Die Biochemikerin Prof. Dr. Lydia Sorokin ist Sprecherin des Cells in Motion Interfaculty Centres und leitet das Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie an der Universität Münster.
© Uni MS/Thomas Hauss

„Ich wusste schon als Kind, dass ich Wissenschaftlerin werden möchte“

Biochemikerin Prof. Dr. Lydia Sorokin über ihre Forschung zur „extrazellulären Matrix“, die Liebe zur Natur und neue digitale Formate für den Austausch mit internationalen Kolleginnen und Kollegen

Frau Prof. Sorokin, mit welchem Forschungsthema beschäftigen Sie sich?

In meiner Arbeitsgruppe beschäftigen wir uns mit der extrazellulären Matrix – das sind Proteinstrukturen, die von Zellen gebildet werden und die Zellen in Geweben umgeben. Diese Strukturen bilden aber nicht nur ein Gewebegerüst, sondern können Zellfunktionen entscheidend beeinflussen. In den vergangenen zehn Jahren ist stark in den Fokus gerückt, dass die molekularen und mechanischen Signale, die von der extrazellulären Matrix ausgehen, wie Yin und Yang zusammenwirken – also als gegensätzliche und sich ergänzende Prinzipien – und so die Form und Funktion des Gewebes bestimmen.

Wir untersuchen dies bei einer spezialisierten extrazellulären Matrix: der Basalmembran. Das ist eine dünne zweidimensionale Struktur – ähnlich wie ein Blatt Papier, aber natürlich tausendmal dünner – und sie ist ein wesentlicher Bestandteil von zellulären Barrieren, die im Körper Gewebe und Organe voneinander abgrenzen. Die äußere Wand von kleinen Blutgefäßen, den Kapillaren, ist zum Beispiel eine Basalmembran. Sie ist mit der Endothelzellschicht verbunden, die die innere Wand der Blutgefäße bildet, und grenzt sie vom umliegenden Gewebe ab. Bei Entzündungen wandern Zellen des Immunsystems, die in den Blutgefäßen schwimmen, durch die Endothelzellschicht und die Basalmembran ins Gewebe, um dort die Entzündung zu bekämpfen. Wir haben schon wesentliche Erkenntnisse darüber beigetragen, wie die Basalmembran das Verhalten der Immunzellen und der Endothelzellen beeinflusst. Diese Vorgänge untersuchen wir bei Mäusen und beschäftigen uns besonders mit Entzündungen im Gehirn, um zum Beispiel die Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose besser zu verstehen. Außerdem wollen wir herausfinden, wie sich diese Entzündungsprozesse von denen in anderen Organen unterscheiden.

Video: Mikroskopieaufnahme von Immunzellen (pink), die im Organismus einer Maus aus dem Hohlraum der Blutgefäße ins Gewebe wandern.
© Jian Song, Lydia Sorokin

Was begeistert Sie während Ihrer täglichen Arbeit?

Ich bin immer wieder begeistert, wenn ich mir zelluläre Prozesse live anschaue. Mit dem Intravitalmikroskop kann man wirklich jeden einzelnen Schritt der Immunzellen-Wanderung beobachten und sehen, wie die Zellen ihre Form verändern, während sie auf und zwischen den Endothelzellen wandern – und dass sie sich eine ganze Weile zwischen der Endothelzellschicht (im Video grün) und der Basalmembran (im Video nicht sichtbar) aufhalten, bis sie sich durch die Basalmembran hindurchdrücken und ins Gewebe wandern.

Sehr spannend finde ich es auch zu versuchen, diese Situationen in künstlichen Gewebemodellen nachzubilden, um bestimmte Schritte genauer untersuchen zu können. Wir haben zum Beispiel beobachtet, dass Immunzellen, die entlang der Basalmembran unter dem Endothel wandern, die Endothelzellschicht in einer wellenförmigen Bewegung in Richtung des Hohlraums der Blutgefäße nach oben drücken (wie im Video zu erkennen), während sich die Basalmembran nicht verformt. Das deutet darauf hin, dass räumlich gerichtete mechanische Signale im Spiel sein müssen. Das hätten wir nie herausbekommen, wenn wir es nicht in vivo – also im lebenden Organismus – gesehen hätten. Wenn wir diese Situation nun in vitro so nachbilden könnten, dass sich die Zellen fühlen als wären sie im Organismus, könnten wir es im Detail analysieren. Das ist allerdings eine Herausforderung, denn allein die Basalmembran besteht aus 25 unterschiedlichen Komponenten, die in der richtigen Menge und Anordnung zusammengebracht werden müssen.

Was macht Sie als Wissenschaftlerin persönlich aus?

Ich denke, das sind mein Enthusiasmus und meine Energie. Zumindest höre ich das häufig nach meinen Vorträgen. Man merkt glaube ich, dass ich das mit Herz und Seele mache. Ich wusste schon als Kind, dass ich Wissenschaftlerin werden möchte, und war viel in der Natur unterwegs. Ich bin in Westaustralien aufgewachsen und habe dort mit meinem Vater zum Beispiel Insekten und Frösche gesammelt. Hier in Münster habe ich auf dem Weg zum Institut eine Zeit lang zwei Eisvögel gesehen, die am Ufer des Schossgrabens genistet haben. Sowas macht mir Freude – ich bewundere die Natur.

Wie hat sich Ihre Arbeit als Wissenschaftlerin während der Corona-Pandemie verändert?

Während der Corona-Pandemie sind neue Wege entstanden, sich in der internationalen Fachcommunity sehr effizient über neue Entwicklungen zu informieren und auszutauschen. Ein absolutes Highlight sind für mich die digitalen „Global Immunotalks“ – den Tipp hat mir eine Freundin aus Schweden gegeben, die Immunologin ist. Auch im Gebiet der Gefäßbiologie sind digitale Vortrags- und Meetingformate entstanden, die zum Beispiel per Chat oder in virtuellen Räumen Möglichkeiten bieten, mit Kollegen zu interagieren. Die Leute sind auch in diesen Online-Formaten bereit, neue Dinge zu erzählen, die nicht unbedingt schon publiziert sind. Und es schafft schon Verbindung – so oft würde man Kollegen in den USA zum Beispiel sonst nicht sehen, und man hätte auch nicht so häufig die Möglichkeit, Vorträge sehr prominenter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu hören.

Ich habe auch das Gefühl, dass Formate, bei denen man sehen und zuhören kann, für jüngere Leute vielleicht zugänglicher sind als reiner Lesestoff. Einige Inhalte sind dauerhaft als Videos im Web verfügbar. Ich schaue außerdem jeden Tag durch die Tweets dieser Plattformen, meistens beim Frühstück, da ist man schnell auf dem neuesten Stand – das ist wirklich super. Auch bei unseren eigenen Veranstaltungen merken wir deutlich, dass wir jetzt mehr Zuhörer über Münster und Deutschland hinaus dabeihaben. Mein Team und ich tauschen uns seit einiger Zeit regelmäßig online mit einer anderen Arbeitsgruppe hier an der Uni Münster zum Thema Makrophagen aus. Das hat sich herumgesprochen und inzwischen sind auch Gruppen aus Bonn, Frankreich und sogar Israel dabei.

Links und im Interview erwähnte Veranstaltungsreihen