„Es liegt an uns, Goethe weiterhin zu uns sprechen zu lassen“

Er gilt als bedeutendster Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte: Am 28. August jährte sich der Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe zum 275. Mal. Viele Menschen sehen ihn noch heute als einflussreichen Dichter an, andere wiederum halten seine Texte für veraltet und wenig brauchbar. Prof. Dr. Kai Sina vom Germanistischen Institut der Universität Münster erklärt im Interview mit Linus Peikenkamp, warum Goethe auch heute noch modern ist – und welche Rolle er in den USA spielte.
Goethe wird 275 Jahre alt – ist das ein Grund zum Feiern?
Selbstverständlich. Es ist kaum absehbar, was die Nachwelt ihm verdankt und was sich in seinen Werken immer noch entdecken lässt. Man kann bei ihm mehr darüber lernen, was es heißt, ein Bewohner der modernen Welt zu sein, als bei manch einem Gegenwartsautor.
Inwiefern?
Goethe stand inmitten einer äußerst dynamischen Epoche, die von tiefgreifenden Umbrüchen geprägt war. In seiner Lebenszeit änderte sich fast alles: die Wahrnehmung der Zeit, die Vorstellung von Individualität, das Nachdenken über die Liebe, das Verhältnis von Vernunft und Glaube. Er registrierte all dies mit großer Sensibilität – und zwar interessiert, offen, ohne Vorurteile, und spiegelte es in seinen Werken wider. Was die Moderne ausmacht, und zwar in der heißen Phase ihrer Entstehung, lässt sich bei Goethe besonders gut beobachten. Das ist bis heute aufregend.
Was unterschied Goethe von anderen Schriftstellern seinerzeit?
Goethe war gedanklich und künstlerisch sein Leben lang hochbeweglich. Daher kann man bei der Lektüre seiner Werke niemals absehen, wohin sie einen gedanklich und emotional führen. Gerade in seinem Spätwerk erfand er sich noch einmal neu. Er eignete sich die bahnbrechenden Erkenntnisse der Wissenschaften an, erkundete weltliterarische Horizonte und probierte sich in experimentellen Publikationsformen aus. Man kann sagen, er verjüngte sich in diesen Jahren, wurde geradezu spielfreudig. In dieser Form und Intensität ist das sicher einzigartig.

Bis heute sind die Werke Goethes in vielen Lehrplänen wiederzufinden, allen voran der Klassiker ‚Faust‘ – zurecht?
Es kommt darauf an, welches Bildungsziel man verfolgt. Wenn es nur darum geht, dem literarischen Kanon pflichtschuldig Genüge zu tun, kann man es auch sein lassen. So wird man niemanden für die Literatur, geschweige denn für Goethe, begeistern. Entscheidend ist es, sich auf die zahlreichen Provokationen einzulassen, die seine Werke bereithalten.
Zum Beispiel?
Etwa die Erfindung der romantischen Liebe und die Erkundung ihrer toxischen Abgründe in den ‚Leiden des jungen Werthers‘, die von Begeisterung und Verunsicherung begleitete Freisetzung des Individuums in Gedichten wie ‚Prometheus‘ oder die scheiternde Weltbeherrschung durch die Wissenschaft im ‚Faust‘. So weit uns Goethe historisch entrückt erscheinen mag und es in mancherlei Hinsicht auch ist: Seine Themen und Fragen sind heute genauso dringlich und existenziell wie in der Epoche um 1800.
Teile der jungen Leserschaft kritisieren, Goethes Sprachgebrauch sei altertümlich, schwer zugänglich und dadurch nicht mehr zeitgemäß. Ist die Kritik berechtigt?
Meine Studierenden erlebe ich eher aufgeschlossen und neugierig. Zumal die rein sprachlichen Hürden im Falle Goethes gar nicht so hoch hängen. Man muss sich vielleicht ein wenig einlesen. Aber was würde es umgekehrt bedeuten, einem Autor wie Goethe allein deshalb nicht mehr zuhören zu wollen, weil er nicht genauso spricht, wie man es heute gewohnt ist? Damit würden wir den eigenen Horizont auf das beschränken, was uns ohnehin schon vertraut ist – wie langweilig! Das wäre, als würde man aus lauter Scheu vor der Fremde aufs Reisen verzichten.
Zurück zur Bedeutung des Schriftstellers: Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die transatlantische Literaturforschung, insbesondere hinsichtlich der USA. Welche Bedeutung hatte Goethe dort?
Bis weit ins 20. Jahrhundert galt Goethe als ein Nationalschriftsteller der USA. Die amerikanische Schriftstellerin Margaret Fuller und der Philosoph Ralph Waldo Emerson erkannten in ihm die ‚Seele des Jahrhunderts‘, die sich die Wirklichkeit in ihrer Vielstimmigkeit und Heterogenität anzueignen vermochte. Dies wiederum ließ sich gut mit dem Motto des jungen Amerika zusammenbringen: E pluribus unum – aus vielen eines. Goethe beschäftigte sich seinerseits leidenschaftlich und intensiv mit den Vereinigten Staaten. Er erwog sogar, in jungen Jahren dorthin auszuwandern …
Warum gerade in die USA?
Ihn faszinierte insbesondere das in der amerikanischen Verfassung ausformulierte Gesellschaftsideal: das Gemeinwesen als System der Einzelnen, Verschiedenen und Gleichen. Besonders aussagekräftig ist ein Stück aus den ‚Maximen und Reflexionen‘ über das ferne ‚Neu York‘. Goethe beschreibt darin, dass die Vielfalt an Religionen in der sich rasch entwickelnden Stadt am Hudson River die gesellschaftliche Einheit überraschenderweise nicht gefährdet, sondern einen Zustand des sozialen Miteinanders realisiert. New York erscheint bei Goethe als ein stadtgewordenes Kollektivwesen, das über den amerikanischen Kontext hinaus als Vorbild auch für andere Bereiche des sozialen Lebens dienen könnte und sollte.
Wagen Sie doch bitte abschließend einen Blick in die Glaskugel: Werden Goethes Werke in 275 Jahren ebenso relevant sein wie heute?
Die Frage betrifft meines Erachtens weniger Goethes Werke als ihre Vermittlung, gerade an Schulen und Universitäten. Es liegt an uns, an den Lehrenden und Dozierenden, Goethe weiterhin zu uns sprechen zu lassen, in seinem Wissen um all die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, Schönheiten und Abgründe des modernen Lebens. Sollte die Germanistik ausgerechnet an diesem Punkt versagen – man darf nicht vergessen, dass die neuere deutsche Literaturwissenschaft aus der Goethe-Forschung hervorgegangen ist –, wäre das ein unermesslicher Verlust.