Unzuverlässigkeit im Film

Anna Louisa Duckwitz, Johannes Ueberfeldt, Annika Herrmann

 

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Definition
Unzuverlässigkeit im Film ist ein „dehnbares und unklar umrissenes Konzept“ (Laass 2008: 252), das in seiner Theoretisierung an das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens in der Literatur angelehnt ist. Filmisches Erzählen wird als unzuverlässig definiert, wenn bezüglich der diegetischen Welt unwahre Informationen bereitgestellt (,misreporting‘; Bordwell 1985: 60) oder in Hinblick auf ihr Verständnis unabdingbare Informationen zurückgehalten (,underreporting‘; ebd.) werden.

Grundsätzlich unterschieden werden muss zwischen Verfahren der zeitlichen Distribuierung und Zurückhaltung von Wissen zwecks Spannungserzeugung einerseits und aufgrund der diegetischen Beschaffenheit andererseits. Das Zurückhalten von Informationen erfolgt beim unzuverlässigen Erzählen – anders als im Fall narrativer Strategien der Spannungserzeugung – auf der Ebene der Histoire (vgl. Kaul/Palmier 2016: 141); die Informationsasymmetrie ist Teil der Narration und nicht bloß eine Entscheidung innerhalb der Produktion. Am Beispiel von The Sixth Sense (USA 1999) wird die Information, dass die perspektivierte Person bereits tot ist, nicht (nur) aus Spannungsgründen zurückgehalten – wie beispielsweise die Identität des Täters im TV-Krimi –, sondern weil sie sich bis zu dem Zeitpunkt selbst nicht ihres Zustands bewusst ist (Subjektivität/Wahrnehmung/(Psycho-)Pathologie von Figuren). Ebenfalls kann man sagen, dass „Unzuverlässigkeit oft daher [rührt], dass die scheinbar objektive Erzählung aus der Subjektive der ProtagonistIn erzählt wird; es fehlen Markierungen des Wechsels von der ,objektiven‘ Sicht zur subjektiven Wahrnehmung der ProtagonistIn“ (Klamt 2015: 22). Eine eindeutige Entscheidung zwischen Innen- und Außenwelt ist nicht möglich, die personengebundene subjektive Perspektive offenbart sich erst nach und nach oder an einem plötzlichen Wendepunkt. Liegt dieser Wendepunkt am Filmende, spricht man auch von einem Final Plot Twist (Plot Twist, Final Twist). Die Enthüllung bislang fehlender oder fehlerhaft gegebener Informationen trifft dabei die Zuschauenden im gleichen Moment wie ProtagonistInnen.

Neben umfassend unzuverlässig erzählten Filmen sind kurzzeitig unzuverlässig erzählte Sequenzen innerhalb eines Filmes – beispielsweise in Form von Träumen oder Erinnerungen – zu erwähnen (Mentale Metadiegese). Beide Formen können nur durch den inhaltlichen Kontext als unzuverlässig aufgelöst werden. Kritik am Begriff der erzählerischen Unzuverlässigkeit betrifft insbesondere den impliziten Verweis auf ,zuverlässiges Erzählen‘, das seinerseits als Konzept nicht hinreichend definiert ist. Hinzu kommt die tendenziell diffuse Definition im aktuellen filmwissenschaftlichen Diskurs sowie die Diskrepanz zur Verwendung des Begriffs in der Literaturwissenschaft (vgl. Leiendecker 2015: 53–54).

Forschung
Den Grundstein für die Forschung zu erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Literaturwissenschaft legte Wayne Booth in The Rhetoric of Fiction. In der Literaturwissenschaft ist das Phänomen der erzählerischen Unzuverlässigkeit gemeinhin eng an Persönlichkeitsmerkmale von personalisierbaren, meist homodiegetischen Erzählerfiguren geknüpft. Demgegenüber brachte die in den 2000er Jahren als Reaktion auf die Häufung unzuverlässig erzählter Filme einsetzende Publikationsflut zu diesem Thema weitaus weniger Einigkeit mit sich als erhofft. Ein relevanter Diskussionspunkt ist dabei die Bindung unzuverlässigen Erzählens an einen personalisierbaren Erzähler oder an den Erzählvorgang ohne eine solche Instanz. Erstere Position vertritt beispielsweise Seymour Chatman (1990), der unzuverlässiges Erzählen eng an einen homodiegetischen voice-over narrator bindet, für Letztere plädiert exemplarisch Laass (2008).

Als typologischen Vorläufer filmisch unzuverlässigen Erzählens bezeichnen Kaul/Palmier (2016) die wertende Unzuverlässigkeit in Form von unglaubwürdigen Erzählinstanzen, die aus homodiegetischer Perspektive Ereignisse auffällig eigensinnig bewerten und insofern eine Divergenz erzeugen zwischen explizit Dargestelltem und implizit Bezeichnetem. Dementgegen setzen Kaul/Palmier den Typ der faktualen Unzuverlässigkeit, der sich anstelle einer Bewertung von Ereignissen auf deren Darstellung selbst bezieht. Diese Form von Unzuverlässigkeit findet sich als typisches Merkmal der Filme des Genres, das u.a. unter dem Begriff Mind-Bender gefasst wird (Mind-Bender: Forschung, Positionen, Begriffe). Als weitere häufige Elemente gelten der damit einhergehende Plot Twist (Plot Twist, Final Twist) und die Psychopathologie der ProtagonistInnen (Subjektivität/Wahrnehmung/(Psycho-)Pathologie). Das seit der Jahrtausendwende zunehmende Auftauchen von Plot Twists im Hollywood-Kino führt mittlerweile zu höchst elaborierten und selbstreflexiven Ausformungen narrativer Unzuverlässigkeit und insbesondere der Tendenz, diese durch das Zusammenspiel verschiedener medialer Kanäle im Film auszuspielen, wobei besonders die logische Privilegierung des Bildes sukzessive unterlaufen wird.

Funktionsweise
Täuschende Narrationsverfahren im Film beruhen hinsichtlich ihrer Wirkmechanismen auf einer Instrumentalisierung der Sehgewohnheiten des Publikums: Zum einen kann eine subjektive Perspektive nur durch ihren Kontext als solche erkannt werden; zum anderen tendieren klassische Hollywood-Filme meist zur auktorialen Erzählhaltung. ZuschauerInnen schließen also gemäß diesen Konventionen im Falle mangelnder Differenzierungs- und Zuordnungsmöglichkeiten der Perspektive, also bei fehlender Markierung der subjektiven Wahrnehmung, auf eine grundsätzlich auktoriale Erzählinstanz. Die zunehmende Sensibilisierung des Publikums durch den Eingang unzuverlässiger, filmischer Erzählverfahren in den Mainstream wirkt sich nun wiederum ihrerseits prägend auf die Gestaltung der Filme aus (vgl. Kaul/Palmier 2016: 142). Dies lässt sich am Beispiel von Robert Schwentkes FLIGHTPLAN (D/USA 2005) festmachen, der eine verzerrte homodiegetische Wahrnehmung in Form von Psychopathologie der Protagonistin nur suggeriert und insofern die Publikumserwartung durch Unzuverlässigkeitssignale ins Leere laufen lässt. Auch viele Filme David Lynchs spielen mit der Erwartung der RezipientInnen, indem die erwartete Auflösung der unzuverlässig erzählten Weltordnung nicht erfolgt, sondern beispielsweise im Fall von LOST HIGHWAY (F/USA 1997) die scheinbar unzuverlässige Erzählstruktur nicht naturalisiert wird. Leiendecker und andere sprechen in diesem Fall von unentscheidbaren Filmen, die aufgrund der nicht möglichen Naturalisierung von unzuverlässig erzählten Filmen abzugrenzen sind (Narrative ,Verrätselung‘). Für sein Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit formuliert Leiendecker folgende einschränkende Bedingungen: Die erzählerische Unzuverlässigkeit müsse erstens rein werkintern, zweitens durch das Gesamtkonzept intendiert, drittens durch den Bezugsrahmen des zuverlässig erzählten Kontextes nach erfolgter Täuschung eindeutig auflösbar sein und es müsse viertens ein Mangel an der Bereitschaft vorliegen, obligatorisches Wissen an die RezipientInnen weiterzugeben (,uncommunicative‘) (vgl. Leiendecker 2015: 35–40).

Obwohl Leiendecker motiviert ist, eine weder zu eng noch zu weit gefasste Definition zu formulieren, verengen seine beschränkenden Bedingungen den Begriff des unzuverlässigen Erzählens auf ein Konzept, mit welchem nur die wenigsten Mind-Bender vereinbar sind. Vor allem die Bedingungen der Auflösbarkeit und Eindeutigkeit sind dabei häufig als problematisch zu bewerten.


Filme

LOST HIGHWAY (F/USA 1997, David Lynch).
FLIGHTPLAN (FLIGHTPLAN - OHNE JEDE SPUR, D/USA 2005, Robert Schwentke).
THE SIXTH SENSE (USA 1999, M. Night Syamalan).

Forschungsliteratur

Bildhauer, Katharina: Drehbuch reloaded. Erzählen im Kino des 21. Jahrhunderts. Konstanz 2007.

Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago/London 1983.

Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. London 1985.

Chatman, Seymour: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca/London 1990.

Dablé, Nadine: Leerstellen transmedial. Auslassungsstrategien als narrative Strategie in Film und Fernsehen. Bielefeld 2012.

Helbig, Jörg (Hg.): Camera doesn’t lie. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeiten im Film. Trier 2006.

Kaul, Susanne; Jean-Pierre Palmier: Die Filmerzählung. Eine Einführung. Paderborn 2016.

Klamt, Marlies: Das Spiel mit den Möglichkeiten. Variantenfilme − Zwischen Multiperspektivität und Chaostheorie. Stuttgart 2015.

Krützen, Michaela: Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood. Frankfurt a.M. 2010.

Kuhn, Markus: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York 2011.

Laass, Eva: Broken Taboos, Subjective Truths, Forms and Functions of Unreliable Narration in Contemporary American Cinema. A Contribution to Film Narratology.
Trier 2008.

Leiendecker, Bernd: ,They Only See What They Want To See‘. Geschichte des unzuverlässigen Erzählens im Film. Marburg 2015.

Liptay, Fabienne/Yvonne Wolf (Hgg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005.

Orth, Dominik: Lost in Lynchworld. Unzuverlässiges Erzählen in David Lynchs Lost Highway und Mulholland Drive. Stuttgart 2005.

Schlickers, Sabine: „Lüge, Täuschung und Verwirrung. Unzuverlässiges und Verstörendes Erzählen in Literatur und Film“. In: Diegesis. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 4/1, S. 49–67. https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article /download/190/258 (07.12.16).

Strank, Willem: Twist Endings. Umdeutende Film-Enden. Marburg 2014.

Thon, Jan-Noël: „Mind-Bender: Zur Popularisierung komplexer narrativer Strukturen im amerikanischen Kino der 1990er Jahre“. In: Sophia Komor/Rebekka Rohleder (Hgg.): Post-Coca-Colanization. Zurück zur Vielfalt?. Frankfurt am Main 2009, S. 175–192.

Vogt, Robert: „Kann ein zuverlässiger Erzähler unzuverlässig sein? Zum Begriff der ,Unzuverlässigkeit‘ in Literatur- und Filmwissenschaft“. In: Susanne Kaul u.a. (Hgg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit − Audiovisualität − Musik. Bielefeld 2009, S. 35–56.

Wittmann, Matthias: „Where Is My Mind? Von Gedächtnislücken und Gedächtnistücken“. In: Maske und Kothurn: Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft 53/2–3 (2007), S. 97–109.