Die historische Friedensforschung – und dies gilt insbesondere für diejenige zum Westfälischen Frieden – hat sich bislang vornehmlich mit den Prozessen und Faktoren beschäftigt, die zum Abschluss von Friedensvereinbarungen bzw. -verträgen geführt haben. Weit weniger im Fokus standen diejenigen Vorgänge, die auf einen solchen Friedensschluss folgten: Wie wurden Friedensvereinbarungen also wahrgenommen, inwieweit und in welcher Weise wurden sie umgesetzt? Welche Probleme waren damit und mit den Folgen des Krieges gerade auf lokaler Ebene verbunden, und wie wurde versucht, mit diesen umzugehen?
Die Tagung setzt sich mit solchen Fragen auseinander, indem der Fokus auf die besonderen Bedingungen und Entwicklungen
in städtischen Gesellschaften gerichtet wird. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit nach dem Westfälischen Frieden, jedoch in vergleichender Perspektive, indem weitere Nachkriegszeiten im frühneuzeitlichen West- und Mitteleuropa in den Blick genommen werden. Drei Problemkomplexe, in denen sich der ambivalente Charakter solcher Übergangszeiten vom Krieg zu einem (dauerhafteren) Frieden besonders gut greifen lässt, stehen dabei im Mittelpunkt: (1) Konfliktlagen, die als kennzeichnend für städtische Nachkriegsgesellschaften der Frühen Neuzeit erscheinen (2) die vielfältigen Fragen, die mit dem Problem der Integration und Desintegration zusammenhängen und (3) die Art und Weise, wie sich Entwicklungen der Nachkriegszeit auf den städtische Raum auswirkten und sich in diesem manifestierten.
Die Anmeldung zur Tagung erfolgt über den Link zur Anmeldung
(28.-29. September 2023, Münster, Rüstkammer/Stadtweinhaus)
Donnerstag, 28. September
09:00-09:20
Ulrike Ludwig (Münster) et al.: Begrüßung und Einleitung
09:20-13:00: Sektion 1 „Konflikte“
Leitung/Moderation: Horst Carl (Gießen)
- Philip Hoffmann-Rehnitz et al. (Münster): „da man des lieben friedens noch keines weges versichert“: Konfliktkonstellationen und Problemwahrnehmungen in Münster nach dem Westfälischen Friedenskongress
- Christoph Volkmar (Magdeburg): Wie Magdeburg einmal den Frieden gewann und zweimal verlor
- Dirk Niefanger (Erlangen): „Der Fried hat uns genarrt.“ Nachkrieg im urbanen Umfeld. Literarische Perspektiven im 17. Jahrhundert
- Simon Karstens (Trier): Routinen des Unfriedens – die Stadt Trier in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
14:30-18:20: Sektion 2 „Integration/Desintegration“
Leitung/Moderation: Gabriele Haug-Moritz (Graz)
- Fabian Schulze (Augsburg): Kreistage als Friedenskongresse? Warum für die Herbeiführung des Friedens auch Städte fernab von Westfalen und Nürnberg eine Rolle spielten
- Christian Landrock (Magdeburg): „Die Waisen des Mars.“ Die (Re-)Integrationsversuche ehemaliger Soldaten des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel der kursächsischen Stadt Zwickau
- Jens Niebaum (Münster): Stadträumliche Erneuerung im Zeichen der Dynastie: Wien nach 1645 und 1683
- Renger de Bruin (Utrecht): Eine Stadt in Krieg und Frieden, Utrecht 1648-1748
Ab 19:00 Abendessen
Freitag, 29. September
09:00-12:40: Sektion 3 „Raum“
Leitung/Moderation: Birgit Emich (Frankfurt)
- Nikolas Funke (Münster): Der Weseler Stadtraum während des ‚Hundertjährigen Krieges‘ am Niederrhein (c.1570-1672)
- Judith Pollmann (Leiden): Post-war chronicling and urban space in the early modern Low Countries
- Eva-Bettina Krems (Münster): München nach dem Dreißigjährigen Krieg: Neudefinitionen von höfischen und städtisch-bürgerlichen Räumen
- Martin Scheutz (Wien): Die erste Gründerzeit Wiens nach 1683 – die Neubesetzung der Vorstadt nach der zweiten Belagerung Wiens durch die Osmanen
14:00-15:30: Abschlusspodium
Leitung/Moderation: Ulrike Ludwig
Statements/Kommentare: Horst Carl; Gabriele Haug-Moritz; Birgit Emich
Die gesammelten Abstracts als PDF-Datei
Philip Hoffmann-Rehnitz et al. (Münster)
„da man des lieben friedens noch keines weges versichert“: Konfliktkonstellationen und Problemwahrnehmungen in Münster nach dem Westfälischen Friedenskongress
Als Ort des Friedenskongresses befand sich Münster am Ausgang des Dreißigjährigen Kriegs in einer besonderen Situation. Nichtsdestotrotz (oder gerade deswegen) bedeutete der 1648 geschlossene Frieden auch für Münster einen Einschnitt und zeichnete sich die Zeit, die auf den Friedensschluss folgte, durch ein hohes Maß an Unsicherheit darüber aus, wie der weitere ‚Friedensprozess‘ verlaufen sollte und wie sich dies auf Münster und die städtische Gesellschaft auswirken würde. In dem Beitrag wird das Augenmerk auf alltägliche Problemlagen und ihre Wahrnehmung sowie auf innerstädtische Konfliktkonstellationen der Nachkriegszeit gelegt, die – auch aus Sicht der Zeitgenossen – im Zusammenhang mit der Kriegs- und Kongresszeit und deren Nachwirkungen sowie mit dem Friedensschluss und dem Übergang zu einem (noch unsicheren) Friedenszustand standen. Problemfelder, die in diesem Kontext (auch) für Münster eine besondere Rolle spielten, stellten zum einen die Finanzpolitik und das städtische Defensionswesen dar, hier speziell der Umgang mit den sich in Münster befindlichen Soldaten; zum anderen Aspekte, die wie Luxus- und Hochzeitsordnungen oder die Straßenreinigung die städtische Policey und das alltägliche Zusammenleben unter den Bürgern und Einwohnern Münsters betrafen.
Christoph Volkmar (Magdeburg)
Wie Magdeburg einmal den Frieden gewann und zweimal verlor
Die Erstürmung der Großstadt Magdeburg am 10. Mai 1631 gilt mit etwa 20.000 Todesopfern als der blutigste Tag des Dreißigjährigen Krieges. Die Stellung der Elbmetropole als Vorort im Osten des Reiches war für alle Zeiten gebrochen, der Wiederaufbau nahm 200 Jahre in Anspruch. Dennoch hielten die urbanen Eliten am alten Maximalziel der Reichsfreiheit fest. Mithilfe der Schweden schien es der Altstadt auf dem Osnabrücker Friedenskongress zu gelingen, diesen Status durchzusetzen, als Subvention für den Wiederaufbau wie als moralische Wiedergutmachung. Der Magdeburger Reichsdiskurs war ein Autonomiediskurs, doch der aufstrebende Fürstenstaat schlug hart zurück. Auf diplomatische Niederlagen vor Kaiser und Reichstag folgte die militärische Kapitulation vor den Truppen des brandenburgischen Kurfürsten im Sommer 1666, mit der die „Nachkriegszeit“ in Magdeburg endete und eine neue Epoche als preußische Festungsstadt begann.
Dirk Niefanger (Erlangen)
„Der Fried hat uns genarrt.“ Nachkrieg im urbanen Umfeld. Literarische Perspektiven im 17. Jahrhundert
Die bisherige Forschung zur Barockliteratur fokussiert besonders stark den Dreißigjährigen Krieg als zentrales Thema (etwa Kaminski 2004, Meid 2017), übersieht aber die sich ausgesprochen vielschichtig präsentierenden Nachkriegsperspektiven vieler Dichtungen des 17. Jahrhunderts. Thematisch reichen diese allein bei den bekannteren Autoren vom überflüssig gewordenen Soldaten (Gryphius, Logau) und verarmten Menschen (Harsdörffer), über Flüchtlingsschicksale (Klaj, Kaldenbach) und Traumata-Bewältigung (Grimmelshausen) hin zu Kriegsgewinnlern und religiös Geläuterten (Greiffenberg). Da Dichtungen des 17. Jahrhunderts meist keine konkreten historischen Schicksale behandeln, geben sie Auskunft über personale Typisierungen, die nicht nur als repräsentativ für ihre Zeit angesehen worden sind, sondern auch helfen sollten, komplexe Lebenswelten zu verstehen. Zu untersuchen wäre, ob die Nachkriegstypen an spezifische städtische Strukturen gebunden waren (Nürnberg, Breslau, Leipzig, Hamburg). Die Städte bildeten ja meist Zentren der Barockliteratur, in denen das Dichten als soziale Praxis eigener Art gedeihen konnte.
Simon Karstens (Trier)
Routinen des Unfriedens – Die Stadt Trier in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
In den ersten vier Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts war die Stadt Trier zunächst im Spanischen, dann im Polnischen Erbfolgekrieg insgesamt siebzehn Jahre militärisch besetzt. Der Beitrag wirft einen Blick auf die beiden Okkupationszusammenhänge und fragt anhand von Überlieferungen des Stadtrates – sowohl Ratsprotokollen wie auch Kommunikation mit Besatzungsmächten, den eigenen Bürgern und dem Landesherrn – nach den Handlungsspielräumen der städtischen Gemeinschaft. Ziel ist es, nachzuzeichnen wie städtischer Führungsgruppen in Kriegszeiten Routinen für das Überleben und die Bewahrung eigener Handlungsmacht entwickelten, und ob sie jene über eine längere Friedensphasen hinweg bewahrten oder bei Bedarf neu etablieren mussten.
Fabian Schulze (Augsburg)
Kreistage als Friedenskongresse? Warum über die Herbeiführung des Friedens nicht nur in Westfalen und Nürnberg verhandelt wurde
Dass der Unterzeichnung der Friedensverträge in Münster und Osnabrück noch weitere langwierige Verhandlungen folgten, um im Reich tatsächlich zu einer Demobilisierung der Truppen der kriegführenden Parteien zu gelangen, spielt bis heute in der historischen Erinnerungskultur in Deutschland kaum eine Rolle. Lediglich der Nürnberger Exekutionstag wird seit der Veröffentlichung einer grundlegenden Studie von Antje Oschmann vor etwas mehr als dreißig Jahren zumindest in der Forschung ab und an thematisiert. Doch weiterhin kaum erforscht ist der Fakt, dass in den späten 1640er Jahren nicht nur in Münster, Osnabrück und Nürnberg um die tatsächliche Herbeiführung eines Friedenszustands im Reich gerungen wurde, sondern auch auf diversen Kreistagen insbesondere in Süddeutschland. So trafen sich etwa die Reichs- und Kreisstände der Reichskreise Franken, Schwaben und Bayern teils schon wenige Wochen nach Unterzeichnung des IPM und des IPO zu regionalen diplomatischen Konferenzen unter anderem in Bamberg, Ulm und Wasserburg, um über Einquartierungen, Verproviantierungen, aber auch konkrete Abrüstungsmaßnahmen in ihren Regionen zu beraten. Im Falle Bayerns wurde sogar über die Demobilisierung und Abdankung der gesamten bayerischen Reichsarmada – immerhin in der Endphase des Krieges eine der relevantesten militärischen Kräfte auf Reichsboden – auf einem Kreistag entschieden. In diesem Beitrag soll nicht nur der Frage nachgegangen werden, was auf diesen Kreistagen am Ende des Dreißigjährigen Krieges diplomatisch beraten wurde, sondern auch untersucht werden, warum bestimmte Städte 1648 und in den Folgejahren Schauplatz regional bedeutsamer Tagungen auf Kreisebene wurden und welche Relevanz Kreistage für die entsprechenden Städte hatten. Ob diese Kreistage tatsächlich einen Beitrag zur Gewinnung des Friedens in ihren jeweiligen Regionen leisten konnten, gilt es ebenfalls zu beleuchten.
Christian Landrock (Magdeburg)
„Die Waisen des Mars.“ Die (Re-)Integrationsversuche ehemaliger Soldaten des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel der kursächsischen Stadt Zwickau
Zum Zeitpunkt der Westfälischen Friedensschlüsse standen noch hunderttausende von Soldaten mit ihren Angehörigen im gesamten Reich in militärischen Diensten. Doch was passierte mit den Soldaten, als der Frieden umgesetzt und die Armeen aufgelöst wurden? Das weitere Schicksal dieser Bevölkerungsgruppe stellt bis heute ein großes wissenschaftliches Desiderat dar. Am Beispiel der kursächsischen Stadt Zwickau wird die Beziehung zwischen den Veteranen des Dreißigjährigen Krieges und der Zivilbevölkerung analysiert. Im Zuge dessen werden 76 dokumentierte Veteranen und ihre jeweiligen Handlungsspielräume zur erfolgreichen (Re-)Integration in die städtische Nachkriegsgesellschaften betrachtet. Darauf aufbauend wird eine Typologie der verschiedenen Lebenswege der ehemaligen Soldaten in der Nachkriegszeit aufgestellt.
Jens Niebaum (Münster)
Stadträumliche Erneuerung im Zeichen der Dynastie: Wien nach 1645 und 1683
Im 17. Jahrhundert war die kaiserliche Haupt- und Residenzstadt Wien zweimal sehr greifbarer militärischer Bedrohung ausgesetzt: 1645, in der Spätphase des Dreißigjährigen Krieges, standen die Schweden am linken Ufer der Donau; 1683 musste sich die Stadt gar einer zweimonatigen Belagerung durch die osmanische Armee erwehren. Die nach verbreiteter Vorstellung göttlichem Beistand für das habsburgische Kaiserhaus zugeschriebene Überwindung dieser Gefahren wurde seitens der Dynastie jeweils genutzt, den inner- und vorstädtischen Raum durch Eingriffe an bestehenden Bauten sowie durch die Errichtung neuer Bauten und Denkmäler visuell und auch klanglich zu besetzen bzw. umzucodieren. Doch auch andere Kräfte, etwa der Wiener Magistrat und der Klerus, wirkten daran mit, um eigene Interessen zu befördern, wie etwa die Vorgänge um die Vertreibung der Wiener Juden aus dem Unteren Werd 1669/70 zeigen. Der Vortrag skizziert diesen Prozess einer sicht- und hörbaren Neuordnung des städtischen Raums im Zeichen der Domus Austriae zwischen 1645 und ca. 1715 anhand ausgewählter, vorwiegend sakraler Beispiele, fragt nach den zugrunde gelegten Deutungsmustern und Aussageabsichten und erörtert, welche Rolle die Überwindung kriegerischer Gefahr bzw. die Erinnerung an sie dabei spielte.
Renger de Bruin (Utrecht)
Eine Stadt in Krieg und Frieden, Utrecht 1648-1748
Utrecht hatte sich dem Vertrag von Münster aus ideologischen Gründen, aber auch wegen seiner Interessen in der Rüstungsindustrie widersetzt. Diese war in der Tat im Niedergang begriffen, und da die Stadt ein landwirtschaftliches Zentrum war, traf die europäische Agrarkrise nach 1650 auch sie hart. Die Besetzung durch die französische Armee in den Jahren 1672-1673 bedeutete Härte. Die Rückschläge führten zu einem demografischen Rückgang, der erst nach 1700 endete. Die Friedensverhandlungen in den Jahren 1712-1713 brachten einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die sich langsam erholende Landwirtschaft und die geringe Abhängigkeit vom Überseehandel, mit dem es immer schwieriger wurde, versetzten Utrecht in eine günstigere Position als holländische Städte wie Amsterdam. Ein Jahrhundert nach dem Frieden von Münster befand sich Utrecht im Aufschwung, während die einst blühenden Handelsstädte in Armut versanken.
Nikolas Funke (Münster)
Der Weseler Stadtraum während des ‚Hundertjährigen Krieges‘ am Niederrhein (c.1570-1672)
Das Schicksal Wesels war von 1570 bis 1672 vom Krieg geprägt. Der Unabhängigkeitskrieg in den Niederlanden, der Kölner Krieg, der Jülich-Klevische Erbfolgestreit, der Dreißigjährige Krieg und die sich anschließenden Auseinandersetzungen zwischen den Niederlanden und Frankreich destabilisierten die gesamte Region, gefährdeten aber die strategisch und wirtschaftlich bedeutende Stadt in besonderem Maß. Wesel wurde bedroht, belagert und besetzt, erlebte einen grundlegenden Bevölkerungswandel durch kriegsbedingte Pestwellen und die Einwanderung von Glaubensflüchtlingen, beherbergte spanische und niederländische Truppen und musste zweimal das Bekenntnis wechseln. Das Paper fragt, wie sich die Stadt und ihre Einwohner in der latenten und akuten kriegerischen Bedrohung einrichteten, wie der Stadtraum durch die Kriegsereignisse geprägt wurde und wie man auf die immer wieder aufkeimenden und immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf den Frieden reagierte.
Judith Pollmann (Leiden)
Post-war chronicling and urban space in the early modern Low Countries
In recent decades, social historians of conflict have increasingly used local urban chronicles as a source for the lived experience of (civil) war. Using examples from the Low Countries, this paper will argue we can also use this pre-modern genre of Zeitgeschichte to study how early modern town-dwellers responded to efforts to create a new post-war civic order. In doing so, I will highlight two aspects. First, I will show how chroniclers in the immediate aftermath of conflict interpreted public rituals and urban space as a barometer for change. Secondly, I will explore to what extent, and in the longer run, chroniclers responded to attempts to erase public memories of conflict from the urban environment, and create a shared memory culture.
Eva-Bettina Krems (Münster)
München nach dem Dreißigjährigen Krieg: Neudefinitionen von höfischen und städtisch-bürgerlichen Räumen
Die langsame Konsolidierung der stark in Mitleidenschaft genommenen Stadt München nach dem Dreißigjährigen Krieg spiegelt sich in der erst ab den späten 1650er Jahren erkennbaren Wiederaufnahme größerer Bauprojekte. Als die wichtigsten ersten Bauten in der Regierungszeit des Wittelsbacher Kurfürsten Ferdinand Maria gelten das Opernhaus am Salvatorplatz (1657 eröffnet) und das großdimensionierte Turnierhaus (1660/61) – zwei Bauten, die eine Funktion innerhalb des Festwesens und damit des wichtigsten Pfeilers der höfischen Repräsentationskultur besaßen. Diese Projekte sowie die noch in Kriegszeiten unter Kurfürst Maximilian I. auf dem Marktplatz errichtete Mariensäule sollen daraufhin befragt werden, ob und inwiefern in der Nachkriegszeit höfische und städtisch-bürgerliche Räume in der Stadt neu definiert wurden.
Martin Scheutz (Wien)
Die erste Gründerzeit Wiens nach 1683 – die Neubesetzung der Vorstadt nach der zweiten Belagerung Wiens durch die Osmanen
Die Haupt- und Residenzstadt Wien befand sich seit dem 16. Jahrhundert im bedrohlichen Einzugsbereich der osmanischen Armee. Nach der ersten Belagerung der Stadt durch die Osmanen 1529, als die Stadt noch mittels mittelalterlicher Stadtmauern den Angriffen trotzen konnte, errichtete man mit Hilfe von Reichsmitteln, aber auch mit städtischen Geldern durch rund 150 Jahre eine moderne, festungstechnisch den neuesten Stand spiegelnde Verteidigungsanlage, deren Bauarbeiten „pünktlich“ 1683 abgeschlossen waren. Ein rund 400 Meter breites Glacis umschloss die frühneuzeitliche Stadt, die ohne Mauerschutz sich präsentierenden Vorstädte bestanden dagegen aus bürgerlichen, aus adeligen Siedlungen, aber auch aus großen Nutzgärten. Erst einige Jahre nach der zweiten Belagerung der Stadt durch die Osmanen 1683 schien es für die adelige, aber auch bürgerliche Oberschicht absehbar, dass die Osmanen wohl kein drittes Mal vor die Tore der Stadt wiederkehren würden. Ab den 1690er Jahre begann der Adel, aber auch der Hof deutlicher als zuvor in die Vorstädte zu investieren, deren soziale Zusammensetzung änderte sich innerhalb weniger Jahre dramatisch. Große Sommerpalais wie das Palais Schwarzenberg, das Sommerpalais des Prinzen Eugen im Belvedere oder beispielsweise das Vorstadtpalais des Neufürsten Johann Leopold Donat Graf Trautson konnotierten den Vorstadtraum sozial neu – virtuelle Verbindungslinien von den innerstädtischen „Winterpalais“ zu den vorstädtischen Gartenhäusern entstanden. Die Stadt Wien besaß bei der dynamischen Neunutzung der Vorstädte nach 1683 nur ein begrenztes Mitspracherecht – die Errichtung des Belvederes hatte etwa den jahrlangen Aufkauf von vorstädtischen Parzellen durch Prinz Eugen wohl mit Billigung der Stadt zur Voraussetzung. Während der Fall der Mauern mit „allerhöchster Entschließung“ in Wien 1857 einen großbürgerlichen Bauboom auslöste, indem die Ringstraßenzeit einen adelig-großbürgerlichen Ringwall zum Schutz vor der anarchischen Vorstadt im Bereich des ehemaligen Glacis errichtete, zeigt sich der erste vorstädtische Bauboom nach 1683 sozial deutlich durchmischter. Zu den adeligen Gartenpalais und deren die große Welt botanisch spiegelnden Gärten gesellten sich Bürgerhäuser, aber auch kommunale, ständische und höfische Funktionsbauten, wie etwa die bürgerliche Schießstatt, die ständische Ritterakademie und die höfischen Reitställe.