Kultursemiotik. Erzähltheorie. Film.
Eine kontextsensitive Öffnung der Filmnarratologie am Beispiel von DIE FEUERZANGENBOWLE

Juliane Baier

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Filmnarratologie und Kultursemiotik
Bei der Filmnarratologie handelt es sich um eine Theorie, der primär eine textimmanente Methodik zugrunde liegt. Jedoch sind Filme immer auch als Teil der Kultur zu begreifen, in der sie entstehen, und transportieren kulturelles Wissen (vgl. Titzmann 1993: 268). Daher können textexterne Daten, die den Kontext eröffnen, nicht vernachlässigt werden, sofern diese für die Analyse relevant sind (vgl. ebd.: 385). Die Kultursemiotik liefert in verschiedenen Ansätzen Konzepte dafür, das Text-Kontext-Verhältnis greifbar zu machen und in den Rahmen einer filmnarratologischen Untersuchung zu integrieren.

Zumeist steht zu Beginn von kultursemiotischen Forschungsansätzen eine Definition von ‚Kultur‘. So betrachtet Martin Nies Kultur als ein komplexes Zeichensystem, dem eine Vielzahl weiterer Zeichensysteme untergeordnet sind und in dem bestimmte Zeichenpraxen vorherrschen (vgl. Nies 2011: 207). Er unterteilt Kultur in drei Bereiche: die soziale Kultur, die materielle Kultur und die mentale Kultur. Die soziale Kultur umfasst Verhaltensweisen, Normen, soziale Strukturen und Alltagspraktiken (vgl. ebd.). Die materielle Kultur umfasst alle Artefakte und materiell konservierte Texte einer Kultur und fungiert somit als kultureller Speicher, während die mentale Kultur philosophische, anthropologische und ideologischen Vorstellungen einer Kultur umfasst (vgl. ebd.: 208).

Einen anderen Weg wählt Michael Titzmann: In seinem Ansatz steht der Text im Zentrum. Er geht von Propositionen aus, die aus einem Text ableitbar sind, und von Propositionen, die aus dem Text nicht ableitbar sind (vgl. Titzmann 2017: 81). Letztere nennt er ‚textexterne‘ Prämissen, die mit Hilfe von kulturellem Wissen erschlossen werden können (vgl. ebd.: 85). Unter kulturellem Wissen versteht Titzmann die Gesamtmenge aller für wahr gehaltenen Propositionen zu einer bestimmten Zeitphase in einem bestimmten Raum (vgl. ebd.). Diese für wahr gehaltenen Propositionen bezeichnet er als ‚Wissenselemente‘ (vgl. ebd.). Demnach umfasst das kulturelle Wissen in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik beispielsweise andere Wissenselemente als das kulturelle Wissen des Silicon Valley in der Gegenwart. Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass es gruppenspezifisches kulturelles Wissen gibt (vgl. ebd.: 87). Der Begriff ‚Wissen‘ ist hier im wissenssoziologischen Sinne zu verstehen. Ein Wissenselement ist eine von einer Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt für wahr gehaltene Proposition, unabhängig davon, ob sie tatsächlich wahr ist (vgl. ebd.: 85). Die Aussage ‚Die Sonne dreht sich um die Erde.‘ ist somit ein Wissenselement europäischer Kulturen des Mittelalters (vgl. ebd.). Das Verhältnis zwischen Texten und kulturellem Wissen ist reziprok. Texte können für ihr Verständnis kulturelles Wissen voraussetzen, aber ebenso können sie Wissenselemente ihrer Kultur transportieren (vgl. ebd.: 96–97).

Martin Siefkes hingegen geht wie Nies von einer dreiteiligen Kultur aus, die er durch die Diskursanalyse ergänzt. Zur Einbindung der Diskursanalyse entwickelt Siefkes ein semiotisches Vier-Ebenen-Modell, das die gegenseitigen Einflüsse zwischen materialer, sozialer und mentaler Kultur greifbar macht (vgl. Siefkes 2013: 376). Diskurse versteht er als Praktiken des Zeichengebrauchs (vgl. ebd.). Wie Titzmann beschreibt auch Siefkes ein wechselseitiges Text-Kontext-Verhältnis. Die raumzeitlichen Grenzen der ersten Ebene beschränken die Themen der Texte und der mit ihnen vermittelten Diskurse der zweiten Ebene (vgl. ebd.: 369–371). Die daraus entstehenden Textmuster beeinflussen wechselseitig die Mentalität (Ebene 3) und die sozialen Muster (Ebene 4) einer Kultur.

Ähnlich, aber umfassender ist das Modell der Semiosphäre nach Lotman. Anders als das Vier-Ebenen-Modell, das sich ausschließlich mit den Entwicklungen innerhalb einer Kultur auseinandersetzt, ermöglicht das Semiosphären-Modell das Zusammenspiel verschiedener Kulturbereiche beschreibbar zu machen. Das Modell bezieht sich sowohl auf die menschliche Kultur in ihrer Gesamtheit, als auch auf ihre Teile, wie nationale Kulturen oder Subkulturen (vgl. Decker 2016: 161). Alle Zeichenbenutzer, Texte und Kodes einer Kultur werden als ein semiotischer Raum angesehen (vgl. Lotman 1990: 287). Dieser Raum ist die Semiosphäre, innerhalb derer Zeichenprozesse möglich sind (vgl. ebd.). Die wichtigsten Eigenschaften der Semiosphäre ist die Abgetrenntheit nach außen und die Unregelmäßigkeit im Inneren (vgl. ebd.: 290). Die Außengrenze wird etabliert und aufrechterhalten durch die gegenseitige Fremdheit der Zeichenbenutzer (vgl. ebd.: 287). Im Inneren ist die Semiosphäre in einen Kern und eine Peripherie unterteilt (vgl. ebd.: 295). Der Kernbereich besteht aus dominierenden Zeichensystemen, während in der Peripherie auch ‚fremde‘ Texte angesiedelt sind, die trotz der Filtration an der Außengrenze in die Semiosphäre aufgenommen wurden (vgl. ebd.: 287). Zwischen allen drei Bereichen finden Austauschprozesse statt, die zu neuen Kodes, neuen Text(-arten) und Veränderungen bei den Zeichenbenutzern führen können (vgl. ebd.). Wenn Kulturen als Semiosphären betrachtet werden, wird durch dieses Modell beschreibbar, wie sich Kulturen durch Kontakt mit anderen Kulturen verändern (können).

Martin Nies versteht Kultur ebenfalls als raumzeitlich abgegrenzte Einheit, deren Wandel sich im Wandel von gesellschaftlichen, ästhetischen und wissenschaftlichen Diskursen manifestiert (vgl. Nies 2011: 209–210). Um diesen Wandel nachvollziehen zu können, gilt es Diskurse zu rekonstruieren (vgl. ebd.: 211). Besondere Bedeutung kommt bei diesem Vorhaben der ästhetischen Kommunikation zu, die Teil der materiellen Kultur ist (vgl. ebd.: 214). Nach Jakobson liegt der Unterschied zwischen referenzieller und ästhetischer Kommunikation darin, ‚wie‘ kommuniziert wird, und darin verortet Nies die Aussagekraft von ästhetischer Kommunikation über die Kultur, die sie hervorgebracht hat (vgl. ebd.). Dies bildet zudem einen Anschlusspunkt der Filmnarratologie, denn das ‚Wie‘ lässt sich mithilfe von narratologischer Terminologie genau beschreiben.

Ein weiterer Aspekt, der der ästhetischen Kommunikation Aussagekraft über die sie produzierende Kultur verleiht, ist, dass sie sekundäre, modellbildende semiotische Systeme hervorbringt (vgl. ebd.: 216). Ästhetische Kommunikate (= künstlerische Texte), so die Idee, entwerfen kulturspezifisch modellhafte Welten, in denen Ordnungen, semantische Räume und Grenzen konstruiert werden (vgl. ebd.: 219). In diesen Welten wird aufgezeigt, was Grenzüberschreitungen und Normverstöße in der modellhaften Ordnung bedeuten und wie mit diesen umgegangen wird (vgl. ebd.). Daraus lassen sich wiederum Normen, Werte und zentrale Konflikte einer Kultur ableiten (vgl. ebd.: 220). Nicht zuletzt liefert Nies in seinem Aufsatz konkrete Fragestellungen, die Ausgangspunkte für eine kultursemiotische Analyse darstellen:

(1) Welche Themen und Diskurse werden in der ästhetischen Kommunikation einer Kultur dominant verhandelt?
(2) Welcher ästhetischer Vermittlungsstrategien bedienen sich die Texte?
(3) In welcher Relation stehen die daraus ableitbaren textuellen Konzeptionen zu nicht-künstlerischer Kommunikation?
(4) Welcher Art sind die Sujets, Modelle von Welt und narrativen Modelle?
(5) Welche Problemkonstellationen und Problemlösungsstrategien werden verhandelt?
(6) Welche Normen und Werte werden vermittelt, was wird als wünschenswert, was als nicht wünschenswert klassifiziert?
(7) Welche ideologischen Konstrukte werden vermittelt?
(8) In welcher Relation steht der Text zu dem Medien-/Literatur-/Kunstsystem und gegebenenfalls bestimmten Genrekonventionen der Epoche – verhält er sich also eher affirmativ oder innovativ gegenüber anderen Texten? (ebd.)

Filmbeispiel: Eine kultursemiotische Analyse von DIE FEUERZANGENBOWLE
DIE FEUERZANGENBOWLE (D, Helmut Weiss) ist im Jahr 1944 erschienen, in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Der Film erzählt von dem erfolgreichen Autor Dr. Johannes Pfeiffer, der in seiner Jugend keine öffentliche Schule besucht hat. Von seinen Bekannten – wohlhabenden alten Herren – wird ihm an einem heiteren Abend mit reichlich Feuerzangenbowle vorgeschwärmt, was er alles verpasst habe. Sie erinnern sich an Streiche, die sie ihren Lehrern gespielt haben, und glorifizieren die Schulzeit. So wird als zentrales Sujet die Schule gesetzt: Das zunächst offensichtliche Problem ist die verpasste Schulzeit von Pfeiffer. Die Lösungsstrategie hierfür ist, dass er sich als Primaner verkleidet und in eine Kleinstadt begibt, um sich für ein paar Wochen als der neue Schüler auszugeben.

Die Handlung spielt nicht in der Gegenwart ihrer Entstehungszeit, sondern ist in die ‚gute, alte Zeit‘ versetzt, eine Art heroic age, die mit der Jahrhundertwende vergleichbar ist. Räumlich ist die Handlung des Films in der fiktiven Kleinstadt Babenberg situiert, in der stets die Sonne scheint und brave Bürger ein ruhiges Leben führen. Durch das verhandelte Thema ‚Schulzeit‘ entzieht sich das Modell von Welt ernsten Themen. Es wird eine unbeschwerte Welt entworfen, in der Schüler Streiche spielen können, ohne dass ihnen ernsthafte Strafen drohen – die Schrecken des Krieges und der Diktatur spielen dabei keine Rolle. Somit steht das Modell von Welt, das DIE FEUERZANGENBOWLE entwirft, der Lebensrealität der Bevölkerung diametral entgegen. Durch diese Themensetzung eröffnet sich das eskapistische Potenzial des Films. Er lenkt von den Schrecken der Gegenwart ab und eröffnet für rund 90 Minuten einen geschützten, der Realität entrückten Raum. Dazu trägt auch die Erzählstruktur des Films bei, denn DIE FEUERZANGENBOWLE weist eine Rahmen- und Binnenhandlung auf. Den Rahmen bildet die heitere Altherren-Runde, die sich an ihre Schulstreiche erinnert. Die Binnenhandlung erzählt davon, wie sich Pfeiffer als Primaner ausgibt und seine versäumte Schulzeit in der Kleinstadt Babenberg nachholt. Am Ende steht die Rahmenhandlung mit einem Final Twist, der das zuvor präsentierte als erfunden ausstellt und somit die Erzählinstanz als unzuverlässig entlarvt. Somit handelt es sich bei der Binnenhandlung um eine Pseudodiegese, die einen anderen ontologischen Status einnimmt als die Rahmenhandlung, was DIE FEUERZANGENBOWLE zu einem frühen Vertreter des ‚Mind-Bender‘-Films macht. Die Auflösung, dass die präsentierte Handlung von Pfeiffer erdacht ist, trägt zum eskapistischen Potenzial des Films bei. Nachdem Pfeiffer seinen letzten Streich gespielt hat und sich als Schriftsteller zu erkennen gibt, äußern die Lehrer die Sorge, dass Pfeiffer die Geschehnisse als Inspiration für einen Roman oder gar einen Film nehmen wird. Nach dieser selbstreflexiven Äußerung folgt eine Nahaufnahme auf das Gesicht von Pfeiffer und die Handlung verlagert sich zurück auf die Ebene der Rahmenhandlung. Dabei sagt Pfeiffer:

Meine Herren das ist bereits geschehen. Aber sie brauchen keine Besorgnisse zu haben, ich habe alles so stark übertrieben, dass kein Mensch Sie wiedererkennt. Übrigens ein solches Gymnasium, wie wir das hier haben, mit solchen Magistern wie Sie und solchen Lausejungen, wie ich, das gibt es ja gar nicht. Ich will auch gerne öffentlich bekennen, dass ich die ganze Geschichte von A-Z erlogen habe. Die Schule, den Direktor, die Lehrer und die kleine Eva. Ja, sogar mich selbst habe ich erfunden. Wahr an der ganzen Sache ist nur der Anfang, die Feuerzangenbowle. Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir mit uns tragen, die Träume, die wir spinnen und die Sehnsüchte, die uns treiben. Damit wollen wir uns bescheiden. (DIE FEUERZANGENBOWLE: 1:31:56–1:32:57)

Insbesondere der letzte Satz ist für den eskapistischen Aspekt von zentraler Bedeutung, denn er lenkt von Geschehnissen in der Realität ab und ermächtigt dazu, sich die Dinge so zurechtzulegen, wie es genehm ist. Mit Blick auf die Zeit nach 1945 wird dieser Satz besonders relevant, da er dazu verwendet werden kann, sich von Schuld freizusprechen und die Vergangenheit zu beschönigen.

Darüber hinaus trägt auch das Genre zum eskapistischen Grundcharakter des Films bei, denn bei DIE FEUERZANGENBOWLE handelt es sich um einen Unterhaltungsfilm. Dieses Genre fand vom Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, dem die Filmproduktionsfirma UFA unterstellt war, besondere Beachtung, wie in folgendem Zitat von Joseph Goebbels deutlich wird:

Das Schaffen des kleinsten Amüsements, des Tagesbedarfs für die Langeweile und der Trübsal zu produzieren, wollen wir ebenfalls nicht unterdrücken. Man soll nicht von früh bis spät in Gesinnung machen. Wir empfinden dafür selbst zu leicht, zu künstlerisch. Die Kunst ist frei und die Kunst soll frei bleiben, allerdings muß sie sich an bestimmte Normen gewöhnen. (vgl. Albrecht 1979: 28)

Unterhaltungsfilme dienten im Dritten Reich nicht nur der reinen Unterhaltung. Sie wurden, insbesondere in den Kriegsjahren, bewusst produziert und als Instrument der Propaganda eingesetzt (vgl. Aue u. a. 2014: 111). Bei DIE FEUERZANGENBOWLE handelt es sich um einen ebensolchen nationalsozialistischen Unterhaltungsfilm, der – ähnlich wie ALTES HERZ WIRD WIEDER JUNG (D 1942/43, Erich Engel) – Ideologie zwar nicht plakativ vermittelt, dafür aber implizit unter dem Deckmantel der Unterhaltung. Filme dieser Art stehen in Kontrast zu expliziten Propagandafilmen, wie beispielsweise HITLERJUNGE QUEX (D 1933, Hans Steinhoff) oder JUD SÜß (D 1940, Veit Varlan). Der Unterschied liegt darin, dass die nationalsozialistischen Unterhaltungsfilme Ideologie subversiv vermitteln. In DIE FEUERZANGENBOWLE erfolgt diese Vermittlung durch das zentrale Thema ‚Schulzeit‘. Dieses Thema ermöglicht es, durch den eng verbundenen Themenkomplex ‚Erziehung‘ Werte zu vermitteln. Außerdem sind dem Thema ‚Schulzeit‘ weitere Themenkomplexe angegliedert, die in der nationalsozialistischen Ideologie relevant sind, wie Autorität, Kameradschaft und Geschlechterrollen. Durch die Darstellung von Themen dieser Art können vom System gewünschte Verhaltensweisen der Bürger illustriert werden.

Wie eine solche Darstellung von wünschenswertem und nichtwünschenswertem Verhalten und daraus ableitbare Werte und Normen in der DIE FEUERZANGENBOWLE erfolgt, lässt sich exemplarisch anhand der Darstellung von Geschlechterrollen zeigen. Zunächst ist ein Großteil der auftretenden Figuren männlich. Frauen sind entweder Versorgerinnen, wie die Vermieterin von Dr. Johannes Pfeiffer oder die Haushälterin von Professor Crey, Ehefrauen oder unbedarfte Schülerinnen, die von den männlichen Schülern als Objekte betrachtet werden. Anhand der Frauenfiguren Marion und Eva wird wünschenswertes und nichtwünschenswertes Verhalten explizit vermittelt. Dies erfolgt durch die Opposition, in der die Figuren gesetzt sind. Marion ist Pfeiffers Geliebte aus Berlin und wird als selbstbewusste Femme fatale inszeniert. Sie spielt mit ihren Reizen, kleidet sich auffällig, ist geschminkt und geht offensiv mit Männern um. Eva hingegen ist Schülerin in Babenberg und die Tochter des Schuldirektors. Sie wird als anständig charakterisiert, da sie traditionelle Kleidung trägt, nicht geschminkt ist und Männern gegenüber zurückhaltend auftritt. An den Frisuren der Frauen wird die Opposition konzentriert deutlich: Eva hat lange, blonde Haare, während Marion eine dunkle Kurzhaarfrisur trägt. So wie die Figur der jungen Eva gestaltet ist, entspricht sie dem Idealbild einer Frau gemäß den nationalsozialistischen Werten. Im Laufe des Films wird Marion von Pfeiffer abgewiesen und als Figur getilgt. Die anständige Eva hingegen wird am Ende die Verlobte Pfeiffers und somit für ihr Verhalten belohnt. Auf diese Art und Weise stellt der Film deutlich aus, welches Frauenbild wünschenswert ist. Aus der Darstellung der Frauen ableitbare Normen sind, dass Frauen sich nicht promiskuitiv verhalten sollen und es für sie erstrebenswert ist, von einem erfolgreichen Mann als Ehefrau erwählt zu werden.

Des Weiteren wird nationalsozialistische Ideologie in DIE FEUERZANGENBOWLE über die Lehrerfiguren vermittelt. Zentral hierfür ist eine Aussage von Dr. Brett, die er im Gespräch mit Professor Bömmel über die richtige Lehrmethode trifft:

Junge Bäume, die wachsen wollen, muss man anbinden, dass sie schön und gerade wachsen, nicht nach allen Seiten ausschlagen, und genauso ist es mit den jungen Menschen. Disziplin muss das Band sein, das sie bindet, zu schönem geraden Wachstum. (DIE FEUERZANGENBOWLE: 01:25:28–01:25:42)

An dieser Stelle wird die nationalsozialistische Ideologie manifest. Das Zitat lässt sich in zweierlei Hinsicht an die nationalsozialistische Ideologie anschließen. Zum einen geschieht dies über die Metapher des Baumes. So war im Jargon der Propaganda der ‚deutsche Wald‘ ein Symbol für die Armee und für das Volk (vgl. Umersbach 2009: 91). Und zum anderen lässt sich das ‚gerade Wachstum‘ auf die Rassenideologie der Nazis beziehen. Diese Aussage erhält besonders durch die filminterne Situierung Kraft, denn Dr. Brett ist eine Figur, die von Kollegen respektiert wird und bei Schülern beliebt ist. Zudem ist er der einzige Lehrer, vor dem die Schüler tatsächlich Respekt haben und der sich nicht von ihnen überlisten lässt. Er verkörpert den jungen, kompetenten Lehrer der ‚neuen Zeit‘, wie die Nationalsozialisten selbst ihre Zeit bezeichneten. Alle anderen Lehrer werden als verschrobene, alte Herren dargestellt, die nicht in der Lage sind, die Schüler zu durchschauen und den Anforderungen des Lehrerberufs in der ‚neuen Zeit‘ nicht gewachsen sind. Somit steht Dr. Brett in Opposition zu den anderen Lehrerfiguren. Auch im Falle der Lehrer wird die Opposition über die Optik deutlich. Dr. Brett trägt keinen Bart und einen schlichten Anzug. Die anderen Lehrer hingegen tragen alle Bärte, deren Schnitt die Zugehörigkeit der Figuren zur Kaiserzeit signifizieren. Zudem tragen sie Anzüge, die modisch in die Vergangenheit verweisen. Im Falle von Professor Bömmel wird die Opposition auch über den sprechenden Namen vermittelt. Während der Name ‚Brett‘ Strenge und Stärke vermittelt, wirkt der Name ‚Bömmel‘ nicht ernstzunehmend, was sich in seiner antiautoritären Lehrmethode widerspiegelt.

Subversiv wirkt die nationalsozialistische Ideologie in DIE FEUERZANGENBOWLE, da nicht ein gleichgeschaltetes System präsentiert wird. Die Lehrer und die unterschiedlichen Lehrmethoden wahren den Anschein von Pluralität. Dr. Brett steht für ein System und für Lehrmethoden, die als die einzig zukunftsfähigen dargestellt werden. Die Schüler spielen einige Streiche, was in dem Modell von Welt zwar nicht erwünscht ist, aber toleriert wird; der Eindruck eines repressiven Systems kommt nicht auf. Am Ende beweist Johannes Pfeiffer, dass er bereits vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist. Er kann als Schriftsteller mit seinem Verdienst leben und verkörpert so den männlichen Versorger, was er seinem Schwiegervater in spe per Einkommensnachweis unterbreitet. Sein Grenzübertritt, der darin besteht, sich als Primaner auszugeben, wird nicht sanktioniert. Ganz im Gegenteil: Das Aufdecken seiner wahren Identität am Ende des Films, ermöglicht es Johannes Pfeiffer, die Tochter des Direktors zu heiraten.

Ausblick: Weitere Ansatzpunkte im Feld einer filmnarratologischen Kultursemiotik
Wie eine exemplarische Analyse aufzeigt, liefert Nies mit seinem Fragenkatalog konkrete Ansatzpunkte und stellt hohe Operationalisierung her. Es wurden in der vorliegenden Erprobung der Methode nicht alle Fragen des Katalogs in gleichem Maße berücksichtigt. Dies liegt darin begründet, dass in Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung nicht alle Fragen des Katalogs zielführend sind. So wurde in diesem Fall beispielsweise die Frage (1) vernachlässigt. Dies ist dadurch zu rechtfertigen, dass es das Ziel der Analyse war, zu untersuchen, wie nationalsozialistische Ideologie in DIE FEUERZANGENBOWLE eingearbeitet ist. Hierfür ist es nicht gänzlich irrelevant, welche Themen in der ästhetischen Kommunikation der Zeit dominant verhandelt werden, aber es ist auch nicht zentral, da die Fragestellung eher darauf abzielt, zu untersuchen, wie Werte, Normen und Ideologeme innerhalb eines einzelnen Textes verhandelt werden. Bei zu starrer Orientierung an dem Fragekatalog besteht die Gefahr, dass nicht spezifisch genug an der Fragestellung gearbeitet wird.

Es konnte gezeigt werden, wie durch das Einbinden der Kultursemiotik weitere Bedeutungsaspekte eines Films entschlüsselt werden können, die ohne Beachtung des Kontextes zunächst nicht erkennbar sind. So sind beispielsweise die Beobachtungen, dass es eine Rahmen- und Binnenhandlung gibt und dass das Thema ‚Schulzeit‘ behandelt wird zunächst bloße Feststellungen. Wenn aber die Entstehungszeit, die von Krieg und Diktatur geprägt war, berücksichtig wird, entfaltet sich die eskapistische Bedeutungsdimension.

Wie im ersten Teil dieses Artikels bereits deutlich wurde, fehlt es in der kultursemiotischen Forschung an Einheitlichkeit. Die Ansätze und die Terminologie von Nies, Titzmann und Siefkes sind divers und es gibt darüber hinaus weitere Herangehensweisen an die Fassung von Text und Kontext aus unterschiedlichen Disziplinen. Weitere Ansätze sind beispielsweise die literaturwissenschaftlichen Text-Kontext-Theorie von Moritz Baßler sowie die Untersuchungen von Roland Posner und Ansgar Nünning. Posner nähert sich in seiner Forschung der Kultursemiotik ausgehend von der Kulturwissenschaft, während Nünning aus einer narratologischen Perspektive argumentiert. Ein potenzielles Vorhaben, das die kultursemiotische Forschung voranbringen würde, wäre es, die diversen und interdisziplinären Ansätze zu ordnen und in Beziehung zu setzen, um so einen besseren Überblick über das Forschungsgebiet zu gewährleisten.


Filme

ALTES HERZ WIRD WIEDER JUNG (D 1942/43, Erich Engel).

DIE FEUERZANGENBOWLE (D 1944, Helmut Weiss).

HITLERJUNGE QUEX (D 1933, Hans Steinhoff).

JUD SÜß (D 1940, Veit Varlan).

Forschungsliteratur

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Posner, Roland (2003): „Kultursemiotik“. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar, S. 39–66.

Siefkes, Martin (2013): „Wie wir den Zusammenhang von Texten, Denken und Gesellschaft verstehen. Ein semiotisches 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse“. In: Zeitschrift für Semiotik 35/3–4, S. 353–392.

Titzmann, Michael (1993): Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. 3. Aufl., München.

Titzmann, Michael (2017): „Propositionale Analyse und kulturelles Wissen“. In: Ders. u. Hans Krah (Hg.): Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau, S. 81–108.

Umbersbach, Victoria (2009): Im Wald, da sind die Räuber. Eine Kulturgeschichte des Waldes. Berlin.