
Vom Wert der Demokratie
Sammlung des Archäologischen Museums der Universität Münster, Inv. M 795 (ex Slg. Theobald Bieder)
AR-Triobol/Hemidrachme, 2,03 g / 12 Uhr / 12,0 mm
Vs. Kopf der Athena n. r. mit einem attischen Helm (daran drei Olivenblätter) und Ohrschmuck.
Rs. [Α]-Θ-Ε. Eule steht frontal, zu beiden Seiten von Olivenzweigen flankiert.
Lit.: J. H. Kroll, The Greek Coins, Agora XXVI (1993) 20 Nr. 19d; SNG München Bd. XIV Taf. 3 Nr. 109; O. Hoover, Handbook of Greek Coinage 4 (2014) 485 Nr. 1642.
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Vor und nach Wahlen erhält das gesellschaftliche Phänomen „Demokratie“ immer wieder neue öffentliche und mediale Aufmerksamkeit und herrschende oder sich ändernde politischen Strukturen und Prozesse werden diskutiert und hinterfragt. Manche formal-technischen Verfahren und Ausnahmeregeln muss sich die wahlberechtige Bürgerschaft neu in Erinnerung rufen: So irritieren beispielsweise Überhang- und Ausgleichsmandate, damit einhergehend steht die Frage der Repräsentativität im Raum: Wer und wie viele können und sollen stellvertretend für das Volk agieren und entscheiden?
Auch erinnert man sich in diesen Zeiten gelegentlich, dass Demokratie (das ist „die Herrschaft des Volkes“, von griechisch „demos“ = Volk und „kratein“ = herrschen) keine neuzeitliche Erfindung ist, sondern dass die heutigen Demokratien auf prägende Vorbilder in der Antike zurückgehen. Als Paradebeispiel gilt die athenische Demokratie, für die unsere „Münze des Monats Oktober“ aus der Sammlung des Archäologischen Museums der Universität Münster ein anschauliches Zeugnis darstellt:
Es handelt sich um eine athenische Silbermünze im Wert von drei Obolen, das ist gleichwertig mit einer halben Drachme; beide Bezeichnungen, Triobol (ein „dreifacher Obol“) und Hemidrachme (eine „halbe Drachme“) sind für dieses Nominal üblich. Auf der Vorderseite sehen wir auf dem eng bemessenen Schrötling den Kopf der Athena mit bekränztem Helm, auf der Rückseite eine frontal stehende Eule, die von zwei seitlichen Olivenzweigen gerahmt ist. Die Legende [Α]/Θ-Ε, das abgekürzte Ethnikon „Athe(naion)“ = „(Münze) der Athener“, zeigt an, dass die athenische Bürgerschaft die Münze ausgegeben hat und ihren Wert garantiert. Die Motivkombination von „Athena und Eule“, von namengebender Hauptgottheit der Stadt und ihrem Attributtier, ist die ideale Repräsentationsform für Athen und wurde über mehrere Jahrhunderte auf den städtischen Münzen für verschiedene Nominale (Wertstufen) verwendet, gelegentlich leicht variiert, wie hier. Denn meist sind beide, Göttin und Eule, nach rechts im Profil ausgerichtet; nur auf besonders hohen Geldwerten (den selten ausgemünzten Dekadrachmen) oder wie hier auf den Hemidrachmen/Triobolen steht die Eule frontal. Ungeachtet einer möglichen tiefgreifenden kulturgeschichtlichen Bedeutung der Frontalität dient diese formale Unterscheidung sicherlich einem: der schnellen und einfachen Unterscheid- oder Erkennbarkeit des Nominals.
Was die Kaufkraft dieser Münze anlangt, so handelt es sich um silbernes Kleingeld, mit dem sich Ende des 5. oder Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. der Tagesbedarf einer Kleinfamilie bestreiten ließ. Daher (damit sind wir zurück beim Thema „Demokratie“) waren drei Obolen ab den 390er Jahren die Summe, die ein athenischer Bürger für ihre Teilnahme an einer Sitzung der Volksversammlung (griech. Ekklesia) ausgezahlt bekam. Der Betrag, das „Ekklesiastikon“, diente als Entschädigung für den Verdienstausfall, den Bürger in Kauf nehmen mussten, wenn sie ihre eigentliche Arbeit als Handwerker, Landwirt, Lohnarbeiter (…) liegenließen, um stattdessen in der Volksversammlung anwesend zu sein.
Bereits die Athener trieb die Frage nach der Repräsentativität um, wie viele Bürger notwendig waren, um wirklich „im Namen des Volkes“ Gesetze absegnen und andere Entscheidungen treffen zu können. Wir lesen von 6.000 Vollbürgern, die notwendig waren, um für die Gesamtheit sprechen zu können. Nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) waren die Teilnehmerzahlen an der Volksversammlung jedoch zurückgegangen und das erforderliche Quorum wurde immer öfter nicht erreicht; daher versuchte man auch die unteren Zensusklassen zur Teilnahme zu bewegen, die seit der Mitte des 5. Jahrhunderts zumindest theoretisch die Möglichkeit der Partizipation hatten. Praktisch war das eher die Ausnahme, denn die Aufgabe, „Politik zu betreiben“ war zeitaufwändig und die armen oder geringverdienenden Bürger konnten sich keinen Verdienstausfall leisten. Durch die Einführung einer „Besoldung“ wurde ein finanzieller Anreiz geschaffen, wie Aristoteles (384-322 v. Chr.), der Philosoph und langjährige Leiter der athenischen Akademie in seiner Schrift „Staat der Athener“ überliefert:
„Zuerst verweigerten sie, für den Besuch der Volksversammlung ein Tagegeld auszuzahlen; als aber die Leute nicht kamen und die Prytanen Kunstgriffe anwenden mussten, um die für die Abstimmung erforderlichen Präsenzzahlen zu erreichen, da ließ Agyrrhios zuerst einen Obolos geben, dann Herakleides von Klazomenai (…) zwei Obolen, und endlich wiederum Agyrhhios drei.“ (Kap. 41,3 Übers. nach O. Gigon)
Diese Zahlen nennt er aus historischer Perspektive, sie sind in die Zeit 403/402 bis ca. 393/392 v. Chr. zu datieren; später, im Laufe des 4. Jahrhunderts waren die Kosten weiter angestiegen, wie er dann aus zeitgenössischer Sicht berichtet:
„Die Besoldungen sind die Folgenden: das Volk für die gewöhnlichen Volksversammlungen eine Drachme (= 6 Obolen), bei den Hauptversammlungen neun Obolen“. (Kap. 62,2 Übers. nach O. Gigon)
Wieviel Geld sich die Athener diesen Aspekt ihrer Demokratie im 4. Jahrhundert kosten ließen, ist nicht einfach zu beurteilen und abhängig von 1) der Anzahl der Sitzungen, 2) den jeweils teilnehmenden Bürgern und 3) der Höhe der Aufwandsentschädigung, die sich, wie wir gesehen haben, im Laufe des Jahrhunderts noch deutlich erhöhte. Das Jahr war unterteilt in zehn Amtsperioden, jeweils unter dem Vorsitz einer anderen Phyle, vorgesehen waren je vier Volksversammlungen, von denen eine als „Hauptversammlung“ galt. Pro Jahr wurden also zehn Hauptsitzungen und dreißig kleinere abgehalten. Für bestimmte Abstimmungen (evtl. für alle Sitzungen?) war die Anwesenheit von mindestens 6.000 Teilnehmern notwendig. Berechnen wir das volle Quorum für die Hauptversammlungen in den 390er Jahren, kommen wir nur für diese auf 60.000 ausgezahlte Triobolen (das sind 180.000 Obolen = 30.000 Drachmen = 7.500 Tetradrachmen), also 5 Talente d.h. knapp 130 kg Silber pro Jahr. Dazu kamen die Kosten für die eventuell kleineren Nebensitzungen.
Die athenische Volksversammlung des 5./4. Jahrhunderts v. Chr. war keine Institution für Berufspolitiker, sondern eine Versammlung, die jedem Bürger offenstand und in der er mit seiner Stimme Entscheidungen treffen konnte und sollte. Was sich nach einem basisdemokratischen Ideal anhört, ist mit antiken Augen zu betrachten: wahlberechtigt waren Männer mit athenischem Bürgerrecht, keine Frauen, keine Sklaven, keine Metöken. Auch Aristoteles, der sich eingehend mit der politischen Verfassung Athens beschäftigt hat, blickte als Metöke „von außen“ auf die Verhältnisse und hat selbst nicht direkt an den demokratischen Strukturen in Athen partizipiert, denn er stammte aus Makedonien und hatte kein athenisches Bürgerrecht.
Es ist zu vermuten, dass die tägliche Entlohnung eines Bürgers, der an der Volksversammlung im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. teilgenommen hatte, tatsächlich in Form eines Triobols erfolgte. Das bedeutet, es ist nicht unwahrscheinlich, dass unsere Münze des Monats Oktober geprägt und ausgegeben wurde, um in ihrer Erstfunktion einen athenischen Bürger für seinen Einsatz um die Demokratie zu entlohnen.
(Katharina Martin)
Weiterführende Literatur:
- F. Haymann, Geld für’s Wählen – das ist Demokratie. Die attische Demokratie als politisches Paradigma; in: F. Haymann – S. Kötz – W. Müseler (Hrsg.), Runde Geschichte. Europa in 99 Münz-Episoden (Oppenheim 2020) S. 32-34
- J. Malitz, Misthos. Die Besoldung des Bürgers in der athenischen Demokratie (Eichstätter Antrittsvorlesung vom 9. Dezember 1991), online abrufbar unter http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/591/1/Malitz_Misthos_1991.pdf (26.9.2021)
- S. Podes, Bezahlung für politische Partizipation im klassischen Athen: die Diäten als sozialstaatliche Institution?, Ancient Society 26, 1995, S. 5-25 (er geht von einem Quorum von 6.000 Teilnehmern für alle Sitzungen der Volksversammlung aus und berechnet 20 Talente pro Jahr an Kosten für das Ekklesiastikon um 390 v. Chr. und 45 Talente für ca. 330 v. Chr.)