Genres als Semiosphären. Am Beispiel des Coming-of-Age-Films

Hannes Busch, Timea Wanko

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Genretheorie und Filmnarratologie
Genrebegriffe werden primär als Verständigungsbegriffe verstanden. Durch die Zuordnung eines Films zu einem Genre verändert sich die Erwartungshaltung des Rezipierenden, antizipiert wiederum vonseiten der Produktion. Genrebegriffe erfüllen eine wichtige Funktion in der Vermarktung des Films und in der Orientierung der Zuschauer*innen. Gleichzeitig sind Genrebegriffe als Analyseinstrumente in der Filmwissenschaft etabliert, die Filme gruppieren, beschreiben und historisch einordnen (vgl. Kuhn, Scheidgen u. Weber 2013: 1). Aus dieser Spannung zwischen unterschiedlichen Funktionen von Genrebegriffen ergibt sich eine Pluralität und Vielschichtigkeit von Genretheorien. Sie reichen von strukturellen Konzepten, die textimmanent distinkte Bestimmungsmerkmale von Genres postulieren, über kontextsensitive Modelle bis hin zu kognitivistischen Ansätzen, die Genres auf Rezeptionsschemata reduzieren (vgl. ebd.: 13 ff.). Kuhn, Scheidgen und Weber versuchen, unterschiedliche Richtungen zu verknüpfen, und schlagen folgende Definition vor:


Genres basieren auf Gruppen von Filmen, die aufgrund gemeinsamer Merkmale in einer kulturell eingebundenen Produktions-, Rezeptions- und/oder Diskurspraxis in einer bestimmten historischen Phase in einem bestimmbaren Kontext unter einem spezifischen Genrebegriff einander zugeordnet worden sind. Es handelt sich – im Sinne eines Clusters – um eine Ansammlung von Strukturmerkmalen, die sich in immer wieder neuen wandelbaren Zusammenschlüssen konfigurieren können. Genres lassen sich nicht allein an einer Gruppe von Filmen festmachen, sie existieren vielmehr erst durch die Zirkulation und Rezeption von Texten im kulturellen Kontext (ebd.: 22).

Die potenziell gemeinsamen Merkmale sind divers, variieren je nach Genre und können sich sowohl auf histoire- wie auch auf discours-Ebene manifestieren. In vielen Genres etablieren sich diese Gemeinsamkeiten in übergreifenden narrativen Mustern. Hickethier spricht von „visuellen und narrativen Stereotypen“ (Hickethier 2007: 78) sowie von „Motive[n], Sujets und erzählerische[n] Konstruktionen“ (ebd.: 71). Theorien zu Einzelgenres sind daher auf narratologisches Arbeiten angewiesen.

In diesem Paper soll anhand des Coming-of-Age-Films aufgezeigt werden, wie insbesondere Erzählstrukturen konstitutiv für Genres sein können. Dazu werden Genres zunächst (nach Lotman) als Semiosphären eingeordnet, um adäquat mit der Intermedialität und -textualität der Coming-of-Age-Struktur und der engen Verwandtschaft des Coming-of-Age-Films mit anderen Genres umgehen zu können. Wenn sich ein Genre vor allem durch seine Erzählmuster auszeichnet, dann können diese auch in anderen Filmgenres auftreten sowie auf andere Medien (Literatur, Serie, Computerspiel usw.) übertragen werden.

Ein Neuansatz: Genres als Semiosphären
Genres sollen hier als Semiosphären gefasst werden. Eine Semiosphäre ist nach Lotman ein Zeichenraum, der die

Gesamtheit aller Zeichenbenutzer, Texte und Kodes einer Kultur […] [umfasst], Zeichenprozesse ermöglicht [und] durch [seine] Individualität und Homogenität, den Gegensatz von Innen und Außen und die Ungleichmäßigkeit in der Struktur des Inneren [gekennzeichnet ist] (Lotman 1990a: 187).

Für die theoretische Aufarbeitung von Genres als Semiosphären sprechen im Wesentlichen die folgenden Punkte:

Intertextualität und Intermedialität. Genres sind nicht nur intertextuelle, sondern auch intermediale Phänomene (Intermedialität und Filmnarratologie). Das Krimigenre wird als Kategorie neben Filmen z. B. ebenso auf literarische Texte angewendet (vgl. Hickethier 2007: 63). Der Vorteil hier: In dem Konzept der Semiosphäre ist Intermedialität bereits angelegt, da Lotman sie als Teilkulturen versteht, die durch eine grundsätzlich heterogene Menge von Zeichensystemen bestehen (vgl. Decker 2016: 162).

Reflexivität. Lotman zufolge zeichnet viele Semiosphären eine Tendenz zur Selbstreferenz aus (vgl. Lotman 1990b: 128). Auch Genrekonventionen bilden immer wieder den Gegenstand von textuellen Selbstreflexionen, wie zum Beispiel in 500 DAYS OF SUMMER (USA 2009, Marc Webb), wenn der Erzähler trotz vieler Elemente, die den Film als Liebeskomödie ausweisen, betont, dass es sich hierbei nicht um eine Liebesgeschichte handelt.1

Mehrdimensionalität. Das Modell wird dem Genre in seiner Verständigungsfunktion (Dimension der Produktion bzw. Rezeption) gerecht (vgl. Kuhn, Scheidgen u.Weber 2013: 60). Text und Kontext werden hier in den generellen Zeichentransfer einer Teilkultur aufgelöst. Gleichzeitig lassen sich mit den Kernen von Semiosphären Phänomene beschreiben, die angewandt auf Genres auf bestimmte konventionalisierte Muster und Strukturformen hindeuten. Ein textimmanent-strukturaler Umgang mit Genres (Dimension der Texte/Filme) wird so korpusanalytisch operationalisiert und flexibilisiert (vgl. ebd.: 162).

Genres als dynamische Prozesse. Hinzu tritt eine Blicköffnung auf die Filmgeschichte. Denn Genres sind historisch wandelbar. Schon „jeder neue Film, der einem Genre zugeordnet wird, […] verändert [dieses]“ (Hickethier 2007: 70 f.). Mit Lotmans Modell lässt sich dieser Prozess beschreiben. In einer Semiosphäre werden kontinuierlich „Kodes, Texte, Semantiken und mediale[] Formate[]“ (Decker 2016: 162) verfestigt oder aber an die Peripherie gedrängt. Der Kern einer Semiosphäre wird somit fortlaufend neu verhandelt (vgl. Lotman 1990a: 195). Bei Genres geschieht dies durch die ständige Spannung zwischen Wiederholung und Variation (vgl. Hickethier 2007: 80). Neue Texte reproduzieren selten vollständig die Strukturen von vorherigen, gleichzeitig führt die starke Abweichung von einem Genrekern dazu, dass die Texte nicht mehr mit dessen Codes verknüpft und verstanden werden können. An der Peripherie einer Semiosphäre können deren Grenzen wiederum durch starke Abweichungen umkämpft werden. Hier kann es zu Kontakt mit anderen Semiosphären kommen. Austausch, aber auch Abgrenzung sind so möglich (vgl. Decker 2016: 161). Durch die Begriffe ‚Zentrum‘/‚Kern‘ und ‚Peripherie‘ lassen sich Phänomene wie Genremix oder Subgenres veranschaulichen.

Das Genre des Coming-of-Age-Films
Der Coming-of-Age-Film kann zunächst als Subgenre des Teen- bzw. Jugendfilms aufgefasst werden (vgl. Wegener 2013: 296). Im Gegensatz zum ‚Jugendfilm‘, der nach Kümmerling-Meibauer und Schumacher kein Genre, sondern einen Sammelbegriff darstellt, da er verschiedenste Eigenschaften unterschiedlicher Erwachsenengenres beinhalten kann und diese lediglich jugendfreundlich transformiert (vgl. Kümmerling-Meibauer 2010: 296 ff.), weisen die spezifischen Subgenres wie Coming-of-Age oder der Highschool-Film doch ihre eigenen distinktiven Merkmale auf (vgl. Schumacher 2013: 296 u. 304).

Dennoch können zunächst drei basale Charakteristika des Jugendfilms herausgearbeitet werden, die grundsätzlich dem Jugendfilm zugrunde liegen: (1) Der Film führt eine*n heranwachsende*n Protagonisten*in vor, (2) dessen*deren Erfahrungen und Handlungen das Narrativ dominieren, und (3) bietet daher Identifikationspotenzial für jugendliche Rezipierende (vgl. ebd.: 297). Ausgegangen werden kann von einem hohen Grad subjektiven Erzählens und einhergehend damit potenziell von narrativer Unzuverlässigkeit (vgl. Wegener 2013: 129).

Der Coming-of-Age-Film lässt sich durch genrespezifische narrative Muster und thematische Konventionen ausdifferenzieren, die durch die zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben der entwicklungspsychologischen Phase der Adoleszenz geprägt sind (vgl. ebd.: 129 f.). Dabei zentriert das Genre im engeren Sinne die „Phase des Übergangs“ (Schumacher 2013: 305) sowie den „Prozess des Erwachsenwerdens“ (ebd.: 303). Beim Coming-of-Age-Film ist es unabdingbar, dass durch das Überschreiten einer Entwicklungsschwelle eine Rückkehr in die alte Welt nicht mehr möglich ist und somit ein wichtiger Schritt der Identitätsbildung vollzogen wird (vgl. Wegener 2013: 130).

Im Lotman’schen Sinne kann die Bewältigung der psychologisch begründeten Entwicklungsaufgaben durch den*die Protagonisten*in als Grenzüberschreitung und somit als Ereignis gewertet werden (vgl. Lotman 1993: 332). Diese Grenzüberschreitung und folglich auch die Qualität der Ereignishaftigkeit formen eine wichtige narrative Komponente des Genres (vgl. Schumacher 2013: 303 f.).

Folgende Entwicklungsschritte – oder Ereignisse – kennzeichnen die Adoleszenzphase und können als Analysekatalog für Coming-of-Age-Filme verwendet werden:

(1) „das sexuelle Erwachen“ (Wegener 2013: 129),
(2) „die Auflehnung gegen Autoritäten“ (ebd.), die Abgrenzung von den Eltern
und die Neusetzung von Grenzen,
(3) die Beziehungsbildung und Rollenfindung innerhalb der Peergroup und der
Gesellschaft (vgl. ebd.),
(4) „die Herausforderung, Orientierung in einer von Pluralisierung und Individu-
alisierung geprägten Gesellschaft zu finden“ (ebd.) sowie
(5) die Identitätssuche, die Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche und dem
eigenen Selbst (vgl. ebd.: 129 f.).

Ob Mutprobe oder sexuelle Erfahrungen – sie stellen „Übergangsriten“ (Schumacher 2013: 306) dar und prägen Selbstfindung und Grenzüberschreitung maßgeblich. Dabei vollziehen sich entsprechende Ereignisse im Kontext der Motive Schule und/oder Reise (vgl. ebd.), wodurch nicht nur an die Lebenswelt von Jugendlichen angeknüpft, sondern auch der Aspekt des „Schwellenzustand[s]“ (ebd.) Berücksichtigung findet. So lässt sich das Setting vor allem durch Orte der Handlung, Bewegung und Begegnung charakterisieren, die „Räume des Dazwischens“ (ebd.: 307) darstellen. Es werden Schulkorridore, Kantinen, Umkleidekabinen oder auch gesellschaftliche Räume wie Partys, Clubs oder Sportevents gezeigt (vgl. ebd.: 304 u. 307). Als Höhepunkt von Begegnung fungiert bei Coming-of-Age-Filmen mit starkem Schulbezug oft der Abschlussball – „das Finale, in dem alle Konflikte kulminieren“ (ebd.: 307). Es sind dementsprechend alltagsnahe und realistische Settings, die den Coming-of-Age-Film kennzeichnen.

Das Coming-of-Age-Genre verarbeitet aktuelle gesellschaftliche Diskurse und hat sich historisch immer wieder an seiner primären Zielgruppe ausgerichtet. Die Jugendkultur, die sich über Musik, Mode und Sport definiert, ist in dieser Filmgruppe in hohem Grad präsent. Dabei unterliegt die Subkultur stets einem dynamischen Wandel, und einhergehende Veränderungen lassen sich auch am Film ablesen (vgl. ebd.: 302), worin „in vielen verschiedenen Varianten das [aktuelle] kulturelle Konzept von Jugend ästhetisch ausformuliert“ (ebd.) wird. Coming-of-Age formt somit ein dynamisches Genre, das sich an die Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen anpasst (vgl. ebd.).

Folglich kann das Coming-of-Age-Genre nicht nur als eine sehr hybride, sondern auch flexible, fluide und von gesellschaftlichen Teilprozessen geprägte Semiosphäre bezeichnet werden. Die Tendenz zur Genrehybridität, die dem Jugendfilm im Allgemeinen und dem Coming-of-Age-Film im Besonderen zugrunde liegt, unterstreicht die neue Sichtweise, Genres als Semiosphären zu betrachten. Coming-of-Age-Filme können Elemente von Liebesfilmen (z. B. CALL ME BY YOUR NAME, IT u. a. 2017, Luca Guadagnino), Roadmovies (z. B. TSCHICK, DE 2016, Fatih Akin) oder Fantasyfilmen (z. B. die HARRY POTTER-Filme, UK/USA 2001–2011) aufweisen, formen dennoch ihr eigenes Genre, da sie sich durch andere Merkmale enger eingrenzen lassen (vgl. Wegener 2013: 130) ( Transmediales Erzählen).

Eine genretheoretisch orientierte Filmanalyse: THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER

Chboskys THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER (VIELLEICHT LIEBER MORGEN, USA 2012) handelt von Charlie Kelmeckis, seinem ersten Jahr auf der Highschool sowie den damit verbundenen persönlichen ‚Höhen‘ und ‚Tiefen‘. Folgende Beobachtungen lassen sich hinsichtlich der Entwicklungsteilprozesse des Protagonisten festhalten:

(1) In Bezug auf eine (positive) Sexualitätserfahrung macht Charlie eine entscheidende Entwicklung durch; er teilt mit Sam seinen ersten Kuss und mit Mary Elizabeth seine ersten sexuellen Annäherungen. Obwohl für Charlie Sexualität einen wichtigen und basalen Platz einnimmt, ist der Anteil an Sequenzen im Film, in denen Sexualität eine Rolle spielt, gering.

(2) Eine Auflehnung gegen Autoritäten oder die Eltern kann nicht verzeichnet werden. Vor allem aufgrund seines psychischen Zustands ist der Protagonist auf seine Familie angewiesen. Gegen Lehrkräfte findet ebenfalls keine Rebellion statt, im Gegenteil, Englischlehrer Mr. Anderson fungiert als Vorbildfigur. Das Umspielen von Grenzen wird durch den Gebrauch von Drogen und ein kurzes Polizeiverhör angedeutet – beides bleibt jedoch ohne Konsequenzen.2

(3) Der Film fokussiert zu Beginn Charlies Abgrenzung und Außenseitertum – ein weiteres genretypisches Thema (vgl. Schumacher 2013: 308). Mit Patrick, Sam, Alice und Mary Elizabeth findet Charlie jedoch eine Freundesgruppe, die ihn annimmt und integriert. Zunächst agiert er eher zurückhaltend, beim weihnachtlichen Wichteln wird jedoch seine Position in der Gruppe deutlich hervorgehoben (THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER: 0:38:22–0:41:00) und der Kuss zwischen Sam und Charlie (0:44:55) spiegelt die voranschreitende Integration in die Peergroup wider. Durch sich akkumulierende (Liebes-)Konflikte wird Charlie kurzzeitig aus der Gruppe ausgeschlossen, bis er Patrick in einer Schlägerei verteidigt (1:09:07), Loyalität demonstriert und erneut in die Peergroup integriert wird. In den Briefen an eine fiktive Figur, die an Die Leiden des jungen Werthers (1774) denken lassen, reflektiert Charlie die obengenannten Entwicklungen und stellt die Wichtigkeit von Integration und Investition in eine soziale Gruppe heraus (z. B. ab 0:27:18). Während zu Beginn des Films Zurückgezogenheit und Unauffälligkeit für Charlie von Bedeutung sind, sind es am Ende Freundschaft, Zusammenhalt und Freiheit.

(4) THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER zeigt die Suche nach Orientierung in einer von Individualisierung geprägten Welt leitmotivisch anhand der entwicklungsfördernden Bedeutung von Musik und Literatur3 – und arbeitet demnach mit zahlreichen intertextuellen Bezügen. Somit wird nicht wie in vielen neueren Coming-of-Age-Filmen oder -Serien (vgl. z. B. die Webserie DRUCK, DE 2018–2020, Pola Beck u. a.) ein Fokus auf soziale Medien gesetzt ( [Kurz-]Narrative im Internet), was sich damit erklären lässt, dass der Film auf Chboskys gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1999 basiert und wie dieser in den 90er-Jahren spielt. Hier wiederum wird der intermediale Charakter des Films deutlich.4

(5) Charlies Selbstbild sowie seine psychische Verfassung spielen eine basale Rolle in der Diegese. Im Verlauf des Films wird deutlich, dass er an Halluzinationen, Panikattacken und Wahrnehmungsverlusten leidet. Zudem erfährt der*die Rezipierende, dass sein bester Freund Mikel Suizid begangen sowie seine Tante Helen ihn sexuell belästigt hat und in seiner Kindheit tödlich verunglückt ist. In flashbacks werden immer wieder kurze Szenen aus Charlies Vergangenheit gezeigt, die aufzeigen, dass eine Verarbeitung der Ereignisse nicht stattgefunden hat.

Die für den Jugendfilm typische Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst ist in THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER dominant und wird durch das voiceover, die Fokalisierung und das unzuverlässige Erzählen in Form von Pseudodiegesen unterstrichen. Als subjektive Erzählinstanz kommentiert und reflektiert Charlie im voiceover Situationen, Gefühle und Entwicklungen. Das voiceover übernimmt häufig eine zusammenfassende, zeitraffende Funktion. Auf Tonebene ist es von Musik (meist mit intradiegetischem Ursprung) begleitet; die Soundkulisse der gezeigten Szene ist nur gedämpft zu vernehmen; die Szenen wechseln schnell und sind collagenartig in Reihe geschnitten (z. B. 0:27:18–0:29:51). Die Subjektivität wird nicht nur durch die Fokalisierung auf Charlie5 (bis auf wenige Ausnahmen6) verdeutlicht, sondern auch durch Einschübe von Pseudodiegesen, in denen Charlie das Ende seiner Highschoolzeit (0:02:28), einen Tanz mit Sam (0:34:04) sowie das Ende der Beziehung mit Mary Elizabeth (1:03:35) imaginiert. Auch die flashbacks zeigen nur Charlies Erinnerungen und operieren mit einer subjektiven Zeit ( Unzuverlässigkeit im Film; Mentale MetadiegeseSubjektivität/Wahrnehmung/(Psycho-)Pathologie).

Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben scheint beim Helden in manchen Fällen nicht endgültig abgeschlossen und ist bei anderen Figuren ersichtlicher. Durch Patrick wird die dynamische Figur eines jungen, homosexuellen Heranwachsenden entworfen, die in ihrer geheimen Beziehung zu Brad scheitert und sich mit Prozessen der Identitätsfindung auseinandersetzt. Auch Sams Geschichte wird in das Hauptnarrativ eingesponnen; ihre Vergangenheit wird eröffnet und ihre häufig wechselnden und schlechten Beziehungen zu erklären versucht. Die Beziehung zu Craig beendet sie am Ende. Somit sind bei diesen beiden Figuren deutliche Entwicklungsschritte zu beobachten.

Auch auf Ebene der mise-en-scène unterstreicht der Film seine Zugehörigkeit zum Coming-of-Age-Genre: Begegnung und Sozialisation finden am Sportplatz, auf Schulkorridoren, bei Hauspartys sowie Schulfeiern statt und Konflikte werden in der Schulkantine ausgetragen. Aber auch die Zimmer der Heranwachsenden spielen als Raum der Jugendkultur eine wichtige Rolle. Schumacher hebt bei Coming-of-Age-Filmen zudem das „Motiv der Brücke“ (Schumacher 2013: 309) hervor, das den Schwellenzustand verdeutlicht. Es sind Orte der Bewegung, die beispielsweise durch eine „nächtliche Autofahrt“ (ebd.: 310) verbunden „mit dem Mythos der Freiheit“ (ebd.) dargestellt werden. In THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER ist es ebendiese nächtliche Autofahrt durch einen Tunnel, der Freiheit und den Übergang zum Erwachsensein markiert und das Ende des Films bildet (1:33:22–1:34:41).

Die genrecharakteristische äußerliche Metamorphose des*der Protagonisten*in (vgl. ebd.: 308), die meist in Verbindung mit dem Abschlussball und „somit als das zentrale Initiationsritual inszeniert wird und bis zu dem alle Entwicklungsaufgaben gelöst sein müssen“ (ebd.: 307; Herv. i. O.), wird in THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER transformiert dargestellt. Die Metamorphose wird bei Charlie vor allem durch das Anziehen des Anzugs, den er von Patrick zu Weihnachten geschenkt bekommt, deutlich (0:41:40). Zu einem der letzten Schulbälle lädt ihn Mary Elizabeth ein (0:55:00). Statt jedoch das Initiationsritual zu beenden, intensivieren sich hier alle Probleme. Eine zweite Phase beginnt, in welcher Charlie nun selbst aktiv Entscheidungen treffen muss und nicht mehr nur durch seine Freund*innen den Reifungsprozess bestreitet. Auch nach der Abschlussfeier von Sam, Patrick und dem Rest der Peergroup, die hier das Ende der Initiation kennzeichnen könnte, verstärken sich Charlies psychische Ängste und eine dritte Phase wird eingeleitet (1:19:30–1:31:15). Diese Abweichungen vom prototypischen Erzählmuster müssen nicht als Genrebruch betrachtet werden, sondern zeigen einen filmspezifischen Fokus. Charlies emotionale und soziale ‚Höhen‘ und ‚Tiefen‘ stehen im Mittelpunkt und werden hervorgehoben.

Während sich THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER an dem herausgestellten Genrekern orientiert, gehen damit andere prominente Filme der letzten Jahre anders um oder weichen bewusst davon ab, sodass die Fluidität, Dynamik und Hybridität von Genres fassbar werden. Diese operieren zwar mit dem „Prinzip der Wiederholbarkeit“ (Hickethier 2007: 80), aber nicht durch „ständige Wiederholbarkeit von Stereotypen“ (ebd.), sondern durch „ihre ständige Variation und ihre Einbettung in bestimmte narrative Formen“ (ebd.). „Schema und Variation bilden eine unauflösbare Einheit“ (ebd.) und Abweichungen von der basalen Narrationsstruktur generieren zusätzliche Bedeutung (vgl. ebd.: 82). Dieser Punkt kann anhand der Queer-Thematik verdeutlicht werden: In THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER oder MOONLIGHT (USA 2016, Barry Jenkins) wird Homosexualität vor allem mit fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz verbunden; CALL ME BY YOUR NAME bricht mit diesem narrativen Element. Das genretypische Aufgreifen der Queer-Thematik illustriert zudem, dass das Genre in starkem Austausch mit gesellschaftlichen Diskursen tritt.

Ausblick: Desiderate und Anschlussmöglichkeiten einer genretheoretisch orientierten Filmnarratologie
Eine Anwendung des Semiosphären-Konzepts auf Genres scheint produktiv und schlüssig. Es lässt eine dynamische Betrachtung von Genre zu und betrachtet Genreabweichungen unter anderem als natürliche Prozesse des Wandels und der Hybridität. Der intermediale und intertextuelle Charakter insbesondere des Coming-of-Age-Genres ist damit darstellbar.

Betrachtet man den Jugendfilm, kann mit Schumacher hervorgehoben werden, dass es sich um „ein klares Forschungsdesiderat“ (Schumacher 2013: 297) handelt. „Die deutschsprachige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Jugendfilm erfolgt vorwiegend aus medienpädagogischer Perspektive“ (ebd.). Künftige Analysen des Coming-of-Age-Genres bedürfen in Anbetracht dessen etwa einer historischen Perspektivierung in Richtung einer Berücksichtigung des goethezeitlichen Erzählmodells der Initiationsgeschichte (vgl. Titzmann 2012). So könnten narrative Muster deutlicher herausgearbeitet und Merkmale distinktiver voneinander abgegrenzt werden.

Die Analyse hier ergab, dass die Grenzen zwischen den Subgenres des Jugendfilms unscharf sind. Beispielsweise teilen sich der Coming-of-Age-Film und der Highschool-Film viele Merkmale. Schumacher resümiert zwar, dass der Highschool-Film komödiantischer und stereotypischer und der Coming-of-Age-Film melancholischer und melodramatischer angelegt ist, dennoch zeichnen sich viele Überschneidungen ab (vgl. Schumacher 2013: 307 u. 311).

Schlussendlich weisen zahlreiche Jugendfilme die herausgearbeitete narrative Struktur, mindestens in Ansätzen, auf. Daher kann bei Coming-of-Age nicht nur von einem Genre, sondern auch von einem intermedial einsetzbaren Erzählmodell, einer Schablone für menschliche Elementarerfahrung, gesprochen werden. Für die Filmnarratologie und die Genreanalyse formt sich dementsprechend die Herausforderung, Klarheit zu schaffen, ab wann es sich bei Genres um eine narrative Struktur im Sinne eines Erzählmodells (beispielsweise wie bei Campbells Heldenreise, vgl. Campbell 2011), einer Genrekonvention oder um beides handelt.

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1 Dabei ist anzumerken, dass Filme nicht selbstreflexiv sein müssen, um zur Selbstreflexivität eines Genres beizutragen. Hettich (2014) kategorisiert vier Arten der Genrereflexion. Nur in der dritten verweisen Filme notwendigerweise auf sich selbst: autothematische, transtextuelle, selbstreferentielle und metaisierende (vgl. Hettich 2014: 55 ff.).
2 Die Überblendung von Hostie zu LSD-Plättchen (0:48:29) ist eine strukturelle Kopplung und kann als Kommentar gelesen werden, dass eine Abgrenzung zu Traditionen im Elternhaus stattfindet.
3 Popkulturelle Bezüge, vor allem musikalische, fungieren dabei als weiteres Merkmal des untersuchten Genres (vgl. Schumacher 2013: 304).
4 Der Aspekt der Intermedialität ist nicht nur für den hier untersuchten Film relevant, denn viele Comig-of-Age-Filme basieren auf einer Romanvorlage (vgl. z. B. die HARRY POTTER-Filme, TSCHICK, CALL ME BY YOUR NAME sowie MARGOS SPUREN (USA 2015) und DIE MITTE DER WELT (DE 2016, Jakob B. Erwa).
5 Deutlich wird die Fokalisierung und Perspektivübernahme durch die Kamera bei Charlies Drogenszenen, der Schlägerei in der Mensa sowie seinem psychischen Zusammenbruch. Durch Einsatz von Zeitlupen und anderen zeitverlangsamenden Elementen, ein verschwommenes Bild, eine schwankende oder gar schiefe Kamera, Schwarzblenden uvm. werden Charlies psychische sowie körperliche Verfassung reflektiert.
6 Auf dem Homecoming-Ball steht Charlie allein an einer Wand am Rande der Tanzfläche. Die Kamera zeigt ein Gespräch und den anschließenden Tanz von Patrick und Sam, die Charlie von seiner Position aus nicht hätte miterleben können. Diese Momente, in denen sich die Kamera Charlies Perspektive entzieht, sind jedoch sehr selten und kurz.


Filme

500 DAYS OF SUMMER (USA 2009, Marc Webb).

CALL ME BY YOUR NAME (IT u. a. 2017, Luca Guadagnino).

DIE MITTE DER WELT (DE 2016, Jakob B. Erwa).

DRUCK (DE 2018–2020, Pola Beck u. a.).

HARRY POTTER (UK/USA 2001–2011, Chris Columbus u. a.).

PAPER TOWNS (MARGOS SPUREN, USA 2015, Jake Schreier).

MOONLIGHT (USA 2016, Barry Jenkins).

THE PERKS OF BEING A WALLFLOWER (VIELLEICHT LIEBER MORGEN, USA 2012, Stephen Chbosky).

TSCHICK (DE 2016, Fatih Akin).

Forschungsliteratur

Campbell, Joseph (2011): Der Heros in tausend Gestalten. Berlin.

Decker, Jan-Oliver (2016): „Transmediales Erzählen. Phänomen – Struktur – Funktion“. In: Martin Henning u. Hans Krah (Hg.): Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels. Glückstadt, S. 137–173.

Hettich, Katja (2014): „Reflexivität und Genrereflexivität im Spielfilm. Begriffsklärungen und Überlegungen zu Genrereflexionen im zeitgenössischen Kino“. In: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 6, S. 48–67.

Hickethier, Knut (2007): „Genretheorie und Genreanalyse“. In: Jürgen Felix (Hg.): Moderne Film Theorie. 3. Aufl. Mainz, S. 62–96.

Kuhn, Markus, Irina Scheidgen u. Nicola Valeska Weber (2013): „Genretheorien und Genrekonzepte“. In: Markus Kuhn u. a. (Hg.): Filmwissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung. Berlin/Boston, S. 1–36.

Kümmerling-Meibaur, Bettina (2010): „Einleitung“. In: Bettina Kümmerling-Meibauer u. Thomas Koebner (Hg.): Filmgenres. Kinder- und Jugendfilm. Stuttgart, S. 9–22.

Lotman, Jurij M. (1993): Die Struktur literarischer Texte. 4. Aufl. München.

Lotman, Jurij M. (1990): „Über die Semiosphäre“. In: Zeitschrift für Semiotik 12 (4), S. 187–305.

Lotman, Jurij M. (1990): Universe of the Mind: A Semiotic Theory of Culture. Bloomington.

Schumacher, Julia (2013): „Jugendfilm“. In: Markus Kuhn, Irina Scheidgen, u. Nicola Valeska Weber (Hg.): Filmwissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung. Berlin/Boston, S. 295–313.

Titzmann, Michael (2012): „Die ‚Bildungs-‘/Initiationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche“. In: Wolfgang Lukas, Claus-Michael Ort u. Ders. (Hg.): Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Berlin/Boston, S. 223–288.

Wegener, Claudia (2011): „Kinderfilm: Themen und Tendenzen“. In: Thomas Schick u. Tobias Ebbrecht (Hg.): Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms. Wiesbaden, S. 121–136.