahmen, wie etwa schützende Sprüche, angewandt, die die Bewegungsfreiheit und Handlungsfähigkeit der Toten im Jenseits sichern sollen. Denn auch im Jenseits müssen die Verstorbenen mit Nahrung, Kleidung und Atemluft versorgt sein und sich gegen zahlreiche Gefahren der Unterwelt, wie etwa Krokodile und Schlangen, verteidigen.
Die hier vorgestellte Mumienbinde ist mit einem schützenden Spruch beschrieben. Der Text entstammt dem sogenannten Totenbuch – einer Spruchsammlung, die etwa auf Grab- und Tempelwänden oder Grabbeigaben angebracht wurden. Die bildliche Darstellung der Wiener Mumienbinde zeigt die Verstorbene in ihrer jenseitigen Gestalt, wie sie vor der Barke des ägyptischen Sonnengottes Re steht und seinen Schutz erbittet. (exc/tst)
Illustration aus dem Khamsa (Quintett) von Nizami (Kat.-Nr. 191)
© Brooklyn Museum Collection, X635.1 In dieser Illustration aus dem 17. Jahrhundert ist eines der berühmtesten Liebespaare der arabischen und persischen Literatur, des Dichters Nizami (1141–1209), dargestellt: Layla und Majnun, die sich hier – kurz vor dem Ende der Geschichte – ein letztes Mal (unerlaubterweise) treffen. Der Mann ist vor Liebe, die ihn hin zur körperlichen Entsagung trieb, bereits so ausgemergelt, dass er als „verrückt“ (majnun) gilt. Die eigentlich profane Erzählung über Layla und Majnun wurde schon bald zum Symbol für die menschliche Beziehung zu Gott. Die Liebe von Majnun (dem Verrückten) symbolisiert den Selbstverzicht und die Selbstaufopferung der islamischen Mystiker auf ihrem Weg zur Vereinigung mit dem Göttlichen. Die Mystiker entwickelten verschiedene asketische Körperpraktiken, um ihrem Ziel näher zu kommen – bis hin zur Auflösung der Körperlichkeit, dem Entwerden (fanāʾ). (exc/pie)