Gesprächsabend „Tradition und Rationalität“

Reihe „Tradition(en): interdisziplinär und transepochal“

Tradition und Rationalität gelten oft als Gegensatzpaar: Vermeintlich unreflektierte Formen des Handelns werden im Kontext von Modernisierungstheorien mit rational geprüften und durchdachten Handlungen kontrastiert. Diese Schematisierung wurde häufig kritisiert, hinterlässt aber dennoch Spuren. In ihrem Gespräch fragten die Historikerin Prof. Dr. Silke Mende, der Philosoph Prof. Dr. Michael Quante sowie der Soziologe Prof. Dr. Joachim Renn danach, wie Tradition und Rationalität soziologisch und philosophisch, aber auch anhand ausgewählter Beispiele aus der Geschichte zueinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Ihre einführenden Statements sowie ein Gesamtmitschnitt des Gesprächs lassen sich hier anschauen. Den Abend der Gesprächsreihe „Tradition(en): Interdisziplinär und transepochal“ am 28. Juni 2022 moderierte Jürgen Kaube, Chef des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. (apo/sca)

Historische Irritationsmomente: Tradition und Rationalität als Gegensatzpaar der Moderne

Die Historikerin Prof. Dr. Silke Mende erinnerte daran, dass die häufig binär gedachte Opposition „Tradition versus Rationalität“ wesentlich durch die Moderne geprägt worden sei. „Rationalität steht dabei für Modernität und Fortschritt, gegebenenfalls auch für Zivilisation.“ Tradition werde eher mit Rückständigkeit und Unreflektiertheit verbunden. Dennoch ließen sich stets Mischformen und Irritationsmomente beobachten, etwa anhand von spirituellen Aufbruchs- und Protestbewegungen wie der Anthroposophie oder der Hinwendung zu fernöstlichen Traditionen, die sowohl um 1900 als auch verstärkt in den 1970er Jahren aufkamen: „Diese Bewegungen galten oft als Flucht vor einer als kalt empfundenen Rationalität“, erläuterte Mende. Gleichzeitig seien deren Anhänger eindeutig Kinder der Moderne.

Die Dichotomie sei zudem westlich-europäisch gerahmt und speiste sich aus der Abgrenzung zum vermeintlich traditionalen ‚Anderen‘. Das zeige sich etwa am Verhältnis von Religion und Politik im republikanischen Frankreich am Übergang zum 20. Jahrhundert. „Ziel ist ein laizistischer Staat in Rückbindung an Werte der französischen Revolution wie Aufklärung und Rationalität. Die katholische Kirche wird als Quelle von Aberglauben und Rückwärtsgewandtheit, teilweise auch Unzivilisiertheit gesehen und zurückgedrängt.“ Außereuropäische Gesellschaften seien ähnlich wahrgenommen worden, denn die innenpolitischen Bestrebungen seien mit der zweiten Phase der französischen Kolonialexpansion zusammengefallen. „Viele gesellschaftspolitische Debatten sind bis heute von der Gegensatzbildung in der Moderne und deren westlich-europäischer Prägung bestimmt“, bilanzierte Silke Mende. (apo/sca)

Ein soziologischer Blick: Das Verhältnis von Tradition und Rationalität neu konstruieren

Der Soziologe Prof. Dr. Joachim Renn führte am Beispiel von Max Weber (1864-1920) und Hans-Georg Gadamer (1900-2002) aus, wie Tradition und Rationalität aus soziologischer und philosophischer Perspektive in Spannung zueinanderstehen. „Weber unterscheidet zwischen tradionalen und modernen Gesellschaften. Gadamer hingegen relativiert diesen Gegensatz, indem er nach den nicht rational erfassbaren Voraussetzungen von Wissenschaft fragt“, erläutert Renn.

Das 20. Jahrhundert sei geprägt von der Debatte um die Grenzen der Durchrationalisierbarkeit von Gesellschaften, konkret von Demokratien, die sich über Verwaltung organisierten und damit Bürokratieprobleme herbeiführten. „Gegenwärtig beobachten wir eine Traditionalität der rationalen Orientierung, die sich etwa in einer allgemeinen Skepsis gegenüber Letztbegründungen oder der Universalisierbarkeit von Normen äußert“, führte der Soziologe aus. Sowohl in der Theoriedebatte als auch gesellschaftspolitisch müsse das Verhältnis von Tradition und Rationalität neu konstruiert werden. (apo/sca)

In der Gegenwart: Rationalität unter Druck?

Die Schwierigkeiten, die aus der nicht eindeutigen Definition der Begriffe „Tradition“ und „Rationalität“ entstehen, beleuchtete der Philosoph Prof. Dr. Michael Quante. „Sie werden als Kampfbegriffe verwendet, um etwa ein Defizit des politischen Gegners oder ein gesellschaftliches Ziel zu bezeichnen.“ Rationalität sei aktuell unter Druck geraten: „Sie gilt in Anlehnung an die Marxʼsche Ideologiekritik als eine historisch zu kontextualisierende Ideologie, die einen Herrschaftsanspruch vor sich herträgt“, so Quante. Es gebe jedoch keine alternativen Rationalitäten, die auf formalen begründungstheoretischen Grundlagen basierten.

Nach Georg Wilhelm Friedlich Hegel (1770-1831) habe die Philosophie allerdings von der Idee einer sich selbst begründenden Vernunft Abstand genommen, daher müsse es Wissensbestände geben, von denen seit jeher ausgegangen werde. „Diese Haltung geht bis auf Aristoteles zurück“, betont Quante. „Auch für aktuelle Debatten stellt sich die Frage, wie die Elemente Tradition und Rationalität so integriert werden können, dass sie plausible Antworten auf echte Probleme liefern können, anstatt sich durch die Identifikation mit unklaren Begriffen in Scheinprobleme zu verirren“, schlussfolgert der Philosoph. (apo/sca)