Lehr-Lern-Labor im Fach Musik: Professionelles Handeln in digitalen Lernumwelten

Für den Musikunterricht bringt die Digitalisierung nicht nur methodische Innovationen, sie verändert gleichzeitig den Gegenstand Musik selbst. Der mit der medialen Entwicklung ver-bundene Wandel musikalischer Erscheinungs- und Verbreitungsformen, Produktionsweisen und musikkultureller Praktiken hat für die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern eine erhebliche Relevanz. Für das Fach Musik und seine Lehramtsausbildung bedeutet dies, dass sowohl in didaktischer als auch in fachlicher Hinsicht Qualifikationsbedarf besteht. Das Lehr-Lern-Labor Musikpädagogik dient daher neben dem Ausbau von Lehr-Lern-Kompetenz auch dem der fachlichen Kompetenz in der Musikpraxis mit mobile Devices.
Bachelor-Studierende erstellen im Rahmen des Labors digitale Unterrichtsmaterialien bzw. „Schulbücher“ (iBooks) für die Arbeit an iPads unter Einbindung unterschiedlicher Musik-Apps aus den Bereichen Producing, Prosuming und virtuelles Instrumentalspiel (z.B. Garage Band, Gestrument, Impactor). Dabei steht die Verknüpfung kreativer Gestaltungsaufgaben mit reflexiven Vertiefungen im Mittelpunkt. Die erstellten Materialien werden in Unter-richtseinheiten mit halben Schulklassen erprobt. Durch die verkleinerte Lerngruppe und die Arbeit im Lehrendenteam ergibt sich eine Komplexitätsreduktion.
Planung, Durchführung und Auswertung erfolgen im Rahmen eines forschenden Lernprozes-ses. In Anlehnung an partizipative Forschungsmodelle werden überwiegend qualitative Da-ten in Form von Selbstreflexionen und Beobachtungen der Studierenden sowie von Schüler-feedbacks gewonnen und ausgewertet. Ein wesentlicher Aspekt spielt dabei die theorieba-sierte Reflexion der Lehrendenrolle vor dem Hintergrund des musikpädagogischen For-schungsstands: Digitale musikalische Praktiken zeichnen sich auch dadurch aus, dass weit-gehend selbstgesteuert gearbeitet und im informellen Rahmen gelernt wird. Werden sie zum Gegenstand von Unterricht, liegt es nahe, dem eigenständigen Entdecken auch hier besonders viel Raum zu geben und die Rolle der Lehrkraft dementsprechend anzupassen, indem der Fokus auf der Ermöglichung und Begleitung autonomer Lern- und Gestaltungs-prozesse liegt. Im Lehr-Lern-Labor können die Studierenden sich selbst in dieser Rolle erpro-ben und ihre Erfahrungen reflektieren.
Ein weiterer Schwerpunkt der Beobachtung und didaktischen Reflexion liegt auf dem Um-gang mit zwei Diversitätsaspekten, die für den Musikunterricht eine besondere Relevanz haben. Der erste betrifft die Ungleichheiten in den Lernvoraussetzungen zwischen Schüle-rinnen und Schülern mit und ohne Zugang zu außerschulischen musikalischen Bildungsange-boten. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit der Einsatz von Mobile Devices im Mu-sikunterricht dazu beitragen kann, diejenigen besser zu erreichen, die in ihrer Freizeit nicht zusätzlich durch Musikschulunterricht gefördert werden – eine Benachteiligung, die häufig mit den ökonomischen Voraussetzungen im Elternhaus in Verbindung steht. Diese Gruppe hat im Hinblick auf viele Inhalte des schulischen Musikunterrichts weniger gute Vorausset-zungen. Der zweite Fokus liegt auf der Kategorie Gender: Es soll beobachtet werden, welche Effekte die Einbindung musikbezogener Technik in den Musikunterricht auf das Engagement von Jungen und Mädchen hat und ob sie zur Realisierung eines gendersensiblen Musikunter-richts beitragen kann. Dabei ist zu prüfen, inwieweit im traditionellen „Mädchenfach“ Musik (vgl. Heß 2017) durch die Arbeit mit digitalen Medien mehr Jungen motiviert werden oder Mädchen eher Zugang zu musikbezogener Technik finden, sodass Geschlechterpolarisierun-gen an Relevanz verlieren können. Im forschenden Lernen entwickeln die Studierenden ihre Reflexionskompetenz im Hinblick auf die genannten Heterogenitätsaspekte weiter und set-zen sich mit den Möglichkeiten von Binnendifferenzierung und gendersensiblem didakti-schen Handeln auseinander.


Literatur
Ahlers, M. & Godau, M. (2019). Digitalisierung – Musik – Unterricht. Rahmen, Theorien und Projekte. Diskussion Musikpädagogik 82/19, 4-9.
Ahner, P. (2017). Musiklehrerausbildung in der digitalen Gesellschaft: Dossier Nr. 6. Kulturelle Bildung digital - Vermittlungsformen, ästhetische Praxis und Aus- und Weiterbildung. Online verfügbar unter: www.kultur-bildet.de/sites/default/files/mediapool/dossier/pdf/philipp_ahner_musiklehrerausbildung_in_der_digitalen_gesellschaft_0.pdf
Godau, M. & Krebs, M. (2016). Songwriting mit Apps. Live-Performance von Schülerkompositionen mit iOS-Apps als Beispiel authentischen Musiklernens mit digitalen Medien im Unterricht. MUC – Musikunterricht und Computer, 38-45.
Godau, M. (2016). „ ‚Am besten ist, der Musiklehrer geht einen Kaffee trinken oder was weiß ich –’ Zur Leh-rer_innenrolle in selbstständigen Lernprozessen im Musikunterricht“. In J. Knigge & A. Niessen (Hrsg.), Musikpädagogik und Erziehungswissenschaft (S. 155-169). Münster: Waxmann (Musikpädagogische Forschung 37).
Green, L. (2008). Music, informal learning and the school: a new classroom pedagogy. Aldershot: Ashgate (Ashgate popular and folk music series).
Siedenburg, I. (2019). „Potenzialorientierung im Fach Musik: Individualisiertes Lernen im Kollektiv“. In M. Veber, R. Benölken & M. Pfitzner (Hrsg.), Potenzialorientierte Förderung in den Fachdidaktiken (S. 235-250). Münster: Waxmann (Begabungsförderung: Individuelle Förderung und Inklusive Bildung 7).
Siedenburg, I. (2017). „Populäre Musik, Gender und Musikpädagogik: Wirkungsebenen der Kategorie Geschlecht in Musikalischen Aneignungs- und Vermittlungsprozessen“. In D. Filter & J. Reich, Jana (Hrsg.), love & passion: Gender und Musik(praxis) (S. 217-252). Norderstedt: BoD - Books on Demand) (Forum GenderWissen 6).
Unger, H. (2013). Partizipative Forschung: Einführung in die Forschungspraxis. 2014. Wiesbaden: Springer VS.

Betreuerin: Prof. Dr. Ilka Siedenburg
Promotionsvorhaben: Tillmann Eller - "Das iPad als Schulbuch, Werkzeug, Musikinstrument, Tonstudio oder Fenster zu digitalen Musikwelten: Professionalisierung Studierender im Lehr-Lern-Labor für einen Musikunterricht mit heterogenen Lerngruppen"