
Prof. Dr. Roland Ludger Scheel
Robert-Koch-Str. 29
49149 Münster
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Der "Wikinger" ist ein moderner Mythos. Im Altnordischen zumeist eine Bezeichnung für außerhalb des Rechts agierende Seeräuber ohne ethnische Konnotation, wurde der "Wikinger" als Seefahrer, Entdecker und tapferer Kämpfer in der Romantik eine emblematische Figur der Nationalgeschichte, ehe sich die "Wikingerzeit" im späteren 19. Jahrhundert als eine fachwissenschaftliche Epochenbezeichnung in Nordeuropa etablierte.
Ausgehend von Skandinavien erfasste die identitäre Vereinnahmung praktisch alle modernen Nationen, die einen Bezug zum "Nordischen" geltend machten. Diese Entwicklung betraf auch Deutschland mit den nachfolgenden Vereinnahmungen alles "Germanischen" im Dienste völkischer und faschistischer Ideologien. Ihre Diskreditierung schadete indes der Popularität des "Wikingers" nicht. Die tiefe Verwurzelung des Mythos kommt schließlich seit dem späten 20. Jahrhundert in der gesamten westlichen Welt sowohl im Film, in Computerspielen als auch in der Werbung, in Produktnamen und ganz zentral auch im Erfolg wiederkehrender internationaler Museumsausstellungen sowie von Dauerausstellungen zum Tragen.
Diese extreme Wandelbarkeit und das Identifikationsbedürfnis der Rezipienten zeigen sich gegenwärtig populärwissenschaftlich in der Abgrenzung der wikingerzeitlichen Gesellschaften mit der ihnen zugeschriebenen hohen Mobilität und Neugier, religiösen Diversität, gesellschaftlichen Dynamik und Geschlechterrollen von einem nach wie vor als "finster" charakterisierten Mittelalter. Allein deshalb und aufgrund dieser ungebrochenen, eher noch wachsenden Popularität und Plastizität im Rahmen der Alltagskultur eignet sich die Figur des "Wikingers" als ein an der Schwelle zur Moderne geprägter kultureller Archetyp hervorragend, um die Wissenserzeugung an der Schnittstelle von Fachwissenschaft und gesellschaftlichem Kontext zu analysieren - umso mehr, als sich Museen mit sehr klaren Erwartungshaltungen ihres Publikums konfrontiert sehen. Diese Erwartungen greifen auch auf die Wissenschaft über, ist doch das Schlagwort "Wikinger" international eine der Möglichkeiten für die Skandinavistik und die Archäologie, gesellschaftliche Aufmerksamkeit für ihren Forschungsgegenstand und für Fachpublikationen zu wecken. Das Projekt, bearbeitet von Frau Franziska Lichtenstein, M.A, (https://www.uni-goettingen.de/de/599563.html) widmet sich Ausstellungen des 21. Jahrhunderts aus transnationaler Perspektive.
Adlige Subjektivierungsformen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert
Nachdem die klassische rechtsgeschichtliche Forschung sich lange Zeit intensiv mit den zahlreichen Rechtstexten aus dem skandinavischen Mittelalter befasste, wurden seit den 1970er-Jahren unter dem Einfluss der anthropologischen Wende zunehmend Erzähltexte, in erster Linie Isländersagas, als rechtsanthropologische Quellen für die in ihnen geschilderte Gesellschaft entdeckt.
Auf diese Weise wurden "klassische", kanonische Texte der norrönen Literatur zu Kronzeugen für soziale Normen in einer akephalen, von der "Fehde" dominierten Gesellschaft und Island im Hochmittelalter zu einem Modellfall einer solchen vorstaatlichen "Fehdegesellschaft". Diese heute dominante Perspektive der anthropologisch geprägten Geschichtswissenschaft korrespondiert strukturalistischen bzw. literatursoziologischen Forschungsergebnissen der Philologie. Sie trug zur wertvollen Nuancierung des teleologischen und auf den Kontinent verengten Bildes von der "Staatsgenese" und ihrer kulturgeschichtlichen Begleiterscheinungen im Mittelalter bei, konstituierte aber zugleich eine bemerkenswerte Schieflage im Umgang mit der norrönen Literatur:
Einerseits sind die Rechtstexte, nunmehr als für die Ereignis- und Mentalitätsgeschichte weitgehend irrelevante Privataufzeichnungen marginalisiert, nicht in das klassische rechtsanthropologische Modell integriert. Andererseits verengt eine spezifische Auffassung von der Referentialität bestimmter Genres (Königssagas, Isländersagas) das Quellencorpus und führt zu einer Verdrängung des literarischen Charakters der jeweiligen Texte. Am deutlichsten tritt dieses Phänomen zweifellos bei den Gegenwartssagas über die isländische Geschichte des 12. und 13. Jahrhunderts zu Tage. Im Ergebnis erscheint das aus dem Handeln der literarischen Figuren gewonnene Muster von Konflikten und den in ihnen relevanten sozialen Ressourcen grundsätzlich funktional und zeitlos, wobei mitunter die repräsentierten Zeitebenen - die "Sagazeit", in der die Figuren der Isländersagas agieren und die "Schreibezeit", in der die Verfasser ihre Handlungen erinnern bzw. konzeptualisieren - ineinander geblendet werden. Hinzu tritt die Tendenz, Beispiele für Konfliktstrategien einzelner Figuren von ihrem narrativen Kontext zu isolieren, was zu einer Ausblendung der dringend erklärungsbedürftigen Polyphonie der Sagaliteratur beitrug.
Bei diesem Desiderat an der Schnittstelle von Geschichts- und Literaturwissenschaft setzt das Projekt an, indem es sowohl Rechtstexte als auch Erzähltexte gleichermaßen als Fiktionalisierungen von Normenvorstellungen betrachtet, die teilweise innerhalb eines Genres zeitlich und gruppenspezifisch divergierenden narrativen Strategien folgen. Es ist daher ein Ziel, das Verhältnis zwischen diesen Fiktionalisierungen und darin verhandelten Normen zu Konfliktaustrag und -bewältigung, zur Bedeutung von personalen Netzwerken und dahinter stehenden europaweiten, synchronen Rechtsdiskursen zu klären. Hiervon ausgehend sind schließlich die Zusammenhänge zwischen diesen Normen, ihrem diachronen Wandel und narrativen Imaginationen solcher Vorgänge in verschiedenen Textgattungen des mittelalterlichen Skandinavien aus (rechts-)historischer wie literaturgeschichtlicher Perspektive neu zu bestimmen.
Von Warägern und der Warägergarde, in: Die Normannen. Eine Geschichte von Mobilität, Eroberung und Innovation, hg. von Viola Skiba, Nikolas Jaspert, Bernd Schneidmüller und Wilfried Rosendahl, Regensburg 2022, 95-97.
Nordmänner, Normannen, Waräger: Was haben die Normannen mit Europas Osten zu tun? (Reiss-Engelhorn Museum, Mannheim, Oktober 2022)
Gewaltverzicht als Ressourcenverlust? Normen im Konfliktaustrag in der Sagaliteratur (Tagung "Verzicht- Mediävistische Perspektiven“, HU Berlin, November 2022)