Ein Vorwort als Einführung

Vorwort als PDF

Das vorliegende Heft unserer Paradigma-Reihe geht auf ein Seminar im Sommersemester 2019 zurück, das am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster durchgeführt wurde. Zum Thema hat es die Filmnarratologie. Bekanntlich hat diese Disziplin ihre Wurzeln in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren – bei Bordwell, Branigan, Chatman, Cohen, Jost, Kozloff, Metz und Scholes – und hat im deutschsprachigen Bereich zuletzt mit Kuhns Filmnarratologie einen wegweisenden Beitrag erfahren, der die literaturwissenschaftlich orientierte Erzähltheorie Gérard Genettes transmedial modifiziert und auf den Gegenstand ‚Film‘ hin ausrichtet. Neben Kuhns Analysemodell lassen sich inzwischen diverse andere Versuche ausmachen, die das theoretische Fundament einer Narratologie, die sich für das audiovisuelle Medium zuständig sieht, ganz grundlegend zu systematisieren versuchen (vgl. Griem u. Voigts-Virchow; Gräf u.a.; Kuhn u. Schmidt und Verstraaten), verbunden mit Fragen nach seinem narrativen Potenzial (vgl. Gaudrault; Hickethier und Ryan) und seiner medienspezifischen Informationsvergabe (vgl. Decker u. Krah). Daneben gehen Studien dem komplexen Erzählen im Film nach (vgl. Liptay u. Wolf; Helbig und Schlickers u. Toro), seinem generischen Formenreichtum (vgl. Blödorn; Grimm; Hediger und Hänselmann) und dispositiven Settings (vgl. Distelmeyer und Eick). Immer wieder geschieht dies auch im Rückschluss auf den Nutzen einer solchen Erzähltheorie für die Analysepraxis – und mit der Tendenz zu einem allgemeinen, transmedialen Theoriedesign, das das Erzählen über den Film hinaus medienübergreifend und medienspezifisch zu fassen versucht (vgl. Ryan und Thon).

Wenn auch letzteres Vorhaben vom engeren Gegenstandsfeld weg in andere mediale Bereiche führt, drängen sich mit Blick auf den narrativen Film – in all seinen Formen und Formaten – und in Anbetracht der Forschungslage durchaus die Fragen auf: Welche Ansätze existieren inzwischen? Wo findet sich Narrativität im Großbereich ‚Film‘, in dem sich ja neben dem fiktionalen Spielfilm eine Vielzahl weiterer Formate versammelt – Werbespots, Videoclips im Internet, Musikvideoclips, Trailer verschiedener Spielart und vieles mehr. Wie sind entsprechende Ansätze theoretisch fundiert, wie heuristisch ausgerichtet? Kurz: Was gibt uns die aktuelle Filmnarratologie an die Hand und was lässt sich damit anfangen?
Für die hier versammelten Beiträge sind dementsprechend drei Aufgaben leitend gewesen:


(1) Positionsbestimmung. In Annäherung an einige zentrale, mitunter auch neuartige Arbeitsfelder bestand die erste Aufgabe darin, den jeweiligen state of the art der Filmnarratologie zu erfassen und gleichfalls herauszu-stellen, wo die Forschung ein analytisch-probates und heuristisch zielführendes Instrumentarium bereitstellt.
(2) Beispielanalyse. Zum Zweck einer auch illustrativen Positionsbestimmung lag eine weitere Aufgabe darin, den Nutzen der gegebenen Instrumentarien und Kategorien an einem Beispiel vorzuführen. Dabei sollten eingeführte Kategorien auf ihre Tragfähigkeit und ihren Nutzen hin geprüft, wie auch eventuelle Lücken in den Ansätzen aufgezeigt werden. Theorie sollte in Analysepraxis übersetzt werden.
(3) Revision/Ausblick. In der Zusammenführung von verfügbarem Vokabular – in seiner theoretischen Fundierung und methodologischen Ausrichtung – und Gegenstand – mit seiner semiotischen und pragmatischen Spezifik – wurde in vielen Fällen deutlich, dass es mehr oder weniger deutliche Desiderate gibt, die es künftig anzugehen gilt. Die dritte Aufgabe bestand daher darin, Revisionsvorschläge zu unterbreiten und Ansatzpunkte für die Anschlussforschung zu nennen.

Herausgekommen ist dabei ein ganzer Strauß an möglichen Zugriffen, die von bereits bekannten Problembereichen – wie Genres oder filmisch-komplexem Erzählen – bis hin zu recht unerforschten Bereichen – wie Kurznarrativen und Transmedialität – und innovativen Ansätzen reicht. Insofern bildet das Heft die Ergebnisse eines äußerst produktiven Seminares ab und trägt zudem im besten Fall zur weiteren Beschäftigung mit diesem spannenden Tätigkeitfeldes bei.

Der Herausgeber dankt allen Beteiligten für die anregende Arbeit im Seminar, die gelungenen Beiträge und das Durchhaltevermögen in der Redaktionsphase. Ein Dank geht auch an das Redaktionsteam, namentlich an Alexandra Schwind und Patrick Zemke, die tatkräftige und sachkundige Hilfe leisteten.

Münster, im April 2020


Erwähnte Forschungsliteratur

Blödorn, Andreas (2009): „Bild/Ton/Text. Narrative Kohärenzbildung im Musikvideo, am Beispiel von Rosenstolz‘ ICH BIN ICH (WIR SIND WIR)“. In: Susanne Kaul u.a. (Hg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld, S. 223–242.

Bordwell, David (1985): Narration in the Fiction Film. Madison.

Branigan, Edward R. (1984): Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. Berlin.

Branigan, Edward R. (1992): Narrative Comprehension and Film. London.

Chatman, Seymour (1990): Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca.

Cohen, Keith (1979): Film and Fiction: The Dynamics of Exchange. New Haven.

Decker, Jan-Oliver u. Hans Krah (2008): „Einführung. Zeichen(-Systeme) im Film“. In: Zeitschrift für Semiotik 30, 3–4, S. 225–235.

Distelmeyer, Jan (2012): Das flexible Kino: Ästhetik und Dispositiv der DVD & Bluray. Berlin.

Eick, Dennis (2014): Digitales Erzählen. Die Dramaturgie der Neuen Medien. Konstanz.

Gaudreault, André (2009): From Plato to Lumière: Narration and Monstration in Literature and Cinema. Toronto.

Gräf, Dennis u. a. (2017): Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. 2. Aufl. Marburg.

Griem, Julika u. Eckhart Voigts-Virchow (2002): „Filmnarratologie: Grundlagen, Tendenzen und Beispielanalysen“. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, S. 155–83.

Grimm, Petra (1996): Filmnarratologie. Eine Einführung in die Praxis der Interpretation am Beispiel des Werbespots. München.

Hänselmann, Matthias C. (2016): Der Zeichentrickfilm. Eine Einführung in die Semiotik und Narratologie der Bildanimation. Marburg.

Hediger, Vinzenz (2001): Verführung zum Film. Der amerikanische Kinotrailer seit 1912. Marburg.

Helbig, Jörg (Hg.) (2006): ‚Camera doesn’t lie‘: Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Trier.

Hickethier, Knut (2007): „Erzählen mit Bildern. Für eine Narratologie der Audiovision“. In: Corinna Müller u. a. (Hg.): Mediale Ordnungen. Erzählen, archivieren, beschreiben. Marburg, S. 91–106

Jost, François ([1987] 1989): L’œil-caméra. Entre film et roman. Lyon.

Kozloff, Sarah (1988): Invisible Storytellers. Voice-over Narration in American Fiction Film. Berkeley.

Kuhn, Markus (2011/2013): Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin.

Kuhn, Markus u. Johann N. Schmidt (2014): „Narration in Film (revised version; uploaded 22 April 2014)“. In: Peter Hühn u. a. (Hg.): The living handbook of narratology. Hamburg. http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/narration-film-revised-version-uploaded-22-april-2014 (07.04.2020)

Liptay, Fabienne u. Yvonne Wolf (Hg.) (2005): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München.

Metz, Christian (1966): „La grande syntagmatique du film narratif“. In: Communications 8, S. 120–24.

Metz, Christian ([1968] 1974): Film Language: A Semiotics of the Cinema. New York.

Ryan, Marie Laure (2005): „On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology“. In: Jan Christoph Meister (Hg): Narratology beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity. Berlin, S. 1–23.

Sabine Schlickers u. Vera Toro (Hg.)(2018): Perturbatory Narration. Narratological Studies on Deception, Paradox and Empuzzlement. Berlin/Boston.

Scholes, Robert (1985). „Narration and Narrativity in Film“. In: Gerald Mast u. a. (Hg.): Film Theory and Criticism. New York, S. 390–403.

Thon, Jan-Noël (2016): Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture. Lincoln/London.

Verstraaten, Peter (2009): Film Narratology. Übers. v. Stefan van der Lecq. Toronto u.a.